Hetzkampagne gegen TV-Reportage

Blick auf eine andere Epoche in Polen

Polish politician, Member of the European Parliament Ryszard Czarnecki |
Der polnische Europaabgeordnete und Vize-Präsident des EU-Parlaments, Ryszard Czarnecki, könnte bald seinen Job los sein © PAP / dpa
Annette Dittert im Gespräch mit Dieter Kassel  · 01.02.2018
Dem polnischen Europaabgeordneten und Vize-Präsidenten des EU-Parlaments, Ryszard Czarnecki, droht ein Amtsenthebungsverfahren nach der Kampagne gegen eine Oppositionspolitikerin und eine TV-Reportage über sie. Die Journalistin Annette Dittert hat ihn gedreht und wurde ebenfalls Opfer der Hetzkampagne.
Erst kürzlich beschimpfte der Europaabgeordnete und Vizepräsident des Straßburger Parlaments, Ryszard Czarnecki, die polnische EU-Abgeordnete Roza Thun als "Szmalcownik" - als "polnische Judenverräterin". Aufforderungen, sich zu entschuldigen, hat er zurückgewiesen. Jetzt muss er um seinen Job bangen. Auch die ARD-Journalistin Annette Dittert wurde wiederholt als Nazi-Journalistin beschimpft, seit ihre Fernsehreportage "Polen vor der Zerreißprobe" über die Abgeordnete Thun bei Arte lief und in Polen für Diskussionen sorgte.

Schlammschlacht nach dem Film

Mit solchen Folgen hätten sie und ihre Protagonistin nicht gerechnet, sagte Dittert im Deutschlandfunk Kultur. "Uns war klar, und mir war auch schon klar, als ich anfing zu recherchieren, zu drehen, wie harsch und feindselig das Klima ganz bewusst geschürt wird gegen jeden, der die Regierung kritisiert." Es habe sich schon während des Drehs gezeigt, dass viele Oppositionspolitiker nicht mit ihr drehen wollten, weil sie Angst hatten vor den Schlammschlachten und Hetzkampagnen.
Nun läuft der Film wieder im NDR und ist in der Mediathek des Senders zu sehen. Eine Fortsetzung hat Dittert auch schon geplant und will sich nicht einschüchtern lassen.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Heute wird in Brüssel über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den polnischen EU-Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden des Europäischen Parlaments Czarnecki entschieden. Das ist indirekt eine Folge der Arbeit von Annette Dittert, denn nachdem kurz vor Weihnachten bei Arte ihre Fernsehreportage "Polen vor der Zerreißprobe" gezeigt wurde, hat dieser EU-Abgeordnete – er gehört der PiS-Partei, also der polnischen Regierungspartei an – sie wiederholt als Nazi-Journalistin bezeichnet und als direkte Nachfahrin von Leni Riefenstahl, und das könnte jetzt für ihn entsprechende Folgen haben.
Er ist nicht der einzige gewesen, der heftige Worte gefunden hat, nachdem ein Fernsehfilm gelaufen ist, der eigentlich nichts weiter tut, als das Leben und die Arbeit einer anderen polnischen EU-Abgeordneten, der Oppositionspolitikerin Róza Thun nämlich, zu zeigen, ungefähr eine halbe Stunde lang. Wir wollen über diesen Film und seine Folgen jetzt mit Annette Dittert reden. Schönen guten Morgen, Frau Dittert!
Annette Dittert: Guten Morgen!
Kassel: Sie haben ja gewusst, als Sie diese Reportage gedreht haben, dass das ein heißes Eisen ist, weil die Abgeordnete, die Sie da zeigen, auch vorher schon Morddrohungen und schlimme Beschimpfungen erleben musste, aber haben Sie damit gerechnet, dass das solche Folgen haben könnte, dieser Film?
Dittert: Nein, also solche Folgen, damit hat, glaube ich, niemand gerechnet, auch meine Protagonistin nicht, Róza Thun, die Abgeordnete, die ich dort eben begleite. Uns war klar, und mir war auch schon klar, als ich anfing zu recherchieren, zu drehen, wie harsch und feindselig das Klima ganz bewusst geschürt wird gegen jeden, der die Regierung kritisiert. Das hat sich insofern schon gezeigt während des Drehs, als sehr viele Oppositionspolitiker überhaupt nicht mit uns drehen wollten, weil sie wirklich Angst hatten vor den Schlammschlachten und diesen Hetzkampagnen, die eben auf sie losgingen in dem Moment, wo sie mit deutschem Fernsehen reden würden.
Róza Thun, die Protagonistin des Films, die ich noch seinerzeit als Korrespondentin kannte, die war sich darüber auch im Klaren, dass da eine Kampagne gegen sie noch einmal losgehen würde, wenn sie so einen Film mit mir machen würde. Die ist aber eine sehr mutige, sehr bodenständige Frau, die sagt, ich lass mich davon nicht einschüchtern, wir machen das jetzt trotzdem, und wie gesagt, wir hatten uns beide darauf eingestellt, dass das für sie da vor allem, die ja auch in Polen lebt, ungemütlich werden könnte, wenn sie so offen die Regierung kritisiert im deutschen Fernsehen.
Dass das aber solche Ausmaße annehmen würde, dass eben ein Mitglied der Regierungspartei sie – und das ist ja fast noch schlimmer als die Leni-Riefenstahl-Vorwürfe gegen den Film oder die Nazipropaganda-Vorwürfe gegen den Film –, dieser Czarnecki, dieser Vizepräsident noch des Europaparlaments, hat sie als "Szmalcownik" bezeichnet im polnischen Fernsehen.
Das bedeutet: Das waren Polen, die im Zweiten Weltkrieg die Juden an die Nazis verraten haben, das heißt, im Grunde hat er sie als Judenmörderin beschimpft. Da war eben die rote Linie auch im Europaparlament überschritten, und da haben eben die Fraktionschefs der großen Fraktion gesagt, so ein Mann, der solche Beleidigungen abgibt, nur weil jemand ein Interview mit einem deutschen Fernsehsender gibt, der kann nicht mehr Vizepräsident des Europaparlaments sein.

Organisierte Hetzkampagne

Kassel: Aber es ist ja nicht nur er. Ich habe mir mal die Kommentare auf der Arte-Seite angeguckt. Man kann wegen dieser Fristenregelung da den Film nicht mehr sehen, aber die Kommentare stehen da noch. Da habe ich mich zum einen gefragt, wie viele Menschen in Polen gucken offenbar Arte – da sind ganz viele Kommentare vom Namen und vom Deutsch her von Polen, die auch diesen Film und Sie extrem angreifen: "einseitig", "Propaganda". Da frage ich mich natürlich, wie viel davon ist echt, und wie viel ist auch gesteuert?
Die Journalistin Annette Dittert
Annette Dittert wurde Opfer einer Hetzkampagne.© dpa / picture alliance / Heinz Unger
Dittert: Das ist ganz offensichtlich organisiert gewesen, was da in den sozialen Medien los war. Ich würde mal sagen, der durchschnittliche Pole guckt nicht unbedingt Arte. Was da los war, das war ganz offensichtlich organisiert. Also ich bin überschwemmt worden tagelang mit Bedrohungen, Morddrohungen, Beschimpfungen, auch auf meinem Twitter-Account, auf Facebook. Das war ganz offenbar organisiert, beziehungsweise angeheizt eben von diesem Ryszard Czarnecki, der das eben immer wieder in den Hauptnachrichten auch gesagt hat, dass das eben Landesverrat sei, an einem solchen Film teilzunehmen, einen solchen Film zu machen, das sei antipolnische Nazipropaganda, und das passt eben in den innenpolitischen Spin.
Das ist Teil der Propaganda, die Kaczynski und die Regierungspartei schon seit einiger Zeit betreibt, dass nämlich jeder, der die Regierung kritisiert, sofort als Kollaborateur mit Brüssel oder Berlin gebrandmarkt wird, und so will man eben jede Opposition von Anfang an im Keim ersticken.

Reisen durch die Provinz

Kassel: Sie sind für diesen Film viel durch die polnische Provinz gereist. Diverse Szenen, diverse Gespräche fanden wirklich in kleinen abgelegenen Orten statt, und ich habe da beim Schauen des Films so richtig gespürt, wie einsam man sich da fühlen muss, wenn man ein Gegner der Kaczynski-Partei ist. Das sind ja – das stellen sich Laien oft falsch vor, glaube ich – kleine Teams, mit denen man da als Journalistin durch die Gegend fährt. Haben Sie da manchmal wirklich Angst gehabt, eine ganz konkrete Bedrohung gespürt?
Dittert: Nein, das eigentlich nicht. Also soweit ist es, glaube ich, noch nicht, also die Türkei ist noch ein Schritt weiter. Wobei man wirklich sagen muss, Polen bewegt sich tatsächlich, wie Róza Thun das in dem Film beschreibt, in Richtung Diktatur, wenn das so weitergeht, denn die Justizreform, die jetzt durchgezogen wird und eigentlich schon umgesetzt ist, die bedeutet, dass es keine Gewaltenteilung mehr gibt und dass es auch keine unabhängigen Gerichte mehr gibt, aber bedroht gefühlt haben wir uns jetzt noch nicht. Es war nur so, dass man spürte, wo immer wir waren, wie jeder, der Opposition zu dieser Regierung …, der hatte einfach Angst, mit uns zu reden.
Das hat mich so schockiert, weil ich war ja nun lange Korrespondentin in Polen und bin damals gegangen 2004, als Polen gerade der EU beigetreten ist, und das ist im Rückblick wie eine ganz andere Epoche, die nicht nur gerade mal 10, 14 Jahre her ist, sondern das war ein ganz anderes Land, optimistisch, im Aufbruch, froh, endlich die Zeiten des Kommunismus hinter sich gelassen zu haben.
Diesmal bei dem Dreh – ich war zehn Jahre nicht mehr da in Polen – hatte ich plötzlich das Gefühl, Mann, das ist eine Stimmung im Land, die ist wieder geprägt von Angst vor der Regierung, und die hat eben einen Hauch wieder von dieser kommunistischen Zeit, und so hat es übrigens auch Róza Thun empfunden, die ja damals für die Solidarnosc als Sprecherin der Jugendabteilung gekämpft hat gegen diese Diktatur, gegen die Kommunisten, und die jetzt auch sagt, im Grunde fühlt sich alles so an, als ob wir das alle nie gemacht hätten, wir wieder ganz von vorne anfangen müssen.

Zweiter Film

Kassel: Was bedeutet das eigentlich für Sie persönlich? Sie haben ja auch von Morddrohungen gegen Sie gesprochen. Sie arbeiten ja jetzt für den NRD wieder von Hamburg aus, Sie können sich im Prinzip aussuchen, über was Sie berichten. Trauen Sie sich in Zukunft auch weiter, aus und über Polen zu berichten?
Dittert: Oh ja, jetzt erst recht! Also das Schlimmste, was man machen kann in solchen Situationen, ist sich einschüchtern zu lassen, weil dann hätte ja diese Art von Rechtspopulismus gewonnen. Nein, ich bereite gerade den zweiten Film vor, den wir für den WDR jetzt machen und die ARD, wo wir genau diesen Irrsinn, der im Nachgang zu dieser kleinen Reportage – muss man ja sagen, das war ja kein Riesenfilm – entstanden ist, wo wir das noch mal aufarbeiten, und wo ich dann noch mal versuche, tiefer zu verstehen.
Das wird eine längere Reportage, also eine Dokumentation, 25 Minuten, wo ich noch mal tiefer versuche zu verstehen, wie eigentlich dieses System Kaczynski funktioniert. Das wird sicher auch noch ein interessanter Film. Und auch noch einen kleinen Hinweis übrigens: Der Film ist jetzt wieder in der NRD-Mediathek zu sehen, also man kann sich den dort ansehen, wenn es jemanden interessiert, der ist wieder da, weil wir den nämlich am Samstag noch mal im NRD-Fernsehen wiederholten wegen des großen Interesses.
Kassel: Um 12:15 Uhr, was in der Tat für mich persönlich jetzt keine Fernsehzeit wäre, aber umso besser der Hinweis auf die Mediathek! "Polen vor der Zerreißprobe" heißt der Film, 12:15 Uhr im NRD-Fernsehen und in der NDR-Mediathek und in absehbarer Zeit dann der zweite Teil mit all den Folgen, die dieser Film gehabt hat. Annette Dittert war das, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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