Helden des Alltags
Der Laden boomt, obwohl er klein ist. Genauer gesagt: zu klein, die Räumlichkeiten quellen von Menschen über, die wissen, dass ihnen hier geholfen wird. Selbstverständlich stehen auf dem Schild, draußen neben der Eingangstür, die Öffnungszeiten, doch kann man getrost auch außerhalb dieser Stunden klingeln.
Wer sich nun als vermeintlicher Konkurrent über unlauteren Wettbewerb ärgert, sei vor einer Blamage gewarnt: Der Laden verkauft nichts. Legte man die Maßstäbe der Wirtschaft an, würde man von einer beklagenswerten Rentabilität sprechen, von Stundenlöhnen der Inhaber jenseits gewerkschaftlich vertretbarer Untergrenzen. Der Laden ist eine Kinderarztpraxis.
Ja, wir haben sie, die Helden des Alltags, denen unser Land sein Funktionieren verdankt, die nicht jammern, sondern anpacken, und das aus einer einfachen Wahrnehmung heraus: Wenn sie nicht helfen, tut es kein anderer. Kindliches Elend, das aus fieberglänzenden Augen spricht, duldet keinen Verweis auf Arbeitszeitregeln oder betriebswirtschaftliche Kennziffern. Wenn der kleine Patient Zuwendung benötigt, die mehr als ein kurzer diagnostischer Check bei Erwachsenen ist, wenn darüber hinaus die Eltern ins Geschehen mit einbezogen werden müssen, weil sie die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit umtreibt, dann vergehen Minuten, Viertelstunden, halbe Stunden, die in den Augen der Gesundheitsindustrie wenig Gewicht haben: Keine millionenschweren Investitionen müssen hier abgeschrieben werden, es werden nur menschliches Engagement, Wissen und Erfahrung aufgebracht - billige, scheinbar ständig verfügbare Ressourcen.
Kinderärzte sind auf kaum zu rechtfertigende Weise materiell schlechter gestellt als ihre Kollegen. Zum ersten haben sie einen verschwindend geringen Anteil an Privatpatienten - der bei anderen niedergelassenen Ärzten für den immer dringender benötigten Ausgleich schwacher Einnahmen durch schlechte Sozialstrukturen sorgt. Zum zweiten aber sind ihnen auch die restlichen Fachärzte nicht gewogen. Da Pädiater eine kleine Minderheit der Gesamtärzteschaft darstellen, haben sie auf die Verteilung der Krankenkassengelder kaum Einfluss. Nach Meinung vieler Kollegen sollten sie systematisch abgewickelt und durch das allseits favorisierte Hausarztprinzip überflüssig gemacht werden. Das hochkomplizierte Krankenkassen-Verrechnungssystem auf Punktebasis passt schon jetzt kaum auf die Bedürfnisse der kleinen Patienten. Bald wird auch diese ärztliche Praxis nicht mehr um ihre spezifischen Belange wissen.
Zum dritten, und da wird es für die Gesellschaft insgesamt skandalös, betrachtet der Gesundheitsbetrieb Kinder genauso als Störfaktor wie die restliche Berufswelt. Vor einiger Zeit wagte sich im "Deutschen Ärzteblatt" eine junge Frau aus der Deckung und schilderte, was ihr als Mutter widerfahren war, als sie es wagte, sich um eine Qualifizierungsstelle für den Kinder-Facharzt zu bewerben. Neben den obligatorischen Ablehnungen, weil sie wegen des Nachwuchses nicht zu inhumanen 48-Stunden-Dienstschichten in der Lage sei, erhielt sie Offerten, die von offener Ausbeutung bis hin zum Betrug der Arbeitslosenversicherung reichten. Das Fazit: Entweder Kinderärztinnen in spe bleiben kinderlos - das ist so wie ein Schriftsteller, der Bücher schreibt, obwohl er nicht lesen kann -, oder sie bekommen Kinder, können dafür aber nicht als Pädiater arbeiten, sondern vielleicht als Geriatrie-Spezialisten. So ist die Lage in Deutschland, armes Vaterland, anno 2005. Man kann über die demographische Fehlentwicklung auf hohem Niveau theoretisieren, aufgehalten wird sie nur ganz unten, dort, wo es um Essentials geht: Will dieses Land wirklich Kinder? Und was ist es bereit dafür auszugeben? Zum Beispiel etwas weniger für die dem Freizeitwahn geschuldeten Orthopädiekosten, etwas mehr für die physisch Schwächsten, aber Notwendigsten der Gesellschaft, weil sie dereinst die Stärksten sein werden - wenn wir anderen alle schwach geworden sind.
Meine beiden Helden des Alltags - eine Frau und ein Mann - haben zum Glück beide eine Familie, aber sie wirken auf eine seltsame Weise anachronistisch. Sie müssen aus einer Zeit kommen, in der man Berufe anders erwählte als nach der Faustformel maximales Einkommen bei minimaler Arbeitszeit. Neben dem Fulltimejob in der Praxis, bilden sie sich fort, engagieren sich wissenschaftlich und betreiben ihr überbordendes "Geschäft" auch noch in einer Gegend, in der medizinische Hilfe nicht selten in Sozialarbeit übergeht. Jedes Mal, wenn ich diese Praxis verlasse, schüttele ich fassungslos den Kopf: Dass es so etwas noch gibt!
Ja, das gibt es. Nicht nur in meiner Stadt, sondern auch andernorts. Nun ist es an uns allen, dies zu honorieren. Wenn nicht sofort finanziell - wofür man sich politisch einsetzen muss! -, so doch wenigstens mit klaren Worten: Danke! Und findet - bitte, bitte! - einst Nachfolger, wenn ihr nicht mehr könnt. Unsere Kleinen brauchen qualifizierte Kinderärzte, die sich Zeit nehmen, sie zu verstehen.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.
Ja, wir haben sie, die Helden des Alltags, denen unser Land sein Funktionieren verdankt, die nicht jammern, sondern anpacken, und das aus einer einfachen Wahrnehmung heraus: Wenn sie nicht helfen, tut es kein anderer. Kindliches Elend, das aus fieberglänzenden Augen spricht, duldet keinen Verweis auf Arbeitszeitregeln oder betriebswirtschaftliche Kennziffern. Wenn der kleine Patient Zuwendung benötigt, die mehr als ein kurzer diagnostischer Check bei Erwachsenen ist, wenn darüber hinaus die Eltern ins Geschehen mit einbezogen werden müssen, weil sie die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit umtreibt, dann vergehen Minuten, Viertelstunden, halbe Stunden, die in den Augen der Gesundheitsindustrie wenig Gewicht haben: Keine millionenschweren Investitionen müssen hier abgeschrieben werden, es werden nur menschliches Engagement, Wissen und Erfahrung aufgebracht - billige, scheinbar ständig verfügbare Ressourcen.
Kinderärzte sind auf kaum zu rechtfertigende Weise materiell schlechter gestellt als ihre Kollegen. Zum ersten haben sie einen verschwindend geringen Anteil an Privatpatienten - der bei anderen niedergelassenen Ärzten für den immer dringender benötigten Ausgleich schwacher Einnahmen durch schlechte Sozialstrukturen sorgt. Zum zweiten aber sind ihnen auch die restlichen Fachärzte nicht gewogen. Da Pädiater eine kleine Minderheit der Gesamtärzteschaft darstellen, haben sie auf die Verteilung der Krankenkassengelder kaum Einfluss. Nach Meinung vieler Kollegen sollten sie systematisch abgewickelt und durch das allseits favorisierte Hausarztprinzip überflüssig gemacht werden. Das hochkomplizierte Krankenkassen-Verrechnungssystem auf Punktebasis passt schon jetzt kaum auf die Bedürfnisse der kleinen Patienten. Bald wird auch diese ärztliche Praxis nicht mehr um ihre spezifischen Belange wissen.
Zum dritten, und da wird es für die Gesellschaft insgesamt skandalös, betrachtet der Gesundheitsbetrieb Kinder genauso als Störfaktor wie die restliche Berufswelt. Vor einiger Zeit wagte sich im "Deutschen Ärzteblatt" eine junge Frau aus der Deckung und schilderte, was ihr als Mutter widerfahren war, als sie es wagte, sich um eine Qualifizierungsstelle für den Kinder-Facharzt zu bewerben. Neben den obligatorischen Ablehnungen, weil sie wegen des Nachwuchses nicht zu inhumanen 48-Stunden-Dienstschichten in der Lage sei, erhielt sie Offerten, die von offener Ausbeutung bis hin zum Betrug der Arbeitslosenversicherung reichten. Das Fazit: Entweder Kinderärztinnen in spe bleiben kinderlos - das ist so wie ein Schriftsteller, der Bücher schreibt, obwohl er nicht lesen kann -, oder sie bekommen Kinder, können dafür aber nicht als Pädiater arbeiten, sondern vielleicht als Geriatrie-Spezialisten. So ist die Lage in Deutschland, armes Vaterland, anno 2005. Man kann über die demographische Fehlentwicklung auf hohem Niveau theoretisieren, aufgehalten wird sie nur ganz unten, dort, wo es um Essentials geht: Will dieses Land wirklich Kinder? Und was ist es bereit dafür auszugeben? Zum Beispiel etwas weniger für die dem Freizeitwahn geschuldeten Orthopädiekosten, etwas mehr für die physisch Schwächsten, aber Notwendigsten der Gesellschaft, weil sie dereinst die Stärksten sein werden - wenn wir anderen alle schwach geworden sind.
Meine beiden Helden des Alltags - eine Frau und ein Mann - haben zum Glück beide eine Familie, aber sie wirken auf eine seltsame Weise anachronistisch. Sie müssen aus einer Zeit kommen, in der man Berufe anders erwählte als nach der Faustformel maximales Einkommen bei minimaler Arbeitszeit. Neben dem Fulltimejob in der Praxis, bilden sie sich fort, engagieren sich wissenschaftlich und betreiben ihr überbordendes "Geschäft" auch noch in einer Gegend, in der medizinische Hilfe nicht selten in Sozialarbeit übergeht. Jedes Mal, wenn ich diese Praxis verlasse, schüttele ich fassungslos den Kopf: Dass es so etwas noch gibt!
Ja, das gibt es. Nicht nur in meiner Stadt, sondern auch andernorts. Nun ist es an uns allen, dies zu honorieren. Wenn nicht sofort finanziell - wofür man sich politisch einsetzen muss! -, so doch wenigstens mit klaren Worten: Danke! Und findet - bitte, bitte! - einst Nachfolger, wenn ihr nicht mehr könnt. Unsere Kleinen brauchen qualifizierte Kinderärzte, die sich Zeit nehmen, sie zu verstehen.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.