Henry David Thoreaus ziviler Ungehorsam

Erst Mensch, dann Untertan

Henry David Thoreau in einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert.
Der Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau in einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert. © imago/imagebroker
Von Gunnar Lammert-Türk · 09.07.2017
Vor 200 Jahren wurde im US-amerikanischen Staat Massachusetts Henry David Thoreau als Sohn eines Bleistiftfabrikanten geboren. Der Harvard-Absolvent hat einen Essay über zivilen Ungehorsam geschrieben, der viele Menschen zum gewaltlosen Widerstand inspiriert hat.
"Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: 'Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert'; und ich sähe gerne, wenn schneller und gründlicher nach ihm gehandelt würde. Wenn er verwirklicht wird, dann läuft es auf dies hinaus - und daran glaube ich auch: 'Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert.'"
Eine steile These, mit der Henry David Thoreau seine Schrift "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" (hier das englische Original) einleitete. Er entwarf sie 1846 im Gefängnis der kleinen Stadt Concord im US-Bundesstaat Massachusetts, wo er eine Nacht wegen nicht gezahlter Steuern einsaß. Thoreau verteidigte in seinem Essay das Recht, dem Staat den Gehorsam aufzukündigen, wenn unter seiner Ägide Dinge geschehen, die Menschen aus Gewissensgründen nicht mittragen wollen. Für ihn war das die Sklaverei in den Vereinigten Staaten und der Krieg gegen Mexiko zur Erweiterung des Staatsgebietes.

Kommunale Selbstorganisation statt Staat

Der Staat besaß in seinen Augen zu viel Macht über die Bürger. Das widersprach seiner Ansicht von der Gründungsidee der nordamerikanischen Gesellschaft, die er weniger als Staat denn als Gemeinwesen mit einem hohen Maß an kommunaler Selbstorganisation sah. Der Kulturwissenschaftler Olaf Briese erklärt dazu:
"Siedler, die sich Land nehmen, einen Bürgermeister wählen, einen Schulmeister bezahlen, also die autark als Kommune jenseits staatlicher Bevormundung leben. Da ist Thoreau verortet. Er sagt: Amerikaner, besinnt euch! Aber nicht Amerikaner als Staatsbürger, sondern Amerikaner als Volk. Besinnt euch auf eure Wurzeln, eure Tugenden! Wir können hier was Anderes und wollten was Anderes als die alten europäischen Staaten."

Das Individuum steht im Mittelpunkt

Für Thoreau stand das Individuum im Mittelpunkt. Die Grenzen des Staates bestimmten sich danach, wie er ihm die Freiheit zur Gestaltung seiner Lebensumstände und zur Entfaltung seiner Fähigkeiten sicherte. Thoreau stimmte darin mit den Transzendentalisten überein, einer Gruppe amerikanischer Intellektueller, deren einflussreichste Persönlichkeit der Philosoph Ralph Waldo Emerson war.
Dem Gemeindechristentum und den kirchlichen Dogmen entfremdet, war Gott für ihn keine personale außermenschliche und außerweltliche Macht. Er ging von einer Art göttlichen Kraft aus, die ebenso in der Natur wirkte wie im Menschen. Wollte der Mensch seinem Wesen gemäß leben, musste er sie in sich und in der Natur aufspüren und zur Entfaltung bringen. So sah es laut Olaf Briese auch Thoreau:
"Er reflektiert das Verhältnis Mensch-Natur im Rahmen einer Naturfrömmigkeit, die man als pantheistisch bezeichnen kann. Er denkt nach über vegane Lebensweise, über schonende Landwirtschaft und über Nacktheit und Scham. Und die Scham, die den Nordamerikanern und Europäern seiner Zeit zueigen war, die hält er eben für unnatürlich und sagt: Wir leben in Natur, wir sind Natur und da gibt es wenig Grenzen zwischen beiden."

Thoreaus Schüler Tolstoi

Die Natur steht nach Thoreau vor und über aller staatlichen Ordnung. Damit der Mensch nach der in ihm angelegten Korrespondenz mit der Natur leben kann, muss er die staatliche Einflussnahme gering halten und eine fehlgeleitete Zivilisation überwinden. Einer, der durch Thoreau angeregt wurde, vor allem durch seine Idee vom zivilen Ungehorsam, war Tolstoi. Er hatte in den frühen 1880er Jahren die Armenviertel in Moskau gesehen. Wie der Religionspädagoge Klaus Hugler weiß, ließ ihn diese Begegnung nicht unberührt:
"Tolstoi fragte nach der Tat und in diesem Zusammenhang entdeckte Tolstoi eigenartiger Weise auch das, was er nicht mehr tun durfte. Und als eine der ersten Übungen hatte Tolstoi damals, der also als Graf, Richter, Mensch im öffentlichen Leben auch die Pflicht hatte, das Schöffenamt wahrzunehmen, das Schöffenamt verweigert. Also die Nichtteilhabe, die Nichtzusammenarbeit, die Nichtunterstützung des Unrechts und von Unrechtsapparaten - das hat er bei Thoreau ausgedrückt und auf den Punkt gebracht gefunden in dieser Schrift vom zivilen Ungehorsam."
Tolstoi las Thoreau - hier zu sehen:  Paolo Troubezkois Büste Tolstois.
Tolstoi las Thoreau - hier zu sehen: Paolo Troubezkois Büste Tolstois.© picture-alliance / dpa / Bifab

Ein wirkmächtiger "Anarchist"

Seinen eigenen Ungehorsam praktizierte Tolstoi zum ersten Mal, als er seine Pflicht, als ehrenamtlicher Richter an Strafverfahren gegen die Bauern seines Gutsbezirkes teilzunehmen, verweigerte. Er gründete seine Widersetzlichkeit auf die Bergpredigt des Neuen Testaments. Thoreau leitete das Recht zum Ungehorsam aus der Würde des Individuums ab, in dem dieselbe göttliche Kraft wirkt, die auch in der Natur zu finden ist. Beide, Thoreau und Tolstoi, stellten die Rechte des Individuums über die des Staates und wollten seine Einflussnahme möglichst einschränken. Das brachte ihnen von Gegnern das Etikett "Anarchist" ein.
Auf Thoreau haben sich viele berufen: Lebensreformer aller Art, Wehrdienstverweigerer, Teile der Ökologiebewegung, Bürgerrechtler und Leitfiguren gewaltfreier politischer Veränderungen wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King. In seiner Schrift über den zivilen Ungehorsam steht der Satz, der für alle Menschen ein Appell an ihr Gewissen bleibt:
"Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es dich zwingt, einem anderen Unrecht anzutun, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten."
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