Helden des Umschwungs

Von Helmut Böttiger |
Ganze 48 Prozent bekam die "Allianz für Deutschland" bei den ersten freien Wahlen der DDR - damit war ein Grundstein für die Wiedervereinigung gelegt. Die Bürgerrechtsbewegung hingegen, die maßgeblich zum Sturz des alten Regimes beigetragen hatte, wurde abgewatscht.
Als die DDR im Frühjahr 1990 ihre ersten freien Wahlen abhielt, rieben sich die alten Bundesbürger verwundert die Augen. Man hatte vom sächsischen Industriegebiet um Leipzig immer als Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie gesprochen, man hatte gedacht, dass irgendwelche Ideen eines besseren, menschlichen Sozialismus doch recht verbreitet gewesen wären – und dann wählten sie mit 48 Prozent die "Allianz für Deutschland", hinter der unübersehbar die massige Gestalt Helmut Kohls stand. Nach dem Motto: Der Mann da oben an der Spitze soll es richten.

Die Vertreter der Bürgerrechtsbewegung, die den größten Anteil daran hatten, das alte autoritäre Regime zum Abdanken zu bewegen, die wahren Helden des Umsturzes erhielten ganze 2, 9 Prozent. Wenn man heute immer noch fragt, was die West- und die Ostdeutschen denn so grundlegend voneinander unterscheidet, sollte man bei diesen freien Volkskammerwahlen ansetzen. Die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger suchte instinktiv die Sicherheit bei einer neuen Autorität. Sie sah sich überfordert darin, selbstverantwortlich zu agieren – man hatte gar keine Vorstellung davon, wie so etwas gehen solle. Es war wie eine Zeitmaschine: Die Bevölkerung der DDR glich auf irritierende Weise der Bevölkerung der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer.

Im Westen stellten wir verblüfft fest, dass die DDR ein sehr deutsches Land war, viel deutscher, als sich die Bundesrepublik vorkam. Die Westdeutschen hatten sich im Lauf der Zeit erstaunlich verändert. Wenn man sich alte Fernsehfilme anschaut, spürt man: Die Lebensumstände der West- und Ostdeutschen waren Mitte der 60er-Jahre noch gar nicht so stark zu unterscheiden, die Wohnungseinrichtungen, die Umgangsformen, die Wertvorstellungen. Der große Umbruch, die große Beschleunigung fand dann aber in den 70er-Jahren statt. Hier erlangten die Bundesbürger so etwas wie eine Ahnung von bürgerlichem Selbstbewusstsein. Dieser Umbruch hat etwas mit der Studentenrevolte um 1968, dem Regierungsantritt von Willy Brandt und mit der popkulturellen Wende der Gesellschaft um 1980 zu tun.

Hier änderten sich die Ästhetik und die Lebensauffassungen der Bundesbürger deutlich. Die Bewertung der 68er-Bewegung ist bis heute sehr umstritten, aber ein Aspekt in ihrem Gefolge ist nicht zu übersehen: Obwohl die damaligen Wortführer etwas ganz anderes wollten, erreichten sie vor allem eine Modernisierung der Gesellschaft. In den Jahren nach 1968 holten die Bundesdeutschen etwas nach, was in anderen westlichen Ländern längst geschehen war. Sie kompensierten die fehlende bürgerliche Revolution. Sie entwickelten sich hin zu einer Zivilgesellschaft mit bürgerlichen Werten. Und das ist ein Prozess, der auf dem Territorium der DDR bis heute aussteht.

Ein Modewort der 70er-Jahre war in der Bundesrepublik die "Selbstverwirklichung". Das hat zu vielen Überspitzungen und Fehlentwicklungen geführt, aber eines wurde im Alltag spürbar: Man überwand einigermaßen die alte deutsche Grundhaltung, sich ewig zu kurz gekommen zu fühlen und dafür nach Sündenböcken zu suchen. Es gibt die wahre Geschichte, dass direkt nach der Öffnung der Grenzen DDR-Bürger den Übergang Heinrich-Heine-Straße passierten, dann auf die ersten Döner-Buden von Türken stießen und diese als "Ausländer" beschimpften. Die Westberliner aber erklärten: "Das sind unsere Türken!" Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Im aktuellen Wahljahr, bei der Bundestagswahl, bei den Wahlen in Sachsen oder Thüringen hörte man von Ostdeutschen den Satz des typischen deutschen Untertanen, den man in Westdeutschland bis Ende der 60er-Jahre ebenfalls sehr oft hörte: "Die da oben machen doch eh, was sie wollen!" Der Zeitpunkt für eine bürgerliche Revolution im Osten scheint verpasst worden zu sein, und für einen neuen Anlauf braucht es wohl noch ein oder zwei Generationen.

Helmut Böttiger, freier Autor, Dr. phil., geb. 1956 in Creglingen/Baden-Württemberg. Studium in Freiburg, Dissertation über DDR-Literatur 1985. Lebt nach verschiedenen Redaktionstätigkeiten seit 2002 als freier Autor in Berlin. Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1996. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Ostzeit-Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur, München 1996. Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur, Wien 2004. Celan am Meer, Hamburg 2006. Ausstellungskatalog "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland", Darmstadt und Göttingen, 2009.