Helmpflicht für Fußgänger?

Von Gudula Geuther |
Dass solche Daten sensibel sind, liegt auf der Hand: Wer hat wann mit wem von wo und wie – per Telefon oder Internet - Kontakt aufgenommen? Kontaktmuster, Verhaltensmuster, ganze Bewegungsprofile ließen sich erstellen mit den Daten, die da über sechs Monate auf Vorrat gespeichert werden sollten.
Dass solche Daten sensibel sind, war für den deutschen Gesetzgeber hingegen nicht gar so klar. Den Regeln, die die Verfassungsrichter jetzt für nichtig erklärt haben, fehlte es an Grundlegendem, von konkreten Regeln zur Datensicherheit, über ausreichende Hürden für Polizei und Strafverfolger bis hin zum Bewusstsein, dass Nachrichtendienste solche konkreten Informationen in aller Regel nichts angehen.

Dass die Verfassungsrichter so hart urteilen würden wie geschehen, dass sie die Vorschriften gleich für nichtig erklären würden, war nicht gesagt. Dass die Vorratsdatenspeicherung so, wie sie war, nicht in Ordnung war, hingegen schon. Später ist man immer schlauer, aber dass dieses Urteil nicht aus heiterem Himmel kam, sieht man schon daran, dass sich die Richter reihenweise auf frühere Entscheidungen beziehen. Fragt sich also: Warum? Warum ist es gerade das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, dessen Ausgleich dem Gesetzgeber regelmäßig nicht gelingt?

Denn tatsächlich gelingt er regelmäßig nicht: präventive Telefonüberwachung, großer Lauschangriff, Online-Durchsuchung in der kruden Form, wie sie Nordrhein-Westfalen einführen wollte - die Liste ließe sich fortführen. Wenn es um die Freiheit der Kommunikation geht, um Privatsphäre versus Sicherheit, dann leiden die Gesetze immer wieder am selben Fehler: Der Schutz der Freiheit wird unterbewertet. Wer da von Überwachungswahn spricht, macht es sich zu leicht.

Der Grund dürfte eher sein: Im Denken eines Sicherheitspolitikers mögen Datenschutz, Freiheitsrechte, Privatheit gut und schön sein, aber all das ist wenig greifbar gegenüber möglichen Gefahren. Und Gefahren – das ist das Fatale – definieren sich heute über das Wörtchen Sicherheitslücken. Ist eine entdeckt, dann hat der einen schweren Stand, der sie nicht stopfen will. Wer den Gedanken zu Ende denkt, der muss für die Helmpflicht des Fußgängers eintreten. Sicherheitslücken – das gibt vor, der Staat habe es in der Hand, alle Lücken zu schließen. So als sei das ganze Leben überwölbt von der potenziellen Gefahr, die zu verhindern wäre.

Gut, dass es ein Verfassungsgericht gibt, mag man sagen. Aber auch damit ist es nicht getan. Denn zum einen kann es nicht sein, dass auf diese Weise die Verantwortung aus dem politischen Raum verschwindet, dass Richter gezwungen sind, Gesetze zu machen.

Zum anderen: Irgendetwas bleibt immer hängen. Fast jeder neue Versuch, jedes Austesten der Grenzen verschiebt die Ränder der Freiheit. In diesem Fall heißt das: Die Speicherung auf Vorrat als solche hat das Gericht nicht verboten, sei es, um nicht in Bausch und Bogen zu verdammen, sei es, um nicht den Gang nach Luxemburg antreten zu müssen und den Kollegen am Europäischen Gerichtshof das letzte Wort zu überlassen. Denn die Speicherung als solche ist europäische Pflicht.

Hier liegt das Problem für Deutschland – und hier liegt die Chance für Europa. Denn die Voraussetzungen sind gar nicht so schlecht, dass sich Europa zum Hüter der Grundrechte aufschwingen könnte. Konkret für die Vorratsdaten zeichnet sich das schon ab: Viele Mitgliedsstaaten sind unglücklich mit den Speicherpflichten. Das rumänische Verfassungsgericht hat sie für verfassungswidrig erklärt, Staaten wie Schweden oder Österreich haben sie nicht umgesetzt. Die Kommission erwägt, die europäischen Vorgaben zu überprüfen – auch im Licht der neuen Grundrechtecharta.

Aber das neue Europa, das nach dem Vertrag von Lissabon, hätte weit über die Vorratsdaten hinaus die Chance, bürgerrechtsfreundlicher zu sein, und das liegt an den neuen Strukturen der Entscheidung. Bisher hatten in Brüssel vor allem Regierungen das Wort, und Regierungen neigen dazu, der Sicherheit besonderes Gewicht zu geben. Wer verantwortlich für die Sicherheitsbehörden ist, hört natürlicherweise auf ihre Wünsche – Freiheitsbehörden dagegen gibt es nicht.

Jetzt kann das Parlament erheblich mehr mitsprechen. Das könnte heißen, dass Europa den Freiheitsrechten größeres Gewicht gibt als zuvor – es könnte aber sogar auch heißen, dass es ihnen mehr Raum gibt als manche Mitgliedsstaaten. Denn das Europäische Parlament stellt keine Regierung, keine nationale, keine europäische. Dass es gewillt ist, seine Unabhängigkeit zu nutzen, hat es gezeigt, als es den Bankdatenaustausch mit den USA auf Eis gelegt hat. Ob es ihm ernst ist, wird es demnächst noch häufig zeigen können, bei den Vorratsdaten, auch bei europäischen Plänen, Fluggastdaten zu speichern.

Es wäre schön, wenn das Parlament seine Rechte selbstbewusst nutzen würde. Dann wäre die Entscheidung über Sicherheit und Freiheit auch wieder da, wo sie hingehört: bei der Politik – zumindest in Europa.