Herausforderung an die Geiz-ist-geil-Gesellschaft
Andreas Altmann marschierte zu Fuß durch halb Europa von Paris nach Berlin. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch festgehalten. Die Arbeitslosen und die Ärmsten vor allem im Osten Deutschlands seien ihm gegenüber am freigiebigsten gewesen. Ein Beitrag zum 105. Deutschen Wandertag.
Balzer: 34 Tage, 33 Nächte von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld. Andreas Altmann ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag.
Altmann: Guten Tag!
Balzer: Herr Altmann, Sie haben sich ja dennoch nicht abschrecken lassen. Warum haben Sie eigentlich diese Strapazen auf sich genommen?
Altmann: Da gibt es leichte und schwere Antworten darauf. Die leichteren sind, dass ich wie Sie, wie wir alle, Geld brauche, Miete zahlen muss, mit schönen Frauen ausgehen möchte, intelligente Bücher kaufe, mir gute Kleidung kaufe, et cetera. Die philosophischere ist die, zwei Verleger haben mich gebeten und gefragt, warum ich denn nicht etwas machen möchte über Deutschland. Ich gelte ja als Dritte-Welt-Junkie. Und dann habe ich gesagt, ich wüsste nicht, was ich in einem Vollkasko-Land, in einem Land mit einer Angela Merkel, tun soll, über was ich da schreiben könnte. Und während ich das sagte, erinnerte ich mich plötzlich, dass ich ja Ex-Katholik bin. Das heißt, dass ich von der Pike auf im Religionsunterricht damals als Junge Masochismus gelernt habe. Das heißt, wenn ich mir Gewalt antue, wenn ich marschiere, zu Fuß gehe und kein Geld habe, also hungern und dursten muss, dann könnte ich an Geschichten herankommen, die mich und natürlich auch den Leser interessieren.
Balzer: Das heißt, an Geschichten dann herankommen, wenn man selbst leiden muss, wenn man selbst sozusagen durch das Tal hindurchgehen muss.
Altmann: Weil sich dann Situationen ergeben, die irgendetwas haben, was anders ist als normal, wenn ich eben nicht mit der Kreditkarte komme, wenn ich Leute mit der Situation konfrontiere. Ich sehe nicht aus wie ein Alkoholiker – man könnte ja sofort sagen: Ja du, du könntest ja arbeiten, du könntest ja etwas tun – also wenn ich Leute ins Eck treibe und sie sehen vor sich jemanden, der zu Fuß ist und der etwas zu Essen und zum Trinken haben möchte oder Geld haben möchte, dann kommen diese Leute in Schwierigkeiten, dann fangen sie an zu schwitzen, und vielleicht bricht dann etwas auf in dieser Geiz-ist-geil-Gesellschaft und vielleicht kommt dann irgendein Herzblut zum Vorschein, irgendeine Wärme oder noch mehr Kälte wie auch immer. In der Situation ergibt sich dann irgendetwas Besonderes.
Balzer: Das ist das Materielle, das kann man natürlich auch tun, indem man sich einfach nur einen Tag lang oder zwei Tage lang relativ komfortabel fortbewegt und trotzdem vielleicht nicht viel Geld hat. Aber Sie sind ja tatsächlich 34 Tage gelaufen, gewandert, nur mit den Füßen unterwegs gewesen durch halb Europa. Was war das eigentlich für Sie körperlich, was ist da in Ihnen vorgegangen, in Ihrem Körper?
Altmann: Es ging mir schlecht. Ich war in einem Krankenhaus. Mir ist vom rechten Fuß unten an der Sohle fast die Hälfte der Haut runtergegangen. Ich wollte mich auf die Knie werfen und um Morphium bitten. Das habe ich nicht bekommen, aber zumindest wurde ich verbunden. Nur sehe ich die Dinge auch praktisch. Ich habe ja schon den Vertrag unterschrieben und die Hälfte des Geldes kassiert, es gab ja kein Zurück mehr.
Balzer: Das heißt, es hat Sie auch das Geld angetrieben zu wandern.
Altmann: Auch das, natürlich. Natürlich auch die Freude, dass ich es schaffe, dass ich durchhalte, dass ich Geschichten finde, aber auch natürlich, weil ich dann mit Geld belohnt werde.
Balzer: Was ist denn in Ihnen seelisch vorgegangen? Was waren das für Momente, als Sie auf den Landstraßen unterwegs waren, ganz mit sich alleine und vielleicht auch gedacht haben, was tue ich hier eigentlich?
Altmann: Ich war jahrelang Reporter. Und das ist ein Beruf, den Leute ergreifen sollten, die ein bisschen begabt sind im Umgang mit der Einsamkeit. Ich bin nicht unbegabt in diesen Dingen. Ich komme gut zurecht mit mir, auch dann, wenn ich nicht nur allein bin, sondern auch einsam bin. Diese Zeit-totschlag-Industrie, dass ich irgendetwas in meine Birne hineinkonsumiere, fällt weg. Und damit bin ich konfrontiert mit mir selber. Auch schlimme Sachen, böse Sachen, an die ich mich erinnere, alles das kommt hoch, weil ja keine Möglichkeit da ist, es zu verdrängen. Das ist eine sehr gute persönliche Erfahrung für jeden, der das machen würde, weil er sich selber auch näher kommt, nicht nur den anderen.
Balzer: Wenn man nachliest in Ihrem Buch, dann merkt man immer wieder, dass man offenbar beim Laufen ganz gut denken kann.
Altmann: Es war so, ich habe mal in Japan gelebt, in einem Kloster und bin auch mit Mönchen mitgegangen, die sind allerdings hundert Kilometer am Tag gegangen. Es geht um das Gefühl, dass man sich auf den Augenblick konzentriert, und dadurch geht auch der Schmerz dann weg. Weil ich immer daran denke, wie wäre es denn, wenn der Schmerz weg wäre. Aber wenn ich hineingehe und im Augenblick bin, dann kommt mir auch die Kraft zu, weil ich ja nicht die Kraft verliere, indem ich an die Zukunft denke, an das Ziel, sondern im Augenblick. Und es ist eine Technik, wie ich damit fertig werde, und ein Denken, weil ich klar werde, weil ich nicht verblödet werde, weil ich Zeit habe, weil der Raum da ist, um zu denken.
Balzer: Aber man ist der Welt auch völlig ausgeliefert mit seinem Denken. Man hat ja eigentlich keinen Schutz um sich herum. Kein Auto, keinen Zug, kein Flugzeug, nicht einmal Geld hatten Sie jetzt persönlich in Ihrem Fall. Nichts, was einen beschützen würde, man ist völlig ausgeliefert.
Altmann: Ja, aber das ist doch schön. Ich glaube auch, dass ein Reporter, wenn er ein Talent haben soll, dann soll er auch das haben, dass er sich Gedanken, die durch seinen Kopf fluten oder durch sein Herz, dass er damit umgehen kann. Natürlich kommen ja auch Stellen in dem Buch vor, wo ich an Dinge denke, die mir nicht gut tun, die mich nicht als Helden darstellen. Das Buch hatte ja zwei Gefahren, dass ich eine Heldenprosa schreibe, oder so ein Tränensackbuch, wo ich mich dauernd bemitleide, wo ich über die bösen Menschen schreibe. Nein, gar nicht. Es muss ja auch Humor drin sein und die Möglichkeit, mit diesen Einsamkeiten, mit diesem Schrecken umzugehen.
Balzer: Wie groß ist eigentlich der Unterschied zu den Leuten, die es ja auch sehr viel in Deutschland gibt, offenbar immer mehr auch gerade junge Leute, die wandern. Das ist ja ein ziemlicher Trend im Moment. Wie groß ist eigentlich der Unterschied zu denen, die ja mit Rucksack und Proviant und einer hoffentlich auch einigermaßen gefüllten Geldbörse durch die Gegend laufen? Ist das ein großer Unterschied zu Ihnen, der Sie ganz ohne Geld gelaufen sind?
Altmann: Ich weiß es nicht. Ich will das weder loben, noch runter machen. Ich denke, das ist wie beim Krafttraining. Wenn Sie einmal um den Häuserblock marschieren, wird der Bauch nicht weggehen. Sie müssen dem Bauch schon einen gewissen Widerstand bieten, damit das Fett wegschwimmt. Und so ist es eben auch bei solchen Erfahrungen. Ich glaube, je tiefer sie gehen wollen mit sich selber und den anderen, umso näher müssen sie ran. Das könnte ich vielleicht aus meiner eigenen Erfahrung sagen.
Balzer: Also Wandern als Extremsportart.
Altmann: Das weiß ich nicht. Ich liebe nun mal gewisse Dinge, die an Grenzen heran gehen. Also ich erhitze mich für die anderen und transportiere dann etwas mittels Sprache, was ich erlebt habe. Ob das jetzt richtig ist oder moralisch gesund, das ist mir völlig egal. Entscheidend ist, was kommt – hätte Kohl gesagt – hinten raus, das heißt, was kann der Leser damit anfangen. Wie inspiriert es ihn selber.
Balzer: Nun sind Sie ja ganz ohne Geld gewandert und waren am Anfang des Buches, im Vorwort, ganz gespannt darauf, wie denn die Umwelt reagieren würde. Wie weit ging eigentlich die Reaktion auf Ihrem Weg? Sie sind ja durch fünf Länder gekommen, von Frankreich bis nach Deutschland, von Paris bis nach Berlin.
Altmann: Ich bin überrascht gewesen. Natürlich war es am Anfang am schwersten, weil ich das Betteln und das Hüsteln erst einmal lernen musste. In fünf Tagen war ich bereits ein relativ begabter Bettler. Das war vielleicht auch die schwierigste Zeit. Ich war im Großen und Ganzen sehr überrascht, wie Leute, die in einer Gesellschaft leben – und da meine ich die belgische, die luxemburgische, die deutsche, ist ja ungefähr dasselbe – die auf Kompetenz, auf Angeben, auf Prestige, auf Geldhaben, auf Protzen aufgebaut ist, wie dann Leute plötzlich so etwas ganz Menschliches haben. Ich habe das Gefühl gehabt, ich habe irgendwo angekratzt bei ihnen und irgendwas kam da zum Vorschein, was dann eigentlich mit Freude akzeptiert wurde. Wenn man jemandem hilft, geht es einem ja auch selber gut. Und das habe ich beobachtet bei den Leuten, wenn sie mir dann eine Suppe gemacht haben, mich eingeladen haben. Aber natürlich gab es die Hornhaut-Verhornten, die mich belehrt haben, die wussten, wo es langgeht, die eigentlich meinten, solche Typen wie ich würden der Gesellschaft schaden. Das gab es auch, das ist ja klar. Und das ist auch gut so.
Balzer: Gab es da Unterschiede zwischen den Ländern?
Altmann: Ich muss es sagen, obwohl ich dafür kein Geld bekomme. Also die Ossis, sagen wir mal die Arbeitslosesten und die „Ärmsten“, haben sich am bravourösesten gelöst, die waren am freizügigsten, die haben mir die Sandwichs nur nachgeworfen. Also da war ich überrascht. Und ich glaube, das hat mit der Geschichte dieses Landes zu tun.
Balzer: Welche Geschichte meinen Sie? Das Geld nicht so eine Rolle gespielt hat.
Altmann: Dass sie, um einen Honecker auszuhalten, um ein Regime aushalten zu können, sich untereinander helfen mussten, um zu überstehen. Und da ist auch eine viel größere Wärme. Natürlich widerspricht das der Stasi und so weiter. Aber trotzdem war es da, dieses sich gegenseitig aushelfen. Und natürlich haben manche mit Triumph gesehen, dass ein armer Wessi daherkommt. Das hat sie natürlich ganz besonders inspiriert.
Balzer: Nun fragt man sich ja trotz allem am Ende so einer Reise, die Sie da getan haben, 34 Tage, 33 Nächte ohne Geld durch halb Europa, kann man so etwas zur Nachahmung empfehlen?
Altmann: Darf ich einen stadtbekannten Kollegen zitieren, Jean-Paul Sartre, der einmal gesagt hat: Ich kann weder befehlen, noch gehorchen. Ich kann niemandem sagen, was er zu tun und zu lassen hat. Ich habe mal ein Buch geschrieben, dass ich manchmal den Leser vergiften möchte – so wie ich vergiftet wurde von Hermann Hesse oder von Henry Miller oder von Camus – vielleicht, dass er die Glotze ausschaltet, damit er selber etwas macht, also den Ranzen umschnürt und etwas macht, losgeht und kreativ ist. Was auch immer das ist, ob er jetzt wandert. Auf jeden Fall sich nicht verblöden, sich nicht nasringverführen lässt, sondern eigenständig sein Leben in die Hand nimmt. Ja, dann ist es okay so.
Balzer: Andreas Altmann. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.
Altmann: Guten Tag!
Balzer: Herr Altmann, Sie haben sich ja dennoch nicht abschrecken lassen. Warum haben Sie eigentlich diese Strapazen auf sich genommen?
Altmann: Da gibt es leichte und schwere Antworten darauf. Die leichteren sind, dass ich wie Sie, wie wir alle, Geld brauche, Miete zahlen muss, mit schönen Frauen ausgehen möchte, intelligente Bücher kaufe, mir gute Kleidung kaufe, et cetera. Die philosophischere ist die, zwei Verleger haben mich gebeten und gefragt, warum ich denn nicht etwas machen möchte über Deutschland. Ich gelte ja als Dritte-Welt-Junkie. Und dann habe ich gesagt, ich wüsste nicht, was ich in einem Vollkasko-Land, in einem Land mit einer Angela Merkel, tun soll, über was ich da schreiben könnte. Und während ich das sagte, erinnerte ich mich plötzlich, dass ich ja Ex-Katholik bin. Das heißt, dass ich von der Pike auf im Religionsunterricht damals als Junge Masochismus gelernt habe. Das heißt, wenn ich mir Gewalt antue, wenn ich marschiere, zu Fuß gehe und kein Geld habe, also hungern und dursten muss, dann könnte ich an Geschichten herankommen, die mich und natürlich auch den Leser interessieren.
Balzer: Das heißt, an Geschichten dann herankommen, wenn man selbst leiden muss, wenn man selbst sozusagen durch das Tal hindurchgehen muss.
Altmann: Weil sich dann Situationen ergeben, die irgendetwas haben, was anders ist als normal, wenn ich eben nicht mit der Kreditkarte komme, wenn ich Leute mit der Situation konfrontiere. Ich sehe nicht aus wie ein Alkoholiker – man könnte ja sofort sagen: Ja du, du könntest ja arbeiten, du könntest ja etwas tun – also wenn ich Leute ins Eck treibe und sie sehen vor sich jemanden, der zu Fuß ist und der etwas zu Essen und zum Trinken haben möchte oder Geld haben möchte, dann kommen diese Leute in Schwierigkeiten, dann fangen sie an zu schwitzen, und vielleicht bricht dann etwas auf in dieser Geiz-ist-geil-Gesellschaft und vielleicht kommt dann irgendein Herzblut zum Vorschein, irgendeine Wärme oder noch mehr Kälte wie auch immer. In der Situation ergibt sich dann irgendetwas Besonderes.
Balzer: Das ist das Materielle, das kann man natürlich auch tun, indem man sich einfach nur einen Tag lang oder zwei Tage lang relativ komfortabel fortbewegt und trotzdem vielleicht nicht viel Geld hat. Aber Sie sind ja tatsächlich 34 Tage gelaufen, gewandert, nur mit den Füßen unterwegs gewesen durch halb Europa. Was war das eigentlich für Sie körperlich, was ist da in Ihnen vorgegangen, in Ihrem Körper?
Altmann: Es ging mir schlecht. Ich war in einem Krankenhaus. Mir ist vom rechten Fuß unten an der Sohle fast die Hälfte der Haut runtergegangen. Ich wollte mich auf die Knie werfen und um Morphium bitten. Das habe ich nicht bekommen, aber zumindest wurde ich verbunden. Nur sehe ich die Dinge auch praktisch. Ich habe ja schon den Vertrag unterschrieben und die Hälfte des Geldes kassiert, es gab ja kein Zurück mehr.
Balzer: Das heißt, es hat Sie auch das Geld angetrieben zu wandern.
Altmann: Auch das, natürlich. Natürlich auch die Freude, dass ich es schaffe, dass ich durchhalte, dass ich Geschichten finde, aber auch natürlich, weil ich dann mit Geld belohnt werde.
Balzer: Was ist denn in Ihnen seelisch vorgegangen? Was waren das für Momente, als Sie auf den Landstraßen unterwegs waren, ganz mit sich alleine und vielleicht auch gedacht haben, was tue ich hier eigentlich?
Altmann: Ich war jahrelang Reporter. Und das ist ein Beruf, den Leute ergreifen sollten, die ein bisschen begabt sind im Umgang mit der Einsamkeit. Ich bin nicht unbegabt in diesen Dingen. Ich komme gut zurecht mit mir, auch dann, wenn ich nicht nur allein bin, sondern auch einsam bin. Diese Zeit-totschlag-Industrie, dass ich irgendetwas in meine Birne hineinkonsumiere, fällt weg. Und damit bin ich konfrontiert mit mir selber. Auch schlimme Sachen, böse Sachen, an die ich mich erinnere, alles das kommt hoch, weil ja keine Möglichkeit da ist, es zu verdrängen. Das ist eine sehr gute persönliche Erfahrung für jeden, der das machen würde, weil er sich selber auch näher kommt, nicht nur den anderen.
Balzer: Wenn man nachliest in Ihrem Buch, dann merkt man immer wieder, dass man offenbar beim Laufen ganz gut denken kann.
Altmann: Es war so, ich habe mal in Japan gelebt, in einem Kloster und bin auch mit Mönchen mitgegangen, die sind allerdings hundert Kilometer am Tag gegangen. Es geht um das Gefühl, dass man sich auf den Augenblick konzentriert, und dadurch geht auch der Schmerz dann weg. Weil ich immer daran denke, wie wäre es denn, wenn der Schmerz weg wäre. Aber wenn ich hineingehe und im Augenblick bin, dann kommt mir auch die Kraft zu, weil ich ja nicht die Kraft verliere, indem ich an die Zukunft denke, an das Ziel, sondern im Augenblick. Und es ist eine Technik, wie ich damit fertig werde, und ein Denken, weil ich klar werde, weil ich nicht verblödet werde, weil ich Zeit habe, weil der Raum da ist, um zu denken.
Balzer: Aber man ist der Welt auch völlig ausgeliefert mit seinem Denken. Man hat ja eigentlich keinen Schutz um sich herum. Kein Auto, keinen Zug, kein Flugzeug, nicht einmal Geld hatten Sie jetzt persönlich in Ihrem Fall. Nichts, was einen beschützen würde, man ist völlig ausgeliefert.
Altmann: Ja, aber das ist doch schön. Ich glaube auch, dass ein Reporter, wenn er ein Talent haben soll, dann soll er auch das haben, dass er sich Gedanken, die durch seinen Kopf fluten oder durch sein Herz, dass er damit umgehen kann. Natürlich kommen ja auch Stellen in dem Buch vor, wo ich an Dinge denke, die mir nicht gut tun, die mich nicht als Helden darstellen. Das Buch hatte ja zwei Gefahren, dass ich eine Heldenprosa schreibe, oder so ein Tränensackbuch, wo ich mich dauernd bemitleide, wo ich über die bösen Menschen schreibe. Nein, gar nicht. Es muss ja auch Humor drin sein und die Möglichkeit, mit diesen Einsamkeiten, mit diesem Schrecken umzugehen.
Balzer: Wie groß ist eigentlich der Unterschied zu den Leuten, die es ja auch sehr viel in Deutschland gibt, offenbar immer mehr auch gerade junge Leute, die wandern. Das ist ja ein ziemlicher Trend im Moment. Wie groß ist eigentlich der Unterschied zu denen, die ja mit Rucksack und Proviant und einer hoffentlich auch einigermaßen gefüllten Geldbörse durch die Gegend laufen? Ist das ein großer Unterschied zu Ihnen, der Sie ganz ohne Geld gelaufen sind?
Altmann: Ich weiß es nicht. Ich will das weder loben, noch runter machen. Ich denke, das ist wie beim Krafttraining. Wenn Sie einmal um den Häuserblock marschieren, wird der Bauch nicht weggehen. Sie müssen dem Bauch schon einen gewissen Widerstand bieten, damit das Fett wegschwimmt. Und so ist es eben auch bei solchen Erfahrungen. Ich glaube, je tiefer sie gehen wollen mit sich selber und den anderen, umso näher müssen sie ran. Das könnte ich vielleicht aus meiner eigenen Erfahrung sagen.
Balzer: Also Wandern als Extremsportart.
Altmann: Das weiß ich nicht. Ich liebe nun mal gewisse Dinge, die an Grenzen heran gehen. Also ich erhitze mich für die anderen und transportiere dann etwas mittels Sprache, was ich erlebt habe. Ob das jetzt richtig ist oder moralisch gesund, das ist mir völlig egal. Entscheidend ist, was kommt – hätte Kohl gesagt – hinten raus, das heißt, was kann der Leser damit anfangen. Wie inspiriert es ihn selber.
Balzer: Nun sind Sie ja ganz ohne Geld gewandert und waren am Anfang des Buches, im Vorwort, ganz gespannt darauf, wie denn die Umwelt reagieren würde. Wie weit ging eigentlich die Reaktion auf Ihrem Weg? Sie sind ja durch fünf Länder gekommen, von Frankreich bis nach Deutschland, von Paris bis nach Berlin.
Altmann: Ich bin überrascht gewesen. Natürlich war es am Anfang am schwersten, weil ich das Betteln und das Hüsteln erst einmal lernen musste. In fünf Tagen war ich bereits ein relativ begabter Bettler. Das war vielleicht auch die schwierigste Zeit. Ich war im Großen und Ganzen sehr überrascht, wie Leute, die in einer Gesellschaft leben – und da meine ich die belgische, die luxemburgische, die deutsche, ist ja ungefähr dasselbe – die auf Kompetenz, auf Angeben, auf Prestige, auf Geldhaben, auf Protzen aufgebaut ist, wie dann Leute plötzlich so etwas ganz Menschliches haben. Ich habe das Gefühl gehabt, ich habe irgendwo angekratzt bei ihnen und irgendwas kam da zum Vorschein, was dann eigentlich mit Freude akzeptiert wurde. Wenn man jemandem hilft, geht es einem ja auch selber gut. Und das habe ich beobachtet bei den Leuten, wenn sie mir dann eine Suppe gemacht haben, mich eingeladen haben. Aber natürlich gab es die Hornhaut-Verhornten, die mich belehrt haben, die wussten, wo es langgeht, die eigentlich meinten, solche Typen wie ich würden der Gesellschaft schaden. Das gab es auch, das ist ja klar. Und das ist auch gut so.
Balzer: Gab es da Unterschiede zwischen den Ländern?
Altmann: Ich muss es sagen, obwohl ich dafür kein Geld bekomme. Also die Ossis, sagen wir mal die Arbeitslosesten und die „Ärmsten“, haben sich am bravourösesten gelöst, die waren am freizügigsten, die haben mir die Sandwichs nur nachgeworfen. Also da war ich überrascht. Und ich glaube, das hat mit der Geschichte dieses Landes zu tun.
Balzer: Welche Geschichte meinen Sie? Das Geld nicht so eine Rolle gespielt hat.
Altmann: Dass sie, um einen Honecker auszuhalten, um ein Regime aushalten zu können, sich untereinander helfen mussten, um zu überstehen. Und da ist auch eine viel größere Wärme. Natürlich widerspricht das der Stasi und so weiter. Aber trotzdem war es da, dieses sich gegenseitig aushelfen. Und natürlich haben manche mit Triumph gesehen, dass ein armer Wessi daherkommt. Das hat sie natürlich ganz besonders inspiriert.
Balzer: Nun fragt man sich ja trotz allem am Ende so einer Reise, die Sie da getan haben, 34 Tage, 33 Nächte ohne Geld durch halb Europa, kann man so etwas zur Nachahmung empfehlen?
Altmann: Darf ich einen stadtbekannten Kollegen zitieren, Jean-Paul Sartre, der einmal gesagt hat: Ich kann weder befehlen, noch gehorchen. Ich kann niemandem sagen, was er zu tun und zu lassen hat. Ich habe mal ein Buch geschrieben, dass ich manchmal den Leser vergiften möchte – so wie ich vergiftet wurde von Hermann Hesse oder von Henry Miller oder von Camus – vielleicht, dass er die Glotze ausschaltet, damit er selber etwas macht, also den Ranzen umschnürt und etwas macht, losgeht und kreativ ist. Was auch immer das ist, ob er jetzt wandert. Auf jeden Fall sich nicht verblöden, sich nicht nasringverführen lässt, sondern eigenständig sein Leben in die Hand nimmt. Ja, dann ist es okay so.
Balzer: Andreas Altmann. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.