Henry David Thoreau: "Tagebuch II"

Die überwältigende Lebenskraft der Natur

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Henry David Thoreau: Tagebücher II "Feuer und Wasser" © Cover: Matthes und Seitz / Hintergrund: dpa / Combo: Dlf Kultur (Sarah Elsing)
Von Catherine Newmark · 12.07.2017
Mit "Walden" und der "Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" wurde Henry David Thoreau berühmt. Seine Tagebücher zeigen, wie er Argumente für ein "natürlicheres Leben" fand. Zum 200. Geburtstag des Autors ist nun Band II auf deutsch erschienen.
"Es ist ein Wunder, wie es den Vögeln gelingt, in dieser Welt zu überleben", notiert Henry David Thoreau 1842 in sein Tagebuch. Die Leserin, die seinen Naturbeobachtungen, Erlebnisskizzen und zerstreuten Gedanken bereits mehr als hundert Seiten gefolgt ist, kommt nicht umhin, ihm zuzustimmen. Denn so sehr die Natur und das, was er in ihr erlebt, das Zentrum von Thoreaus Leben und Denken ist – es ist keineswegs nur ihre erhabene Schönheit, die ihn anzieht, sondern genauso ihre überwältigende Kraft und ihre tödliche Wildheit, die ihn fasziniert.
Thoreau, dessen Geburtstag sich heute zum 200. Mal jährt, erlangte Berühmtheit mit seiner Streitschrift "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" von 1849, vor allem aber mit seinem 1854 erschienenen Buch "Walden oder Leben in den Wäldern", in dem er sein zwei Jahre lang dauerndes Experiment eines maximal vereinfachten Lebens in einer kleinen Hütte im Wald beschreibt und zum Ausgangspunkt von philosophischen Überlegungen zur Conditio humana macht.
Das weit größere Werk aber sind seine nachgelassenen "Journals", die insgesamt 47 Manuskript-Bände umfassen. Bei der Princeton University Press ist ein 16-bändige Ausgabe im Entstehen; der Berliner Matthes & Seitz Verlag hat nun den zweiten Band einer auf 12 Bände angelegten Ausgabe herausgebracht. Er umfasst Texte aus den Jahren 1840 bis 1850 und damit auch aus der Zeit des Walden-Experimentes von 1845 bis 1847.

Poetisches Grundmotiv der modernen Zivilisation

Thoreaus Tagebücher enthalten weniger Ereignis-Protokolle seines Alltags, als vielmehr knappe und prägnante Anmerkungen zu seinen Lektüren, ausführliche Beobachtungen zu Flora und Fauna in der Umgebung seiner Heimatstadt Concord, und vor allem dichte Beschreibungen seiner Erlebnisse beim Wandern oder Bootsfahren in der Natur, die immer wieder in den geradezu metaphysischen Übersprung münden:
"Ich habe früh im Frühling die Graspolster gesehen, bei denen neues Grün die verdorrten Halme des letzten Herbstes um drei Zoll hob, und von Jahr zu Jahr weiden die Herden und schneidet der Mäher von diesem nie versiegenden, überquellenden Vorrat – soviel sie brauchen. So stirbt das menschliche Leben nur an der Oberfläche ab, treibt aber einen grünen Halm in die Ewigkeit."
In den Tagebüchern lässt sich nachvollziehen, wie Thoreau seine Argumente für die Rückkehr zu einem einfacheren, "natürlicheren" Leben gewinnt – was er den Tieren und Pflanzen abschaut, wenn er über die Möglichkeiten auch des Menschen, wieder naturverbundener zu leben, nachdenkt.
Selbst wenn wir mittlerweile wissen, dass der Autor selbst in seinen spartanischsten Zeiten – was er selbst weder in "Walden" noch in diesen Tagebuchtexten erwähnt – mehrfach die Woche die flotten zwanzig Minuten nach Concord spazierte, um mit Freunden oder Familie ganz zivilisiert zu essen: die Sehnsucht nach einem innigeren Verhältnis zur Natur, die all seine Texte durchzieht, ist ein poetisches Grundmotiv der modernen Zivilisation und der Kritik an ihr, in dem sich auch viele heutige Leser wiederfinden werden.

Henry David Thoreau: "Tagebuch II (Wasser & Feuer)"
Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt
Mit einem Nachwort von Holger Teschke
Matthes & Seitz, Berlin 2017
377 Seiten, 26,90 Euro