Herrlicher Spaß der Weltliteratur

13.12.2006
Es war ein Roman, wie man ihn 1759 noch nie gelesen hatte! Ganz anders, als der Titel verlautet, kommt der Held durch zahlreiche Ablenkungen nie dazu, seine Ansichten auszubreiten. Mal war eine Seite schwarz eingefärbt, dann blieb eine Seite frei. Heute gilt "Tristram Shandy", der in neuer Bearbeitung erscheint, als herrlicher Spaß der Weltliteratur.
"Der schönste Geist, der je gewirkt hat..."

... jubelte der sonst arg kritische Johann Wolfgang von Goethe über den englischen Pfarrer, Schelm und Romancier Laurence Sterne, dessen erster Band von "Tristram Shandy" im Dezember 1759 erschien, im Handumdrehen ausverkauft war und bald europaweit Furore machte.

Es war ein Roman, wie man ihn noch nie gelesen hatte: Da erzählt ein Held munter von seiner schwierigen Geburt, bei der ihm leider von einem schusseligen Doktor die Nase platt gedrückt wird (falsche Zange!), plaudert über die turbulenten Verhältnisse seiner Familie und tausenderlei Nebensachen, beständig wird er abgelenkt von den vielen skurrilen Gestalten, die ihm begegnen, und so kommt er eigentlich nie richtig dazu, sein Leben, seine Ansichten auszubreiten, wie der Titel verheißt: "‘Herrgott!‘ sagte meiner Mutter, ‚worum geht’s eigentlich bei der ganzen Geschichte?‘"

Genau das fragten sich lachend Zehntausende von Lesern, die jeden neuen Band so begierig erwarteten wie heutzutage "Harry Potter". Zum erzählerischen Witz kam die besondere Machart: Mal war eine Seite schwarz eingefärbt, weil gerade Trauer herrschte, dann blieb eine Seite frei, um der Phantasie der Leser freien Lauf zu lassen, zwischendurch wurden ganze Kapitel vertauscht. Solch ein Buch hatte die Welt noch nicht gesehen! 1766 war die Edition in zehn Bänden abgeschlossen und Laurence Sterne einer der berühmtesten Schriftsteller Europas. Leider konnte Sterne seinen Ruhm nicht lange genießen, 1768 starb er im Alter von nur 55 Jahren.

Heute gilt "Tristram Shandy" nicht nur als herrlicher Spaß der Weltliteratur, sondern auch als historischer Wegbereiter des modernen Bewusstseinsromans, in dem die erzählte Geschichte ganz im Dienst der Erzählung selbst steht. Deshalb muss man den Berliner Eichborn Verlag unumwunden dafür preisen, dass die seit Jahren vergriffene, herausragende Übersetzung von Michael Walter jetzt in neuer Bearbeitung wieder vorliegt.

Der wunderschön aufgemachte Band besticht durch feinste Grafik und ein instruktives Nachwort vom bibliomanischen Eichborn-Verleger und bekennenden "Sternianer" Wolfgang Hörner, der es sich auch nicht nehmen ließ, eine technische Besonderheit der Original-Ausgabe exakt zu reproduzieren: 400 limitierte Exemplare enthalten die so genannte "marbled page", eine marmorierte Seite, die in aufwändiger Handarbeit einzeln gefertigt wurde.

Daneben erscheint, in Kooperation mit dem "Kein & Aber"-Verlag, eine komplette Hörbuch-Ausgabe mit 21 CDs, gelesen von Harry Rowohlt. Somit ist nun beste Gelegenheit, den "freiesten Schriftsteller aller Zeiten" (F.Nietzsche) zu entdecken – und ein Buch, dessen 250 Jahre Lebenszeit beweisen, wie frisch und unsterblich Literatur sein kann.

Rezensiert von Joachim Scholl

Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
Roman. Ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Michael Walter
Verlag Eichborn Berlin 2006
852 Seiten, € 39,90.