Herzen, Nieren, Arme und Beine

Von Thomas Migge · 09.06.2012
In vielen römischen Kirchen finden sich Seitenkapellen, deren Wände bis unter die Decken mit so genannten Votivtafeln geschmückt sind. Dank für Genesung oder für Rettung aus der Not ist darauf zu lesen. Ein alter Brauch, der langsam ausstirbt? Keineswegs.
Aus einer der Kapellen des katholischen Heiligtums Divino Amore am östlichen Stadtrand Roms klingt eine Orgel und Gläubige singen. Das Heiligtum ist in der Regel rund um die Uhr gut besucht. Das Divino Amore ist eines der beliebtesten der ganzen Region.

Die Besucher kommen aber nicht nur, um zu beten, die Architektur zu bewundern oder dem Spiel der Orgel zu lauschen - viele bestaunen auch die vielen Säle mit den Votivtafeln, den so genannten ex-voto. Man schreitet durch Räume, die ineinander übergehen und deren Wände über und über mit Votivtafeln geschmückt sind: große und kleine, vier- und rechteckige, protzige und ganz bescheidene - wie der kleine Bilderrahmen im dritten Raum, unter dem ein Stück Papier zu sehen ist, auf das die siebenjährige Roberta geschrieben hat: "Danke, lieber Gott, dass du meine Mama wieder gesund gemacht hast".
Caterina ist Robertas Mutter:

"Die Kleine wollte hier ein ex-voto hinbringen, weil sie gesehen hat, dass ich und mein Mann das gleiche für meine Mutter getan haben, als diese an Krebs erkrankte. Bei uns in Italien geht der Ritus der Votivgaben von den Eltern auf die Kinder über. Für uns Katholiken ist das eine ganz normale Handlung."

Wer glaubt, dass sich solche Votivtafeln nur an einigen wenigen geweihten Orten Italiens finden, irrt sich. Auch wenn das zu 95 Prozent katholische Land immer laizistischer wird und, so klagt Italiens Bischofskonferenz, fast schon zum Missionsland geworden sei, weil die Italiener immer seltener in die Kirche gehen, sind ex-voto nach wie vor weit verbreitet. Überall in Roms Innenstadt stößt man auf sie. Die römische Religionshistorikerin Maria Cipriani:

"In fast allen Kirchen finden sich Kapellen voll mit Votivgaben aller Art. Und das sind nicht nur Gaben alter Leute oder aus vergangenen Jahrzehnten. Im Gegenteil. Die meisten Geistlichen müssen alle paar Jahre sämtliche Wände der entsprechenden Kapellen frei machen, um Platz für neue Votivgaben zu schaffen."

Wie zum Beispiel in der uralten Kirche auf dem Araceoli beim Kapitolshügel Hier wird der "Bambinello" verehrt, eine Kleinkindfigur aus dem Holz eines, so die fromme Legende, Olivenbaums bei Jerusalem. Diese Holzskulptur, deren exaktes Alter unbekannt ist und die sich, mit zahllosen kostbaren Ketten geschmückt, in einem Glaskasten befindet und innerhalb einer Kapelle verehrt wird, ist das Ziel vieler römischer Mütter und Väter. Maria Cipriani:

"Der Bambinello wird seit Jahrhunderten verehrt, weil man dieser Figur wundersame Heilkräfte zuspricht. Ich kenne junge Eltern, und das sind noch nicht einmal Kirchgänger, die, als ihr kleiner Marco, 5 Jahre, schwer krank wurde, sich wie selbstverständlich an die Holzfigur auf dem Araceoli wandten."

Und wenn dann die erhoffte Heilung eintrifft stiftet man dem "Bambinello" etwas: im Fall Marcos ist das eine farbenfrohe Zeichnung des Kindes, die mit Klebeband direkt am unteren Rand des Glaskastens befestigt wurde, der die Skulptur verwahrt. Experten wie Maria Cipriano erklären das vor allem in Italien häufig anzutreffende Phänomen der Votivgaben mit religiösen Traditionen, die bis in die Antike zurückreichen:

"Schon im alten Rom waren ex voto sehr weit verbreitet. Archäologen fanden in wichtigen Heiligtümern tausende von Votivgaben aller Art. Da wurden vor allem immer wieder, in Terracotta, jene Körperteile nachgebildet, die erkrankt und geheilt waren. Die frühe Kirche hat diesen einst heidnischen Brauch übernommen. Ein Brauch, der immer noch existiert."

Das Phänomen der Votivgaben hat in den letzten Jahren sogar noch zugenommen. Experten erklären sich das mit der wachsenden Furcht vor der Zukunft, vor Globalisierung, Umweltverschmutzung, der Eurokrise etc. Umfragen unter Italienern scheinen das zu belegen: Mehr als 50 Prozent aller Befragten sind davon überzeugt, dass nur der Glaube Hoffnung geben kann. Und so boomt der Markt der Votivtafeln. Das lässt sich in Rom wohl am besten auf der Porta Portese beobachten, dem traditionellen Trödelmarkt im Stadtteil Trastevere.

Seit einiger Zeit verkaufen Marktstände wieder "offerte votive". Das sind Herzen, Nieren, Beine, Arme, Köpfe, Ohren, Nasen und andere Körperteile, auch intimer Art, die in Silber oder anderem Metall nachgebildet wurden. In kleinem Maßstab natürlich und in Form von reliefartigen Tafeln, die man mit einem Nagel an eine Wand hängen kann. Romtouristen nehmen sich diese religiösen Devotionalien nicht selten als kuriose Andenken mit nach Hause.

Anwohner des Trödelmarktes hängen ihre ex-voto in der nahen Viale Trastevere an eine Mauer, die vor Jahrzehnten jemand mit einem Madonnenbildnis verziert hat. Seit einigen Jahren verschwindet die Madonna zusehends unter dem immer stärker werdenden Aufkommen der Votivtafeln - Schätzungen zufolge sind es mittlerweile mehr als 10.000 - und die Stadtverwaltung muss die Diözesanverwaltung immer wieder daran erinnern, doch bitte dafür zu sorgen, dass nicht die ganze Mauer langsam aber sicher zu einer Freiluftvotivkapelle wird. Doch in der Diözesanverwaltung zuckt man nur die Schultern: dem Bedürfnis und der Lust der Römer an Votivtafeln lässt sich keine Grenzen setzen. Schon gar nicht in Rom.