Hessen

Wie harmonisch geht es in Wiesbaden zu?

Hessens Grünen-Chef Al-Wazir (li.) mit Ministerpräsident Bouffier
Hessens Grünen-Chef Al-Wazir (li.) mit Ministerpräsident Bouffier © picture alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen
Von Anke Petermann |
Ausbau des Ökolandbaus, Wahlmöglichkeit zwischen Turbo-Abi und G9: Die schwarz-grüne Koalition in Hessen liefert nach 100 Tagen erste Ergebnisse. Sind die ehemaligen Erzfeinde zum politischen Dreamteam geworden? Eine Zwischenbilanz.
Ein Garten vor einem hundert Jahre alten Haus – politischer Ortstermin im südhessischen Seeheim-Jugenheim. Unter hohen Bäumen, begleitet von frühlingshaftem Gezwitscher, verleiht Hessens neue grüne Umweltministerin Priska Hinz dem Ehepaar Funke eine Auszeichnung für ihr fledermausfreundliches Haus.
Funke: "Da müssen wir noch ein schönes Plätzchen finden für die Plakette."
Hinz: "So, dass sie gesehen wird! Wahrscheinlich am Erker draußen."
Top saniert und trotzdem Nistplatz für die Fledermaus als bedrohte Tierart. Das passt zum Anspruch der schwarz-grünen Koalition, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. Und es passt zur laufenden UNO-Dekade der biologischen Vielfalt, freut sich die vormalige Bundestagsabgeordnete Priska Hinz.
"Fledermausfreundliches Haus kann man eigentlich ganz einfach sein, indem man unterstützt, dass die Mitbewohner akzeptiert werden und die Wohnung erhalten wird. Und zur biologischen Vielfalt, zur Biodiversität, haben wir jetzt schon einiges gehört. Ich will nur sagen, dass ich die hessische Biodiversitätsstrategie offiziell eröffne."
Auch das noch innerhalb der politischen Schonfrist, die am Sonntag abläuft. Die Grünen-Politikerin Hinz gibt die Hundert-Tage-Aktivistin der neuen Koalition. Dabei hätte man diese Rolle eher ihrem Parteifreund Tarek Al-Wazir zugetraut, dem Superminister für Wirtschaft, Verkehr und Energie. Al-Wazir hatte sich doch schon lange für diese Aufgabe warmgelaufen. Eigentlich aber in einem rot-grünen Bündnis. An vielen Fronten kämpfte und kämpft der 42-Jährige erst mal abseits der Öffentlichkeit – unter anderem mit Sigmar Gabriel, dem sozialdemokratischen Amtskollegen im Bund darum, dass die Binnen-Windkraft bei der Energiewende nicht hinten runter fällt. Weil nämlich Hessen sonst die Aufholjagd nicht schafft und das schwarz-grüne Koalitionsziel verfehlt, den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung bis zum Ende der Legislaturperiode zu verdoppeln. Fast wirkt Al-Wazir selbst noch ein wenig überrascht über die Rolle, die Volker Bouffier in diesem Kampf spielte:
"Ich fand’s schon spannend, dass jetzt ein schwarzer Ministerpräsident gemeinsam mit einem grünen Ministerpräsidenten versucht, die Energiewende vor dem roten Wirtschaftsminister zu retten auf Bundesebene."
SPD: Richtungswechsel Bouffiers "nicht sehr glaubwürdig"
Mag sich Al-Wazir freuen über den neuen Verbündeten bei seinem Paradethema Energiewende, SPD-Oppositionsführer Thorsten Schäfer-Gümbel beeindruckt die neue Hinwendung der CDU zur Ökologie nicht. Das Engagement des wiedergewählten Regierungschefs für die Energiewende ebenso wenig:
"Ich halte das für lächerlich. Volker Bouffier ist in den Koalitionsverhandlungen in Berlin zur Großen Koalition aufgefallen als einer derer, die beim Energiethema, der Energiewende, mit am meisten gebremst haben. Dann fährt er anschließend als Chef einer schwarz-grünen Koalition nach Berlin und will angeblich das, was er vorher verhindert hat, wieder reinverhandeln. Das halte ich nicht für sehr glaubwürdig."
Volker Bouffier neuerdings im Ökomäntelchen? Die einst marktliberalen hessischen Schwarzen in nur 100 Tagen grün umlackiert? Im politischen Rampenlicht agiert vor allem die neue Agrar- und Umweltministerin. Einen Aktionsplan zur Ausweitung des Öko-Landbaus stellte Priska Hinz jüngst vor. Gemeinsam mit der CDU legte die Ressortchefin den Entwurf für ein neues Bannwaldgesetz vor, das vor allem den Wald im boomenden Rhein-Main-Gebiet vor immer neuen wirtschaftlichen Begehrlichkeiten schützen soll.
Hunderte von Hektar wurden bei Kelsterbach für den Bau der neuen Landebahn am Frankfurter Flughafen gerodet, auch gegen den Einspruch christdemokratischer Kommunalpolitiker. Für den Kiesabbau im Bannwald fallen derzeit noch Bäume, das soll das neue Gesetz künftig verhindern. Es wirkt wie eine Mischung aus Fehlereingeständnis und Sinneswandel, dass die Christdemokraten unter Volker Bouffier all die grünen Öko-Initiativen jetzt begrüßen. Doch der Regierungschef sieht darin nur ein paar schwarz-grüne Akzente unter vielen. Und kommentiert:
Ringen um gemeinsame Positionen
"So eine Koalition ist ja ein Kompromiss, und da finden sich beide Parteien wieder. Und es ist ja nicht so, dass das ein grüner Teil des Regierungsprogramms und das ein schwarzer (ist), sondern es ist immer eine gemeinsame Geschichte. Sie glauben doch nicht, dass eine so große und stolze Partei wie die hessische CDU, die fast nur direkt gewählte Abgeordnete hat, sich schlicht und ergreifend zusammenführen ließe mit dem Hinweis 'jetzt müssen wir halt was machen, weil die’s wollen'. Das würde nie funktionieren. Das würde nie halten. Sondern wir ringen inhaltlich. Und wenn wir dann eine gemeinsame Position gefunden haben, dann vertreten wir sie auch gemeinsam."
In den Koalitionsverhandlungen des vergangenen Winters hatte man gelegentlich den Eindruck, Tarek Al-Wazir trete unauffällig einen Schritt zur Seite, um Bouffiers verbaler und körperlicher Umarmung zumindest ein wenig zu entrinnen. Inzwischen wirkt der schmale Juniorpartner lockerer im Umgang mit dem zwanzig Jahre Älteren. Als Bouffier mal wieder im längeren Exkurs über "Oppositionsrituale" herzieht, lupft Al-Wazir belustigt die Braue.
Der neue grüne Minister galt schließlich lange als der heimliche hessische Oppositionsführer, stets scharfzüngiger als das wechselnde SPD-Personal auf diesem Posten. Dass er Volker Bouffier damals als "erschöpft und verbraucht" schmähte: in dessen Augen auch ein Oppositionsritual. Heute lobt Al Wazir die Kondition des Regierungschefs in langen nächtlichen Verhandlungen.
Von heftigen Angriffen zu trauter Einigkeit
"Also, was ich schätze an der Zusammenarbeit in der Koalition, aber auch an der Zusammenarbeit zwischen uns beiden, ist, dass Verlässlichkeit herrscht und wir uns gegenseitig vertrauen können. Das ist viel wert. Und ich glaube, wenn wir uns insgesamt betrachten, ist es so, dass das bisher dazu geführt hat, dass wir uns immer auf gute gemeinsame Lösungen einigen konnten."
Vergessen, dass Al-Wazir schon den damaligen Innenminister Bouffier als "Hardliner" und "schwarzen Sheriff" im Kabinett Koch geißelte, für Vetternwirtschaft und Postengeschacher, für gebrochene Versprechen und rechtswidrige Auftragsvergaben. Und als Roland Koch vor vier Jahren als Regierungschef abtrat, verhöhnte der damalige Grünen-Chef den designierten Nachfolger Bouffier gemeinsam mit SPD-Oppositionsführer Thorsten Schäfer-Gümbel als Kochs "Konkursverwalter". Al-Wazir ätzte damals:
"Volker Bouffier ist sicher kein Zeichen für einen Neuanfang. Im Gegenteil: Das wäre so, als wenn man auf der Titanic den Kapitän auswechselt, aber den Kurs nicht ändert der Titanic."
Hessen unter christdemokratischer Führung – ein sinkendes Schiff, so die Botschaft. Heute ist Bouffier immer noch Kapitän, aber Al-Wazir sieht sich selbstverständlich nicht als erster Offizier auf der Titanic. Mit der Erinnerung an alte Zerwürfnisse wollen sich die neuen Duzfreunde Al-Wazir und Bouffier nicht aus der Reserve locken lassen.
"Mein Duzfreund, ja. Das hat sich ergeben. Daraus können Sie entnehmen, dass es mehr ist, als eine Zweckpartnerschaft, die sich im Dunklen getroffen haben und hoffen, dass sie möglichst bald wieder auseinandergehen können. Das ist doch Unfug."
"Gönnen können" lautet die Devise
Das Geben und Nehmen bei Schwarz-Grün funktioniere, meinen die beiden Frontmänner. Vielleicht im Bündnis der beiden politischen Gegensätze sogar besser, als das mit Schwarz-Gelb oder Rot-Grün je funktionieren könnte. Man konkurriere eben auf denselben Politikfeldern. "Gönnen können" ist die Devise bei Schwarz-Grün. Die CDU gewährt den Grünen einen Bevollmächtigten für Integration und Antidiskriminierung im Sozialministerium. Damit gönnt sie ihnen den Eindruck, multikulturellen Respekt in die Zivilgesellschaft einspeisen zu können. Auf diesem Gebiet halten die Christdemokraten politisches Schaulaufen für unnötig.
Die Grünen leben damit, dass die CDU weiterhin einen Beauftragten für die Vertriebenen in Hessen braucht. Man kommt sich nicht ins Gehege. Ein politischer Wettlauf darum, wer als erster und am besten für Schwule oder für Heimatvertriebene eintritt, wäre absurd. Zu unterschiedlich sind die Wählererwartungen und die Profilierungsbereiche. Wer wen unterbuttert, ist eine Frage, die allenfalls die politischen Gegner von Schwarz-Grün beschäftigt. FDP-Fraktionschef Florian Rentsch tut in diesen Tagen etwas für ihn sehr Ungewohntes: Der frühere Wirtschaftsminister lobt die Grünen, er preist ihre Loyalität zum neuen Koalitionspartner, er würdigt die geradezu "innige" Zusammenarbeit der beiden einstigen Hass-Gegner.
"Ich empfinde die Grünen als durchsetzungsfähig. Ich empfinde, dass die Union dort sehr viele Zugeständnisse macht. Bisher haben die Grünen auf jeden Fall gepunktet. Man kann vielleicht sagen: Vielleicht kein K.o., aber Punktsiege in den einzelnen Runden hat man schon erleben dürfen."
Die Liberalen schauen kopfschüttelnd zu
Rentsch weiß genau, dass seine Beobachtungen durch Schwarz-Grün verunsicherte Konservative ins Mark treffen. Und gern unterfüttert er seine Einschätzung, die Grünen bestimmten den Kurs der neuen Landesregierung, mit Beispielen.
"Ob das die Schulpolitik ist, ob das das Thema Landwirtschaft ist – Ausbau der Öko-Landwirtschaft –, ob das der Straßenbau ist, wo jetzt weniger Geld für Straßen ausgegeben wird – das sind ja alles Themen, wo die Grünen eine lange Historie auch haben. Bis hin zur Frage, wer wird für die Landesregierung in den Aufsichtsrat der Fraport, also des Flughafenbetreibers, in Frankfurt entsendet."
Nämlich der grüne Landtagsabgeordnete Frank Kaufmann. An dem entschiedenen Ausbaugegner, der kaum eine Montagsdemonstration in der Abflughalle auslässt, darf sich der Flughafenbetreiber mit seinem Expansionsdrang nun die Zähne ausbeißen. Die Liberalen schauen kopfschüttelnd zu.
"Das zeigt ja auch ein bisschen: Die Grünen haben dort eine hohe Durchsetzungskraft. Das überrascht mich schon, dass sie dort so stark agieren können."
Schwarz-gelbe Politik mit grünem Anstrich?
Hinter Rentschs Erstaunen blitzt doch reichlich liberale Genugtuung darüber hervor, dem untreu gewordenen Koalitionspartner CDU Knechtschaft unter grüner Knute bescheinigen zu können. Zum Gegencheck ein Blick ans andere Ende des politischen Spektrums, zur Linkspartei, die den Grünen im vergangen Winter zum wiederholten Mal koalitionäre Avancen machte. Vergeblich. Linken-Fraktionschefin Janine Wissler beurteilt die schwarz-grüne Rollenverteilung ganz anders als FDP-Mann Rentsch:
"Ich würde sagen, in vielen Bereichen hat sich die CDU sehr stark durchgesetzt und hat den Grünen die Richtung diktiert. Und da haben die Grünen nur so’n bisschen Floskeln, ein paar warme Worte aushandeln können. Es gibt das Sozialbudget",
siebzig Millionen Euro an freiwilligen Sozialleistungen des Landes Hessen, gedacht für soziale Einrichtungen wie Jugendzentren, Frauenhäuser und Suchtberatung.
"Da muss man sagen, das haben die Grünen gut durchgesetzt. Das ist ein Punkt, den wir begrüßen. Auch wenn wir sagen, das gleicht nicht aus, was durch die 'Operation düstere Zukunft' damals kaputt gemacht wurde."
"Operation sichere Zukunft" hatte Roland Koch sein Sozialkürzungsprogramm von 2003 getauft, unter dem soziale Einrichtungen bis heute ächzen.
"Aber an vielen Punkten ist es wirklich eine Fortsetzung schwarz-gelber Politik mit nem bisschen grünen Anstrich",
ergänzt Linken-Frontfrau Wissler mit Blick auf Schwarz-Grün, in dieser Einschätzung übrigens einig mit den Sozialdemokraten. Und wie sehen es die Wähler?
Seit 100 Tagen auf der Starbahn
Zufallsumfrage zwischen Gemüseständen auf dem belebten Wiesbadener Wochenmarkt. Mit dem Zwillingskinderwagen hat Andreas von Werder Probleme, sich den Weg zu bahnen. Zum Ende der Schonfrist für Schwarz-Grün meint er:
"Ja, nach hundert Tagen muss es ja eigentlich erledigt sein, dass man sozusagen auf der Startbahn ist. Und das ist bisher, glaube ich, nicht passiert."
Von Werder angelt nach einem Teddybären, den seine knapp Zweijährige aus dem Wagen geworfen hat.
"Ein Konzept für den Flughafen und für die Bildungspolitik, das sind die beiden wichtigsten landespolitischen Themen, denke ich, und da kann ich noch nicht spüren, dass da so ein einheitlicher Wille zutage tritt."
Der erwünschte Schulfriede jedenfalls, da sind sich vor allem Gymnasialeltern und Oppositionspolitiker einig, bleibt vorerst aus. Stattdessen hat die bis Klasse Sieben ausgeweitete Wahlfreiheit zwischen dem Turboabitur G8 und dem neunjährigen Bildungsgang neue Kämpfe und Mobbing in der Elternschaft ausgelöst. Den lärmgeplagten Flughafen-Anrainern haben Ministerpräsident Bouffier und sein Stellvertreter Al-Wazir siebenstündige Lärmpausen durch die wechselnde Nutzung von Start- und Landebahnen versprochen – fürs kommende Jahr.
"Versprochen, versprochen! Also, mit dem Lärm, da bin ich noch nicht sicher, dass die das wirklich durchziehen."
"Versprechen gab’s schon viele, bin gespannt, ob sie eingehalten werden. Und ich meine, der Lärm – irgendwo muss er hin, ja. Und ich kann nur hoffen, dass man das unter Einbindung der Kommunen ein bisschen intelligenter vorausplant."
Erstaunlich geräuschlose Zusammenarbeit
"Ich glaube, die Grünen haben sich viel abkaufen lassen. Erstaunlicherweise gerade was den Flughafen anbelangt. Also, ich glaube, die CDU hat besser verhandelt als die Grünen."
Und das Erscheinungsbild von Schwarz-grün insgesamt?
"Da bin ich zufrieden. Das läuft geräuschlos. Man beharkt sich nicht, und man hat eine gegenseitige Wertschätzung. Lassen wir denen mal weiter Zeit, um zu sehen, was nachher dabei rauskommt. Ich bin optimistisch."
"Erstaunlich glatt geht’s, doch ja. Die scheinen sich im Vorfeld schon abgesprochen zu haben. Das geht ja wirklich sehr erstaunlich glatt und ohne Misstöne. Wundert mich, aber es ist so. Ich freu mich, dass die Grünen an der Regierung sind. Ansonsten: Gott, ja, ich hätte mich gefreut, wenn die CDU nicht mehr an der Regierung wäre."
"Also, ich freue mich, dass es so hervorragend klappt zwischen den beiden. Das Klima soll ja hervorragend sein. Ich habe mich gefreut, dass man dieses Experiment eingegangen ist, dass endlich mal die Verkrustung aufgehört hat. In einer Demokratie sollte das alles möglich sein. Ich hätte mir nur gewünscht, dass es im Bundestag auch so gekommen wäre mit Schwarz-Grün."
"Kein Politlabor für Deutschland"
Ein Bündnis, das bis vor Kurzem noch ausdrücklich kein Projekt sein wollte, sondern als Zweckehe an den Start ging, getragen von Bouffiers neuem Wahlspruch, auch der andere könnte mal recht haben. Ein Wahlspruch, mit dem der CDU-Landeschef die Eiszeit zwischen einst erzkonservativer Hessen-CDU und grünen Hardcore-Ökos beendete und seinen neuen Ruf als smarter Moderator schwierigster Konstellationen begründete.
Doch zum Ablauf der Hundert-Tage-Schonfrist gehört auch, dass zumindest Bouffier die neue Allianz aufwertet. Als wünsche sich der 62-Jährige, ein wegweisendes Vermächtnis zu hinterlassen, wenn er von der politischen Bühne abtritt "Wenn wir erfolgreich sind, schreiben wir wahrscheinlich auch Geschichte", sagt Bouffier in Zeitungsinterviews. Dann werde Schwarz-Grün auch für andere Länder und für den Bund interessant, aber:
"Wir empfinden uns nicht als das Politlabor für Deutschland. Das ist weder unser Anspruch, noch ist es das, was wir glauben, was wir leisten können. Wir empfinden uns aber als eine Chance, Politik im 21. Jahrhundert anders zu gestalten, als sie traditionell daherkam."
Allerdings hat der Regierungschef selbst im ersten Vierteljahr Schwarz-Grün wenig von sich hören lassen. Die Grünen ihrerseits haben schon weit vor Ablauf der Hundert-Tage-Schonfrist erkannt, dass es mit Blick auf die erwünschte Fünf-Jahres-Haltbarkeit der exotischen Koalition unklug wäre, die Öko-Trümpfe zu demonstrativ auszukosten. Und so wiegelt die grüne Umweltministerin denn auch brav ab bei der Frage, ob sie den christdemokratischen Koalitionspartner beim Bannwaldschutz Beine gemacht hat:
"Nun, zumindest haben wir das Thema Bannwald wieder explizit in den Koalitionsvertrag eingebracht und damit auch die hohe Schutzfunktion wieder klargestellt durch diesen Gesetzentwurf der Fraktionen. In dem Sinne der Kompromissbildung einer Koalition hat die CDU den Kompromiss mit uns gefunden, und mit der Gesetzesänderung wird das ja auch dokumentiert."
Ende der Neunzigerjahre war Hinz schon mal Chefin des Umweltressorts –im rot-grünen Kabinett Eichel. Schon damals hätte sie das Atomkraftwerk Biblis gern abgeschaltet. Das aber blieb nach der Fukushima-Katastrophe von 2011 Lucia Puttrich von der CDU vorbehalten. Als neue Ressortchefin muss Hinz jetzt für die Kabinettskollegin die Kohlen aus dem Feuer holen. Es gilt eine millionenschwere Schadensersatzklage des Kraftwerksbetreibers RWE abzuwehren. Oder zumindest auf den Bund abzuwälzen, der die Länder zum Abschalten von Atomkraftwerken angehalten hatte – allerdings ohne ihnen eine formelle Weisung zu erteilen. Die damalige hessische Umwelt- und heutige Europaministerin Puttrich hatte die Stilllegung aber anders als die Amtskollegen anderer Bundesländer unter ausdrücklichem Verzicht auf eine Anhörung des Betreibers verfügt. Rechtswidrig, so hielt das Bundesverwaltungsgericht fest. Darauf kann RWE die angekündigte Schadensersatzklage gründen.
Die Opposition will nun genauer wissen, inwiefern der Regierungschef selbst bei der Schlamperei mitgewirkt hat. Mit dem Biblis-Untersuchungsausschuss bringt sie die Möchtegern-Modellregierung Schwarz-Grün schon in den ersten hundert Tagen in Bedrängnis. SPD-Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel lenkt den Blick auf christdemokratische Altlasten aus der schwarz-gelben Atom-Ära:
Haben die Grünen ihren Biss verloren?
"Es liegt eine rechtswidrige Stilllegungsverfügung zugrunde. Und es geht um die Frage der Verantwortlichkeit für diesen Vorgang, auch vor dem Hintergrund, dass das von Herrn Hahn geführte Justizministerium das Umweltministerium und in Durchschrift auch die Staatskanzlei davor gewarnt hat, eine Stilllegungsverfügung ohne Anhörung durchzuführen. Deswegen geht es um die Frage der politischen Verantwortung. Und diese Verantwortung liegt irgendwo auf dem kurzen Dienstweg zwischen der Staatskanzlei und der Führung des Umweltministeriums, und diese Frage gilt es zu klären, völlig unabhängig davon, ob ein Prozess kommt oder nicht."
Bei ihren Nachforschungen gewinnen die Sozialdemokraten zunehmend den Eindruck, dass den Grünen als Regierungspartei der früher stets brennende Wille zur Aufklärung insbesondere von Atomskandalen abhandengekommen ist. Dabei ist Transparenz erklärtermaßen grünes Programm. SPD-Generalsekretärin Nancy Faeser zuckt die Achseln.
"Bislang können wir das noch nicht feststellen, weil es leider im Untersuchungsausschuss zu Biblis erneut wieder zu Streitigkeiten gekommen ist: Was sind Minderheitenrechte, was nicht? Das hatten wir uns eigentlich anders erhofft, muss ich gestehen, da ja die Grünen da in der Tat mit uns immer Seite an Seite gekämpft haben für die Minderheitenrechte. Und ich finde das auch wichtig. Denn ein Untersuchungsausschuss ist nun mal eigentlich das schärfste Mittel, was einer Opposition zur Verfügung stehen sollte. Und wenn man da immer wieder behindert wird und es Zeitverzögerungen gibt, dann ist das sehr unerfreulich."
Unerfreulich für Schwarz-Grün: Möglicherweise folgt bald ein weiterer Untersuchungsausschuss. Linke und SPD sind der Auffassung, dass der hessische Anteil an der NSU-Affäre in Berlin nicht ausreichend aufgeklärt wurde und dass eine an die Landesregierung angedockte Experten-Kommission dazu nicht ausreicht. Welches Zukunftspotential Schwarz-Grün entfaltet, bleibt vorerst unsicher. Garantiert dagegen scheint, dass das neue Bündnis sich noch eine Weile mit den Altlasten der Vorgängerregierung Bouffier beschäftigen muss.
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