"Heiroden sall he se!"

Von Petra Marchewka · 05.10.2007
"... Her mit den Doktor! He sall se heirorden" - Schon einmal wurde der "Faust" auf der Reeperbahn gegeben. Allerdings als Sieg über Goethe. So jedenfalls erzählt der Schriftsteller Willi Bredel es in einer kleinen Geschichte.
Sieg über Goethe hieß in dem Fall, dass das Publikum nach einem anderen Schluss verlangte und das auch lautstark bei der Premiere zum Ausdruck brachte. Wenn das Ohnsorg-Theater mit seiner Premiere übermorgen den "Faust" präsentiert, gibt es am Ende keinen Zweifel: Doktor Faust wird Gretchen im Kerker zurücklassen und sich mit seinem Teufelsbegleiter aus dem Staub machen - auf plattdeutsch!

"Es kommen wahnsinnig viele Worte vor, die ich noch nie gehört habe."

Ohnsorg-Theater, Probebühne eins. Eine alte Klimaanlage rauscht, grelle Neonröhren strahlen ungemütlich. Die Augen der Souffleuse Beate Schäfer hetzen unruhig hin und her. Zwischen Bühne und Text, Bühne und Text, Bühne und Text. Bis einer der Darsteller nicht mehr weiter weiß und "hängt".

"Normalerweise, wenn man Englisch kann, wenn man romanische Sprachen kann, kann man sich viel herleiten. Aber jetzt beim Plattdütschen da kommen Worte vor, da ist die Wurzel nicht zu packen ..."

Beate Schäfer schwimmt im eiskalten Wasser: Sie ist für eine kranke Kollegin eingesprungen, kann selber kein Wort plattdeutsch.

"Ich muss (...) im Grunde nur die Aussprache richtig lernen. Das heißt ich höre während der Proben den Kollegen sehr genau zu (...) und schreibe mir teilweise in Lautschrift daneben, wie was ausgesprochen wird, und zu Hause übe ich das natürlich."

"Ich hab’ gerade Herrn Friedrichsen gefragt, was vigelienschen heißt. ‘Blut ist ein vigelienschen Saft.’ Und da wurde mir dann erklärt, das kommt von der Violine. (...) Und davon ist das Plattdeutsche halt voll, ich lerne jeden Tag neue Worte, das macht total viel Spaß auch."

"Plattdeutsch ist meine Muttersprache ..."

Uwe Friedrichsen. Sein 50. Bühnenjubiläum ist nun auch schon wieder ein paar Jahre her.

"Ich bin plattdeutsch aufgewachsen, und ich spreche plattdeutsch wie hochdeutsch. Manchmal denke ich sogar, ich spreche es besser."

Friedrichsen: "Ick ..."
Souffleuse: "Ick bin tou Deensten di ..."
Friedrichsen: "Ick bin tou Deensten di, tou Willen ..."
Souffleuse: "Du bist mien Herr ..."
Friedrichsen: "Du bist mien Herr ..."

Friedrichsen in der Rolle des Mephisto trägt für die Proben einen alten schwarzen Trenchcoat über der abgewetzten Jeans, auf dem Kopf einen diabolisch-schwarzen Hut mit blutroter Feder. Der Bühnenschauspieler, Synchronsprecher, Fernsehmann Friedrichsen begann mit Faust seine Karriere, damals, mit Anfang 20.

"Ich kann es im Hochdeutschen fast auswendig, das ganze Stück, weil ich damals in der berühmten Gründgens-Inszenierung den Schüler gespielt habe, das Stück ist mir also sehr vertraut, aber natürlich ist das auch ein Nachteil, weil mir der hochdeutsche Text immer dazwischen gerät. Wenn ich die plattdeutschen Zeilen spreche, auswendig lerne, interpretiere, dann steht daneben immer, als wenn das so eine Simultanübersetzung ist, die hochdeutsche Version."

Faust auf Platt: Auch für einen "alten Hasen" wirklich vigeliensch.

"Jeder kennt Goethes Faust. (...) Und das plötzlich in einer anderen Sprache zu spielen, ist generell ein Risiko."

"Blut ist ein ganz besonderer Saft. So bei Goethe. Bei uns heißt es: Blood is n vigelienschen Saft ..."

Frank Grupe, Regisseur und Oberspielleiter, schaut über die Gläser seiner randlosen Brille ins Textbuch.

"Das Wort vigeliensch geht weit über die Bedeutung von besonders hinaus, ist praktisch nicht übersetzbar, (...) steht für eben etwas Besonderes, aber auch etwas Kompliziertes, etwas Vertracktes, das ist ein Begriff, da trifft das Plattdeutsche mit einem Wort etwas, was im Hochdeutschen nur mit Umständlichkeiten auszudrücken wäre oder eben mit einem sehr viel schlichteren Wort ‘besonders‘, das sehr viel allgemeiner gehalten ist."

Für Grupe und das Team ist Faust nicht irgendeine Produktion. Faust, sagt er, das ist ein Kraftakt.

"Ich habe gerne (...) gesagt auf die Frage, warum müsst Ihr denn unseren Goethe auch noch platt machen, das kann doch jeder sich im Hochdeutschen angucken, dass genau diese Schwellenangst häufig Zuschauer hindert, ins Staatstheater zu gehen und sich Faust auf Hochdeutsch anzugucken, die aber wissen: Bei uns bekommen sie’s in der ihnen vertrauten Sprache und bekommen vielleicht dadurch auch einmal einen Zugang zu etwas, mit dem sie sich sonst nicht beschäftigt hätten."

Der niederdeutsche Autor Friedrich Hans Schaefer hatte die Handlung in seiner plattdeutschen Nachgestaltung auf die Gretchen-Geschichte und auf Fausts Pakt mit dem Teufel reduziert. Grupes Neuinszenierung will sich nun dem Original wieder stärker annähern. Jede Probe ist deshalb auch harte Textarbeit und ein Ringen um angemessene Worte.

"Wo man das bessere, richtigere und schönere plattdeutsche Wort finden kann, sollten wir das nehmen ... – Ja, ja ..."

Die Messlatte – sie hängt sehr hoch: Faust auf Platt, das sei auch eine Standortbestimmung, hat Ohnsorg-Intendant Christian Seeler ganz vorne ins aktuelle Programmheft geschrieben. Die Neuinszenierung solle zeigen, wie sich das Haus im letzten Vierteljahrhundert entwickelt habe. Damals, vor genau 25 Jahren, stand Faust hier nämlich schon einmal auf dem Spielplan.

"Wir haben uns aber nicht gescheut, eben gewisse Szenen mit hinein zu nehmen, die durchaus vom Zuschauer viel verlangen, und auch die Inszenierung wird das widerspiegeln, dass wir da nicht einfach nur auf die volkstümlichen, leicht zu erfassenden, besonders unterhaltsamen Aspekte kommen, sondern wir durchaus auch versuchen, eine sehr seriöse und sehr ernsthafte Arbeit am Faust zu leisten, die insgesamt auch die Intention des Dichters wiedergibt."

"Hinten sind immer zwei Abnäher, für korpulente Menschen, sooo ... nach oben, und dann vernäht man das ... Und dann nach unten, schräg nach unten …"

Der plattdeutsche Faust soll nicht volkstümlicher sein als der hochdeutsche. Deshalb sind die Kostüme, an denen der Schneider Krzysztof Sumera oben im ersten Stock des Ohnsorg-Theaters näht, weder mittelalterlich noch ländlich, sondern zeitlos-neutral.

"Zum Beispiel hier, das ist der Mephisto, alles ist Herr Friedrichsen hier, schwarze Mantel, die Jacke, das Hemd ...
Und das ist Faust, der hat solche Anzug, mit Hemd ..."

Die Plattdeutschkenntnisse des gebürtigen Polen sind zwar bei weitem nicht bühnentauglich. Dass aber Joachim Bliese als plattdeutscher Faust einen qualitativ einzigartigen Mantel tragen wird, dafür hat Krzysztof Sumera bereits gesorgt.

"Solche Mantel kriegt man nicht in ganz Deutschland, (...) von Stange kriegt man nicht, das muss angefertigt, (...) wir kaufen Stoff, besser selber nähen, ist schneller (...) Nicht nur kaufen, kaufen, muss man auch nähen, nähen, nähen."

Neben einem hölzernen Regal Marke Baumarkt lehnt klapprig ein menschliches Skelett. Auf dem Probenplan steht die "Studierstube": Mephisto wird versuchen, den an seiner Existenz zweifelnden Faust um den Finger zu wickeln.

Wie Uwe Friedrichsen kennt auch Faustdarsteller Joachim Bliese Goethes Klassiker aus dem FF. Damals, Ende der 50er Jahre, als er in der berühmten Gustav-Gründgens-Produktion mitgewirkt hat, war er noch Schauspielschüler in Hamburg. Das Plattdeutsche, erzählt der gebürtige Kieler, sei ihm sehr vertraut - seit 20 Jahren wohnt er in einem "plattdeutschen Sprachgebiet", im nördlichen Niedersachsen, an der Elbe.

"Die plattdeutsche, niederdeutsche Sprache ist ja im alltäglichen Bereich wunderbar, weil sie wie viele Dialekte eine Kraft hat, auch in verschiedenen Wörtern, Ausdrücken ist sie sehr viel erdiger als das Hochdeutsche."

Gerade bei der Rolle des Gelehrten Faust jedoch bereite das Plattdeutsche gelegentlich Schwierigkeiten.

"Sie hat Leerstellen, Schwachstellen für mein Gefühl da, wo es um geistige, emotionale Beschreibungen geht. Das ist der niederdeutschen Sprache nicht so gegeben. Man kann nicht sagen auf Plattdeutsch ‘Ich liebe dich.‘. Gibt kein Wort dafür. Da sagt man ‘Ick häv dee leev‘, ‘Ich hab dich lieb‘ ist aber was anderes als ‘Ich liebe dich.’ Und ‘Ick leev die‘ kann man überhaupt nicht sagen. Das geht nicht. (...) Macht uns zu schaffen zum Beispiel im Augenblick in der Begegnung Faust – Gretchen, wo sie an der Blume abzählt ‘Er liebt mich, er liebt mich nicht...‘, so, wie drücken wir das aus? ‘Hei mach mie gern’ ist bei weitem nicht das, was sich abspielt."

"Es gibt im Verhältnis Faust und Gretchen viele Niedlichkeiten und Lieblichkeiten in der Niederdeutschen Fassung, und wir wollten das Ganze durchaus erotischer machen, wie es auch bei Goethe angelegt ist, da haben wir bestimmte Textstellen modifiziert, soweit die Sprache das hergab."

Goethe, behauptet Regisseur Frank Grupe, war in Wirklichkeit viel derber und deftiger, als es so manch ein Germanist gerne hätte.

"Vieles eignet sich dabei sehr fürs Volkstheater, gerade so etwas wie das Vorspiel auf dem Theater, das ist ein gefundenes Fressen für jeden Theatermacher, und auch in der Plattdeutschen Fassung sehr, sehr handfest und schön geworden."

"Es wird vermutlich jeder unserer Zuschauer gewisse Zitate wieder erkennen."

Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen!

"Mit Snacken Fründ is nich viel daan, nu will dat Publikum wat sehn. Am Anfang stun de Theorie, nun doat wat für de Poesie. (...) das ist relativ nah, zumindest vom Sinn, an Goethe."

Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.

"Da sto ick nu, ick arme Narr, und wüßt gern wat ick davon har. (...) Hochdeutsch hieße das zurück übersetzt: Da steh ich nun, ich armer Narr, und wüsste gern, was ich davon habe. Das ist natürlich nicht ganz im Goetheschen Sinne, aber es erschließt sich sicher aus den nächsten Zeilen, die da lauten: ‘Bün nu Magister, bün Doktor gar .... un heel bescheeten.‘ Damit wird das letztendlich, was bei Goethe in den ersten Zeilen gesagt wurde, nachgeholt, und es endet eben mit dem letzten sehr Kräftigen, sehr Deftigen: Am Ende ist all unser Wissen ein bisschen gar nichts und sehr beschissen."

Das also war des Pudels Kern!

"Dat also wär die Kaan von mien Köter."

Vorhin war sie die Entenmutter in der plattdeutschen Version der "Vogelhochzeit" für Kinder, später wird sie im Rockmusical "Rock oop Platt" einen Hit von Marianne Rosenberg singen – und jetzt sitzt Beate Kiupel in einer viel zu großen Probenjacke in der Rolle des Schülers bei Faust.

"Wie ist das eigentlich, soll ich da tiefer sprechen, soll ich sprechen wie ich bin?"

"Also nicht etwas künstlich herstellen, du kannst natürlich deine unterste Lage bringen... also wirklich gucken, den Jungen zu spielen."

"Ja."

Anders als Joachim Bliese und Uwe Friedrichsen gehört Beate Kiupel zum festen Ensemble des Ohnsorg-Theaters. Sie ist stolz auf den plattdeutschen Faust.

"Das ist natürlich schon ein großes Ding. (...) Das erfordert für viele, auch für unsere Malsäle und für die Ausstattungsbereiche viel, viel Kraft. Aber das ist es wert. Weil das Publikum uns dann als Ohnsorg-Theater immer noch mehr zu schätzen weiß als es das sowieso schon tut."

Beate Kiupel kennt ihr Publikum. Weiß, wie es reagiert und was es vom Ohnsorg-Theater erwartet.

"Ich meine, viele kennen ja den Faust und wie’s ausgeht, aber so vom Herzen her würden glaube ich einige sich wünschen, dass die beiden sich kriegen. Doch. (...) Und wenn denn so eine richtige Hamburger Mutti sacht, och, schade, heut’ hamse sich nich gekricht, das is aber schade, tief in ihrem Herzen würde die Leute glaube ich gerne mal ein anderes Ende sehen."

Zuschauer, deren Moralvorstellungen sich von denen des Dichters gravierend unterscheiden – die gab’s schon mal in Hamburg. Auf St. Pauli. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

"Man darf ja nicht vergessen, dass damals in diesem Theater in St. Pauli alle möglichen Menschen als Publikum kamen. Das waren zum Teil Seeleute, das waren Gemüseleute aus den Vierlanden, das war alles Mögliche. (...) Bis zum Hafenarbeiter, bis zur Putzfrau, und die hatten natürlich ein ganz intaktes Gefühl für das, was rechtens und nicht rechtens ist. Und da waren sie natürlich nicht damit einverstanden, dass Faust sich einfach aus dem Staub macht."

"Find’ ich himmlisch. Ich finde das toll, wenn das Publikum so mitspielt und sich so berufen fühlt einzugreifen, find ich herrlich!"

"Da haben die – damals waren ja Bierflaschen in den Vorstellungen noch erlaubt - mit den leeren Flaschen gegen den Vorgang geschmissen und haben einen richtigen Skandal gemacht. Randale gemacht. Und haben immer geschrieen ‘Hei schall her heiroten!’, ‘Hei schall her heiroten!’"

"Also einen veränderten Stückschluss hat man seit meiner Zeit in diesem Hause noch nie eingefordert, und ich hoffe, das bleibt auch so."

"Und nun wussten die sich nicht zu helfen und haben in ihrer Not dann schnell ein paar Gemüsekisten genommen, haben ein Handtuch drüber gedeckt, einer verkleidete sich als Priester, und Gretchen und Faust wurden getraut. Und die Leute gingen zufrieden aus dem Haus."

"Ich weiß jetzt schon, dass das Publikum am Schluss das sehr ernsthaft aufnehmen wird, dessen bin ich ganz sicher, es wird eher sehr lange Stille geben und der erwartete Applaus wird sich hoffentlich einstellen, wenn auch etwas später, dennoch haben wir immer wieder diese Erfahrung, und sie wird auch im Faust nicht an uns vorbeigehen, dass Leute einen Kommentar abgeben. Ganz lauthals. Das macht auch den Reiz dieses Theaters aus. (...) Ja, nu man zu, nu mach doch mal, so was kann schon vorkommen, sogar auch auf plattdeutsch, wir erleben das durchaus immer gern, weil wir die innere Anteilnahme unseres Publikums sehen. Das war in alten Zeiten, bei Shakespeare und bei Molière auch nicht anders, und wir haben immer noch das Glück, dass ein Publikum sich gelegentlich mal einmischt."