Henkel: Deutschland für qualifizierte Migranten wieder attraktiver machen

Moderation: Jürgen König |
Der ehemalige Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und jetzige Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, Hans-Olaf Henkel, hat den deutschen Umgang mit hoch qualifizierten Einwanderern kritisiert. Derzeit verliere Deutschland mehr gut ausgebildete Menschen, als es aus dem Ausland bekomme.
König: Warum ist Deutschland für Ausländer nicht mehr attraktiv, und das just in dem Moment, in dem wir uns endlich als Einwandererland anzusehen bereit sind? Das fragen wir Hans-Olaf Henkel, den ehemaligen BDI-Präsidenten. Hans-Olaf Henkel war Mitglied der Zuwanderungskommission unter Rita Süssmuth, war bis 2005 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, ist jetzt unter anderem Professor an der Universität Mannheim für Betriebswirtschaftslehre. Guten Morgen, Herr Henkel!

Henkel: Hallo, guten Morgen!

König: Fangen wir mit den Hochqualifizierten an. Vor allem auf Druck der Union hat man im Zuwanderungsgesetz hohe Hürden für potenzielle Einwanderer errichtet. Hochqualifizierte müssen ein Jahresgehalt von 84.000 Euro vorweisen, Selbstständige mindestens eine Million Euro Eigenkapital mitbringen und sie müssen mindestens zehn Arbeitsplätze schaffen, damit sie dauerhaft hier bleiben können. Sind diese hohen Hürden der Hauptgrund, dass so wenige kommen?

Henkel: Nein, das ist sicherlich nicht der Hauptgrund, aber man kann an dieser absurden Diskussion sehen, dass wir die Realität einfach noch nicht richtig begriffen haben. Die Realität ist, dass es einen weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe gibt, und die gehen dahin, wo sie sich am wohlsten fühlen und wo die Chancen am besten sind. Und überall woanders werden diesen großartig ausgebildeten Menschen der rote Teppich hingelegt. Man bemüht sich um sie, ob das nun Amerika ist oder Kanada oder Australien oder Großbritannien oder Irland oder Norwegen oder auch die Schweiz nebenbei, und bei uns meint man, man müsste Hürden aufbauen. Dabei haben wir völlig übersehen, dass wir im Augenblick mehr gut ausgebildete Menschen verlieren, gut ausgebildete Deutsche, als wir aus dem Ausland bekommen. Deshalb ist es Zeit, dass wir diese Diskussion mal wieder von dem Kopf auf die Füße stellen.

König: Nun wird die Koalition darüber beraten, diese Hürden niedriger zu setzen. Statt 84.000 sollen es nur noch 50.000 sein, die man im Jahr verdienen muss, um hier bleiben zu dürfen. Selbstständige sollen nur noch eine halbe Million mitbringen müssen. Reichen die Maßnahmen aus?

Henkel: Na ja, das ist sicherlich, es ist schon mal ein Fortschritt, wenn diese Hürden gesenkt werden.

König: Aber am besten wäre es, es gäbe sie gar nicht?

Henkel: Also natürlich müssen wir uns überlegen, sind es eigentlich die Gründe, das ist so ein typisches Denken der Politiker, die Gründe. Warum viele deutsche Wissenschaftler ins Ausland gehen und warum ausländische Wissenschaftler nicht mehr nach Deutschland kommen, sind die gleichen. Deutschland ist als Wissenschaftsstandort nun mal für Ausländer lange nicht mehr so attraktiv wie früher. Das hat viele Gründe. Übrigens ein Grund ist, dass es mehr Konkurrenz gibt. Früher sind die Leute aus dem Nahen Osten oder aus Japan oder aus anderen Bereichen Asiens nach Deutschland gekommen, um hier zu studieren. Heute gehen sie an Standorte, die sie für besser halten, nämlich solche Edeluniversitäten in den Vereinigten Staaten oder Eliteuniversitäten in Großbritannien. Das heißt, auch wir stehen im Wettbewerb um diese Köpfe, und deshalb genügt es nicht, mit irgendwelchen finanziellen Hürden zu jonglieren, sondern wir müssen mehr in die deutsche Wissenschaftslandschaft investieren. Dann wird Deutschland auch für solche Leute in Zukunft wieder viel attraktiver.

König: Glauben Sie, dass die Diskussion um Ausländerfeindlichkeit, Integrationsprobleme und so weiter eine abschreckende Wirkung gehabt hat, oder ist es doch vor allem die wirtschaftliche Lage Deutschlands, die so abschreckend wirkt?

Henkel: Also diese Diskussion und das, was da passiert, ist sicherlich nicht hilfreich, aber wir sollten das nicht übertreiben. Ich glaube nicht, dass das wirklich ein Grund ist, sondern, wie Sie schon zurecht sagen, gehört neben dem, was ich gerade gesagt habe, dass wir als Wissenschaftsstandort nicht mehr so attraktiv sind für hoch ausgebildete Leute, eben auch eine wirtschaftliche Situation haben, die die Leute nicht mehr anzieht. Die Furcht von Schröder und Co. in der letzten Regierung war ja, dass, wenn die Erweiterung der Europäischen Union jetzt stattfindet mit den zehn neuen Ländern, dass die Polen und die Tschechen und die Slowaken uns sozusagen überschwemmen. Das Gegenteil ist der Fall, sie kommen nicht. Diese Menschen gehen dahin, wo die wirklichen Arbeitsplätze sind. Sie gehen dahin, wo die wirtschaftliche Musik spielt. Und deshalb dürfen wir uns nicht wundern, das ist ja nicht unbedingt schlimm, dass wir zunächst einmal von diesen Bewegungen verschont bleiben. Die gehen woanders hin.

König: Aber ich meine, ich habe jetzt gelesen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat ausgerechnet, dass von den 450.000 Menschen, die im letzten Jahr zu uns gekommen sind, nur rund 20.000 als Einwanderer so im klassischen Sinn gezählt werden können, also als Menschen, die neu nach Deutschland kommen, um hier dauerhaft zu leben. Wir erinnern uns aber, wir hatten die Demografiedebatte. Diese 20.000 Menschen, das wäre nicht mal ein Zehntel dessen, was wir brauchen, um den demografischen Wandel zu bewältigen. Also ich finde es doch schon eine dramatische Situation.

Henkel: Ja, das ist es auch. Aber ich wollte trotzdem sagen, der Grund dafür, dass die Leute nicht mehr kommen, liegt eben auch darin, dass wir relativ weniger attraktiv geworden sind. Wer will denn in ein Land gehen, was inzwischen eine Arbeitslosenrate hat, die weit über dem Durchschnitt Europas steht? Wer will in ein Land gehen, in dem Jahr für Jahr neue Arbeitsplätze verschwinden, statt neue geschaffen werden? Es gibt um uns herum genug europäische Länder, die Arbeitsplätze schaffen. Und hier ist, glaube ich, eine der Hauptursachen zu suchen, dass wir auch ein wirtschaftliches Umfeld schaffen, das nicht nur den Deutschen wieder gefällt, sondern dann natürlich nebenbei auch den Ausländern. Das, was die Deutschen nicht mögen, das gefällt den Ausländern auch nicht, und deshalb hängt das zusammen. Die Bereitschaft junger Deutscher, ins Ausland zu gehen, die ist heute so hoch wie zuletzt in den 50er Jahren, als Deutschland in Trümmern lag, und die Tatsache, dass die Ausländer Deutschland nicht mehr so attraktiv finden. Übrigens glaube ich nicht, dass die Einwanderung nun eine Lösung für unser demografisches Problem ist. Das wird sich so nicht abspielen können, denn rein theoretisch müssten Sie dann wirklich die Schleusen öffnen und Millionen hier ins Land holen, denn, um dieses demografische Problem zu lösen, brauchen wir junge Leute, und wenn man davon ausgeht, dass das Durchschnittsalter eines Einwanderers, sagen wir mal, 30 ist, dann können Sie sich vorstellen, wie viel Millionen Sie brauchen, ich glaube, an die 20 Millionen, um einigermaßen wieder ein Verhältnis zu finden in der deutschen Bevölkerung, ein demografisches Verhältnis, wie wir es vor 40 oder 50 Jahren hatten. Also das kann keine Lösung sein.

König: Kommen wir mal auf die Asylbewerber. Auch die Zahl der Asylanträge ist im letzten Jahr um 20 Prozent zurückgegangen, auch die Anträge auf Familiennachzug. Wolfgang Schäuble spricht schon von einer „gefühlten Zuwanderung“, eine bemerkenswerte Formel, finde ich, angesichts all der Debatten um Integrationskurse und Einbürgerungstests. Teilen Sie diesen Begriff von der „gefühlten Zuwanderung“?

Henkel: Ja, ich finde den hervorragend, den Begriff, weil, wenn Sie den deutschen Durchschnittsbürger fragen, der fühlt sich ja sozusagen schon umzingelt von Zuwanderern, und Tatsache ist, dass wir im Verhältnis zu vielen anderen europäischen Ländern sogar viel weniger in den letzten Jahren haben und dass gerade Deutschland, wir haben gerade darüber gesprochen, immer weniger attraktiv ist für Zuwanderer, übrigens interessanterweise, man kann fast sagen Gott sei Dank, auch relativ weniger attraktiv für Zuwanderer, die schlecht ausgebildet sind, und auch weniger attraktiv für solche Leute, die aus politischen Gründen politisches Asyl suchen, die versuchen, woanders hinzugehen, auch hier wiederum aus wirtschaftlichen Gründen.

König: Bundeskanzlerin Merkel hat für Mitte Juli im Kanzleramt einen so genannten Integrationsgipfel geplant. Statt nur über Migranten zu reden, will sie endlich die Vertreter der Migranten offiziell im Kanzleramt begrüßen. In der „Zeit“ vom 8. Juni schrieb dazu Jörg Lau: „dieser Moment wird wohl das Selbstbild des Landes verändern“. Glauben Sie das auch?

Henkel: Also ich glaube nicht an solche Momente. Ich glaube auch nicht an Gipfel. Wissen Sie, wir hatten beim Bundeskanzler Kohl, ich habe selbst an diesen Dingern da immer teilgenommen, da hatten wir diese Kanzlerrunden. Dann bei Bundeskanzler Schröder hatten wir das Bündnis für Arbeit. Bei Kanzlerin Merkel haben wir einen Gipfel nach dem anderen. Das sind eigentlich politische Veranstaltungen, die dazu dienen, dem Volk vorzugaukeln, dass die Politik etwas tut. Letzten Endes wird dann doch nur wieder diskutiert. Ich will damit nicht sagen, dass solche Gipfel unnötig sind oder schädlich, um Gottes Willen, aber wir sollten sie nicht so überhöhen, wie „Die Zeit“ es getan hat.

König: Machen wir es zum Schluss noch einmal konkret: Was müsste verändert werden vielleicht als erster Schritt in der Politik, in der Gesellschaft, in unseren Köpfen, damit sich Ausländer hier dauerhaft niederlassen wollen, um hier zu arbeiten, zu investieren, Firmen, Familien zu gründen?

Henkel: Ja, jetzt werde ich die Hörer wahrscheinlich langweilen, aber ich bin ja nun in diesem Thema seit vielen Jahren ehrenamtlich tätig. Ich habe mir überall in all meinen Funktionen immer über die Zukunft der deutschen Gesellschaft Gedanken gemacht, und ich bin recht pessimistisch geworden. Wir müssen endlich wieder dafür sorgen, dass wir ein wirtschaftliches Umfeld haben, was Arbeitsplätze schaffen kann, und das muss wirkliche Priorität werden, so wie der Bundespräsident das auch gefordert hat, aber das sieht man in der großen Koalition ja nun überhaupt nicht, denn was die Liberalisierung am Arbeitsmarkt betrifft, so steht da keine große Veränderung an. Und der zweite Punkt, auf den habe ich schon hingewiesen, der ist langfristig von großer Bedeutung, wir müssen Deutschland als Forschungs- und Wissenschaftsstandort wieder fördern. Die deutsche Gesellschaft einschließlich der deutschen Industrie gibt zu wenig für Forschung und Entwicklung aus. Sie gibt viel zu wenig für Ausbildung und Bildung aus. Das haben wir ja bei den Pisa-Ergebnissen gesehen. Das sind die beiden großen Baustellen, Arbeitsmarkt und Wissenschaftspolitik. Wenn wir die nach vorne treiben, dann fühlen wir uns als Deutsche wohler, dann wird Deutschland wieder wettbewerbsfähig, dann schaffen wir Arbeitsplätze und dann werden wir wieder auch für Ausländer attraktiv, nicht nur für Einwanderer mit geringen Qualifikationen, sondern auch für solche mit hohen Qualifikationen, und – das darf man auch nicht vergessen – dann endlich auch mal wieder für ausländische Investoren, die dann hier mal wieder Fabriken bauen, anstatt sie einzureißen, die hier Arbeitsplätze schaffen, anstatt sie abzubauen.

König: Vielen Dank für das Gespräch!