Heute britisch, morgen sowjetisch

Der alliierte Austausch am Schaalsee vor 75 Jahren

11:02 Minuten
Ein Schild mit der russischen Aufschrift "Stoi" für "Halt" ist in Geisa (Thüringen) an der Landesgrenze zwischen Thüringen und Hessen am "Haus auf der Grenze" aufgestellt, in dem eine Dauerausstellung der Point Alpha Stiftung sich mit der Zeit der deutschen Teilung und der Staatsgrenze der DDR im Kalten Krieg befasst. Mit solchen Schlagbäumen wurden von 1945 bis 1952 Straßen von Ost nach West abgesperrt.
Schlagbaum mit der russischen Aufschrift "Stoi" für "Halt". Von 1945 bis 1952 wurden damit Straßen von Ost nach West abgesperrt. © picture alliance/dpa/Jens Kalaene
Von Silke Hasselmann · 20.11.2020
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Herbst 1945: Die Briten haben den Nordwesten und die Russen den Nordosten Deutschlands besetzt. Die Grenze zwischen den Zonen ist aber alles andere als gerade. Deshalb vereinbaren die beiden Besatzungsmächte den Austausch von Gebieten - mit Folgen bis heute.
Jochen Friedrich hat sich an diesem grau-feuchten Novembermontag 2020 auf den 60 Kilometer langen Weg von seinem Zuhause in Hagenow bis ins "Grenzhus" von Schlagsdorf gemacht. Das liegt in Mecklenburg-Vorpommern, ist aber nur einen Steinwurf von der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein entfernt.
Andreas Wagner leitet das "Informationszentrum zur innerdeutschen Grenze", und er hat den 1931 geborenen Jochen Friedrich zu einem Zeitzeugen-Interview eingeladen. Friedrich holt etliche Schwarz-Weiß-Fotos aus den frühen 1950er Jahren und alte Landkarten aus seiner Tasche. Sie helfen ihm dabei, seine Erinnerungen daran aufzufrischen, wie es ihn und seine Eltern vor 75 Jahren nach Hakendorf östlich vom Schaalsee verschlagen hat.
Zeitzeugeninterview zum sowjetisch-britischen Gebietstausch im November 2020
Zeitzeugeninterview zum sowjetisch-britischen Gebietstausch im November 2020: Jochen Friedrich kam als 14-Jähriger von Breslau nach Hakendorf.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Dass sie jemals in einer kleinen Bauernsiedlung namens Hakendorf landen würden, das hätten sich Vater und Mutter nie träumen lassen, erzählt Jochen Friedrich. Immerhin lebte die Familie rund 570 Kilometer östlich entfernt in der damals schlesischen Stadt Breslau: heute das polnische Wroclaw.
Doch als sich die Sowjetarmee Anfang 1945, rasch von Osten kommend, nähert, begibt sich die Familie samt Tante und Jochens kleinen Cousinen auf den Treck Richtung Westen. Irgendwann landen sie in dem Gebiet rund um den holsteinischen Schaalsee - hungrig, vom Krieg gezeichnet, auf der Suche nach einer Bleibe.
Schaalsee: Aus der Luft fotografiert. schaut man bei dieser Aufnahme auf die tiefblaue mäandernde Fläche des Sees, die in der Ferne in den Horizont übergeht, auf dunkelgrüne Wald- und auf strohgelbe Feldflächen.
Schaalsee, Luftaufnahme: Der 24 Quadratmeter große Schaalsee ist ein See auf der Landesgrenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Hier verlief auch die Grenze zwischen britischer und sowjetischer Besatzungszone.© picture alliance / blickwinkel/W. Buchhorn/F. Hecke
Jochen Friedrich zeigt auf einen Punkt auf einer Landkarte: Dort hätten sie im November 1945 zu sechst in einer kleinen Jagdhütte gehaust.
"Vater sagte: Es muss ja nu wat passieren! Wir können ja nicht ewig in einer Jagdhütte wohnen. Kein Wasser, kein Strom. Und gehört haben wir dann, dass hier ein Gebietsaustausch erfolgt sein soll. Und daraufhin sind Vater und Mutter mit dem Einspänner, also sie haben sich einen Kutschwagen geliehen, und sind dann zu Weihnachten 1945 in die Gegend gefahren, hier nach Lassahn. Und sie haben dort die Dörfer gefunden, und dass dort kaum noch Menschen drin sind."

"Begradigung" der Demarkationslinie im November 1945

Diese merkwürdigen Geisterdörfer gehörten bis eben noch zum Kreis Herzogtum Lauenburg in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein, die nach Kriegsende von den Briten besetzt wird. Die Zone östlich davon übernimmt die Sowjetarmee. Die Demarkationslinie entspricht der damaligen Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Doch weil die alles andere als gerade verläuft, können die Briten einige "ihrer" deutschen Bereiche nur sehr umständlich erreichen.
Am 13. November 1945 treffen sich also der Kommandeur der britischen Rheinarmee, Colin Muir Barber, und der Generalmajor der Roten Armee, Nikolaj Lyaschenko, in der mecklenburgischen Kleinstadt Gadebusch. Dort unterzeichnen sie einen Vertrag über einen Gebietsaustausch: Ein zuvor sowjetisch besetztes Gebiet nördlich von Ratzeburg geht an die Briten. Zwei britisch verwaltete Gebiete im Kreis Lauenburg östlich des großen Schaalsees fallen an die Sowjetunion.
Wer dort lebt, bekommt nur einen Tag Zeit, um sich zu entscheiden: Bleiben und damit "sowjetisch" werden oder zu den Briten wollen. Jochen Friedrichs Eltern sehen bei ihrer Erkundungstour im Dezember 1945 das Ergebnis. Denn die meisten der knapp 3000 betroffenen Menschen sind gegangen.
"Im November 1945 sind die raus. Die Höfe: alle leer. In dem Dorf waren vier große Betriebe mit 30 Hektar. Vater hat dann, weil ja alles leer war, sich den besten ausgesucht, den besten Hof. Und daraufhin sind wir dann am 2. Januar 1946 mit Sack und Pack, mit den zwei Wagen und der ganzen Großfamilie dahin."
Die Friedrichs haben Glück mit "ihrem" Haus: Dach - halbwegs in Ordnung. Öfen - noch vorhanden. Holz auch. Die Ställe allerdings sind leer. Die nunmehr Ex-Lauenburger durften alles "vor den Russen retten", was sie in der Kürze der Zeit fortschaffen konnten.

Barber-Lyaschenko-Abkommen in den 90ern kaum bekannt

Doch der Verlust von Haus, Hof und Land verfolgt viele Familien noch bis in die Zeit nach der Wiedervereinigung, erinnert sich die Richterin Katja Surminski: "Als ich 1995 am Verwaltungsgericht Greifswald angefangen habe, waren das die ersten Fälle, mit denen ich zu tun hatte. Ich hab' da Vermögensrecht gemacht, also die Frage, ob irgendwelche Enteignungen rückabgewickelt werden müssen. Und da waren einige Fälle dabei, die eben aus diesem Barber-Lyaschenko-Abkommen herrührten. Ich wusste davon vorher gar nichts, hatte davon gar nichts mitgekriegt. Und wenn man dann so die Geschichten in den Klageschriften las, das war schon sehr eindrücklich. Also das Land, was sie damals ja nicht freiwillig aufgegeben haben, sondern von dem sie vertrieben wurden sozusagen – da war zwar eine gewisse Wahl, aber letztendlich jedoch keine richtige Wahl. Sie wollten eben gerne Haus und Hof wiederhaben."
Am Ende kamen die Verwaltungsrichter zu dem immer gleichen Urteil. Auch Katja Surminski, heute Direktorin des Amtsgerichts Ludwigslust: "Also, das war ja immer die Frage, ob das jetzt besatzungshoheitliche Enteignungen waren. Und das war natürlich ein bisschen anders als bei den typischen Bodenreform-Sachen. Aber letztendlich war es etwas, was die Besatzungsmächte vereinbart haben und was die miteinander abgemacht haben. Das ist eben schon in den Zwei-plus-Vier-Verträgen festgelegt worden, dass besatzungshoheitliche Enteignungen nicht rückgängig gemacht werden sollen. Das war ja lange Zeit umstritten und auch bis zum Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prozessiert worden. Aber letztendlich ist es eben dabei geblieben, dass diese Enteignungen nicht rückgängig gemacht wurden."
Die nur etwas mehr als 200 Menschen, die in der ehemals britischen, nun sowjetischen Besatzungszone geblieben waren, mussten einen großen Teil ihres Eigentums an die Briten abliefern. Sie durften nur jeweils einen Pflug, eine Kuh und ein Pferd behalten.
Was für sie allerdings noch schwerer wiegen sollte: Der Barber-Lyaschenko-Vertrag legte den Grundstein für die neue Zonengrenze, aus der dann 1949 die Staatsgrenze zwischen den neugegründeten Staaten Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik geworden ist.

Die Grenze schreibt sich in die Biografien

Andreas Wagner vom Schlagsdorfer Museum für die innerdeutsche Grenze drückt es so aus: "Und da ist eben das Bittere für viele, dass da auch ein Wechsel in der Biografie stattfindet. Denn da entsteht ja im Kalten Krieg diese Grenze, diese hermetische Abriegelung. Und das ist eine Entscheidung fürs Leben, die man damals in dieser Situation getroffen hat, als niemand wusste, was werden wird. "
Auch auf der heute schleswig-holsteinischen Seite des Schaalsees bringt der Gebietstausch vor 75 Jahren Probleme. So sucht man in dem zuerst sowjetisch, dann britisch besetzten Gebiet lange nach Lösungen für jene Siedler, die mit der Bodenreform eigenes Land zugesprochen bekommen hatten und nun zusehen müssen, dass die Briten das Land wieder als ein größeres Gut bewirtschaften lassen.
Außerdem sind die Dörfer und Städte 1945/46 von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den einst deutschen Ostgebieten überbelegt, sagt Filmemacher Ulrich Koglin. Der gebürtige Schleswig-Holsteiner dokumentiert seit vielen Jahren die Erinnerungen von Zeitzeugen und hat oft gehört, wie es den Leuten ging, als im November ´45 plötzlich auch ihre evakuierten Nachbarn vor der Tür standen.

Ja, auf schleswig-holsteinischer Seite oder auf Seite des Kreises Herzogtum Lauenburg waren diese sogenannten Schaalsee-Bauern nicht wirklich willkommen. Damals hatten sich die Einwohnerzahlen aller Gemeinden und Städte mehr als verdoppelt, und man hatte schon Probleme, die überhaupt irgendwo unterzubringen. Und die Schalsee-Bauern waren in den Augen der damaligen Politik sowieso sehr privilegiert, denn die hatten ja ihr Hab und Gut mitbringen können, hatten ihre Tiere mitbringen können. Und man wollte die nicht unbedingt den anderen gegenüber bevorzugen, die hier wirklich nur mit einem Koffer in der Hand angekommen waren."
Unterlagen aus jener Zeit belegen, dass es auf den Sitzungen des Landkreises hoch her gegangen sein muss. Wie sollte man gegenüber den Opfern des plötzlichen sowjetisch-britischen Gebietstausches entscheiden?
"Es gab ja auch im Westen so etwas wie eine Bodenreform. Es wurden staatseigene Güter aufgeteilt und Siedlern zur Verfügung gestellt, beispielsweise in Fredeburg. Und dann war die Frage: Wer soll da hingehen? Sollen die Schaalsee-Bauern bevorzugt damit betraut werden? Oder gibt es hier nicht genügend andere Bauern aus Hinterpommern, die genauso bedürftig sind und es im Grunde noch viel nötiger haben? Man hat das dann tatsächlich eben allgemein verteilt nach Bedürftigkeit."
Das habe übrigens den einen oder anderen Bauern zur Umkehr in ihre nunmehr sowjetisch besetzte Heimat bewegt, sagt Jochen Friedrich, der als 14-jähriger Flüchtling mit seinen Eltern in einem der verlassenen Dörfer untergekommen war.
"In Lassahn speziell sind zwei oder drei ganz tüchtige Landwirte abgehauen, im November vor 75 Jahren, und sind nach drei, vier Jahren - haben wir noch erlebt - wiedergekommen. Die haben auch die Nase voll gehabt."
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