"Übermenschen" im Krieg

Wir brauchen keine Helden

Sozialistisches Propagandaschild "Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk" , davor vier Schüler:innen einer westdeutschen Gymnasialklasse auf Studienfahrt mit scherzhaft erhobenener Faust im April 1985, DDR.
In der DDR wurde der Heldenmythos des Antifaschisten und des Kosmonauten gepflegt, sagt Kerstin Hensel. Die Menschen, die für ihre Freiheit auf die Straße gingen, brauchten solche Helden wohl eher nicht. © imago / imagebroker
Überlegungen von Kerstin Hensel · 04.04.2022
Spätestens jetzt, im Angesicht von Krieg, Tod und Leid, werden wieder Geschichten von Helden und Heldinnen erzählt. Aber Menschen in der Not zu helfen, ist nicht übermenschlich, sondern einfach nur human, sagt die Schriftstellerin Kerstin Hensel.
In meiner Kindheit hieß die private Erziehungsstrategie „Nur nicht auffallen“. Wer auffällt, will sich nur wichtigmachen. Über den wird geredet. Öffentlicher Tadel, doch auch Lob oder gar Ehrbezeugungen bringen nichts als Unruhe.
Gehorsam, Anpassung, Bescheidenheit, Stillsein, sich nirgendwo einmischen, kurz: nicht um sich sehen – mit dieser Haltung waren viele sogenannte „Normalfamilien“ stets unbehelligt durch die wechselnden Zeiten gekommen. Meine auch. 
Die Schule forderte anderes: Pioniere und die Freie Deutsche Jugend, denen die Vorhut eines „neuen Menschen“ zugeschrieben wurde, sollten ehrgeizig, stolz und allzeit tapfere Kämpfer für den Sieg des Sozialismus sein. Die Gebote zielten wie die christlich-religiösen auf das Idealbild arbeitsamer, körperlicher, ideologischer und moralischer Reinheit.

Jede Gesellschaft kreiert sich ihre Helden

Um uns für dieses Ideal zu erfrischen, wurden Helden aufgestellt. Das macht jede Gesellschaft, die sich in sozialen Umwälzungen oder in einer nationalen Krise befindet. Helden, die etwas Über-Menschliches schaffen, die einen mächtigen Feind bezwingen und sich um Leben und Tod für ein Ziel oder eine Vision einsetzen. 

In der DDR gab es vielerlei Helden. Ob es antifaschistische Widerstandskämpfer, Recken sowjetischer Kriegsromane, Kosmonauten, sportliche Medaillenbringer oder auch nur „Helden der Arbeit“ waren – uns Kindern sollten sie Vorbild sein. Mit solchen Vorbildern konnte ich nie etwas anfangen. Stolz, Siegertum, mutglühende Kampfgestalten waren mir unangenehm, schienen mir lächerlich und langweilten mich.  
Schon als Schulkind habe ich mich ferngehalten von Protzposen, Siegerehrungen und fahnenschwenkendem Tschingtärätätä. Nicht Ungehorsam oder gar intellektueller Widerstand waren Anlass, sondern instinktive Abneigung, Unverständnis, Fremdscham und Angst. 

In der Not für andere da sein

Dennoch: In meinem späteren Leben war ich alles andere als feige, stumm, anspruchs- oder wehrlos. Ich habe das Gegenteil meines Kinderstubenideals gelebt. Mitunter hat man mich bewundert, weil ich etwas getan habe, das fernab jeder Anmut und Bequemlichkeit stand. Aufopferungsvoll hat man mich genannt, selbstlos, heldenhaft.
Das ist Unsinn. Ich habe etwas getan, das getan werden musste. Nicht aus Verpflichtung oder dem Drang nach Dankbarkeit, sondern weil es in meinen Augen zum humanen Miteinander gehört, weil der Umstand es gefordert und es keine Alternative gegeben hat. Für mich ist es selbstverständlich, in der Not für andere da zu sein.
Sei es bei Sorgen, bei Krankheiten, Naturkatastrophen, selbst bei dem irrwitzigsten aller gesellschaftlichen Ausschläge: dem Krieg. Ein Held bin ich deshalb nicht, und ich nenne auch niemanden so. 

Jeder Held und jede Heldin werden zum Klischee

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat, sagt Bertolt Brecht. Vielleicht ist es das, was ich nie wollte: in einem unglücklichen Land leben. Damals nicht, heute nicht. Bestehen die Völker wirklich darauf, ihre Wunder, Helden, Heiligen, Märtyrer und Gottheiten anzubeten, um im bewaffneten Kampf gegen das Böse, was ihnen vorgeführt wird, blind und pathetisch im Zorn zu entflammen? Ist heroisch plärrende Macht noch immer das, was einen großen Teil der Menschheit beeindruckt?

Jeder Held gerät irgendwann zum Klischee. Das gilt für sowohl für die fiktiven Helden aus Literatur und Film, für digitale Superheros und für alle real existierenden, die mit Schaum vor dem Mund ihre Gier nach Neueroberung der Welt als Neuordnung bezeichnet haben und fürderhin bezeichnen.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre Novelle „Regenbeins Farben“.

Kerstin Hensel. Eine Frau steht an einem Pult.
© imago images/gezett
Mehr zum Thema