Heinz Helle: "Die Überwindung der Schwerkraft"

Mein Bruder, der Alkoholiker

Buchcover Heinz Helle: „Die Überwindung der Schwerkraft“, im Hintergrund ein herbstlicher Wald.
Buchcover Heinz Helle: „Die Überwindung der Schwerkraft“ © Suhrkamp / AP
Heinz Helle im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.10.2018
"Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb", so beginnt Heinz Helles Roman. Obwohl der Erzähler sich vom Alkoholismus seines Bruders abgestoßen fühlt, bewundert er ihn. Dieses Hin-und-her-gerissen-Sein sei der Kern ihrer Beziehung, sagt Helle.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Heinz Helle ist Jahrgang 1978, er ist promovierter Philosoph, hat als Werbetexter gearbeitet, war schon Mitte 30, als er sein literarisches Romandebüt gab, das sogleich für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, das zweite Buch stand 2015 auf der Kandidatenliste für den Deutschen Buchpreis. Viel Aufmerksamkeit also, die jetzt auch wieder da ist für den jüngsten Titel, "Die Überwindung der Schwerkraft". Heinz Helle lebt in der Schweiz und sitzt dort für uns in einem Studio in Zürich, guten Morgen, Herr Helle!
Heinz Helle: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Ein über 200 Seiten durchgeschriebener Text, ohne Kapitel, ohne einen einzigen Absatz, in einer Art Erzählbewusstseinsstrom – das ist Ihr Roman erst mal äußerlich. Herr Helle, hat da Ihr Verlag, Ihr Lektor nicht doch ein bisschen gezuckt, oh, lieber Heinz, das ist doch ganz schön schwierig für Leser?
Helle: Jein. Zunächst mal ist das Schöne an dem Verlag, dass es darum geht, dem Werk gerecht zu werden. Unser gemeinsames Ziel war, herauszufinden, was die optimale Form ist für das, was da erzählt wird. Und ich glaube, schwierig war es für meinen Lektor nur, weil ich meine Meinung da auch immer mal wieder ein bisschen geändert habe. Aber …
Scholl: Auf Namen verzichten Sie ja auch noch ziemlich!
Helle: Genau! Aber am Ende war es so, sobald ich mir klar war, wie das sein muss, ist er mir da gefolgt.
Der Schriftsteller Heinz Helle in seinem Haus in Zürich.
Der Schriftsteller Heinz Helle in seinem Haus in Zürich.© dpa / picture-alliance
Scholl: Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb. Das ist der erste, echt muskulöse Satz. Ging es mit diesem Tusch los für diesen Durchmarsch, war die Form, der Ton damit gesetzt?
Helle: Nein, der erste Satz kam tatsächlich eigentlich ziemlich am Schluss. Aber der Fluss hat sich im Laufe des Schreibens natürlich entwickelt. Das ist bei meiner Arbeit immer so, dass ich eine ganze Weile schreibe, Sätze baue, Sprache anordne, umbaue, ohne wirklich zu wissen, wo das hinführt. Und deswegen ist es dann konsequent eigentlich, den Anfang ganz am Schluss zu schreiben.
Scholl: Ich meine, an einer Stelle habe ich wirklich mal gezählt: Da geht ein Satz los mit "Weißt du noch, wie wir im Wald gespielt haben?", und dann kommen glatte 45 Zeilen, bevor der nächste Punkt kommt. Haben Sie solche Passagen dann wirklich so durchgeschrieben, so in einem Schwung?

"Schreiben hat fast etwas Musikalisches"

Helle: Nein. Beziehungsweise, es gab dann wahrscheinlich schon mal eine erste Fassung, die dem nahekam, aber es wurde viel gebaut an jedem Satz und bis in die Silbenzahl wurde darauf geachtet, dass der Rhythmus stimmt, dass man dem gut folgen kann trotz der Komplexität der verschwimmenden Zeitebenen und Orte. Für mich ist das Schreiben und nachher das Arrangieren, das Ganze hat auch fast etwas Musikalisches.
Scholl: Da sind wir beim Thema. Verwickelte Zeiten, auch verwickelte Verhältnisse. Es geht um zwei Brüder, der eine, der Jüngere erzählt vom Älteren, der vor sieben Jahren gestorben ist. In welchem Verhältnis standen die beiden zueinander, wie würden Sie es charakterisieren?

Ambivalente Bruder-Liebe

Helle: Der Jüngere hat den Älteren bewundert. Es gab einerseits so eine Art Liebe und den Wunsch auch, dem Älteren zu entsprechen und ihm zu gefallen, gleichzeitig gab es auch aus Sicht des Jüngeren ein Sich-abgestoßen-Fühlen von der Krankheit, von dem zunehmenden Alkoholismus, der zunehmenden Rücksichtslosigkeit, wenn er ihn dann nachts besucht und ihn zum Trinken aus der Wohnung zerrt quasi. Diese Ambivalenz ist der Kern dieses Verhältnisses, dieses Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen da sein wollen für den älteren, kranken Bruder und gleichzeitig die eigene Haut retten wollen.
Scholl: Stichwort Alkoholismus. Der erste Teil des Buches, so circa 80 Seiten, besteht aus einer wilden Zechtour der beiden Brüder, wo vor allem der ältere sich eben so zeigt als eine Art, ja, wütender Schmerzensmann, der an der Schlechtigkeit der Welt leidet, mit ihr hadert. Sie haben ihn selbst mal, Herr Helle, einen verzweifelten Optimisten genannt, der sich dann aber jedenfalls immer ordentlich zuschüttet. Es heißt ja, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit, aber es gibt ja auch so dieses besoffene Monolog-Gelalle, das man in vermutlich jeder Kneipe dieser Welt beobachten kann, wenn man am Tresen sitzt. Warum haben Sie diese beiden Jungs ausgerechnet saufen geschickt?

"Ich war es leid, die Welt schlecht zu finden"

Helle: Na ja, ein Grundimpuls, warum ich das geschrieben habe, war, dass ich es leid war, die Welt schlecht zu finden, und selbst meine eigene Angst und meinen aufkommenden Zynismus überwinden wollte. Und es ist mir bewusst geworden, dass es gar nicht so einfach ist, affirmative, positive Aussagen über unsere Gegenwart zu machen, ohne trivial zu klingen oder naiv. Und deswegen war die Figur des Trinkers für mich dann eigentlich ein … Das war dann so ein Aha-Moment, als ich dachte: Wenn das jemand sagen kann und man hört ihm trotzdem zu, auch jetzt aufgrund der speziellen Brüder-Situation hier, dann ein Besoffener. Eben, weil, wie Sie sagen, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Und auch wenn die viel Unsinn noch nebenbei reden, kommt dann das Wahre, was sie sagen, möglicherweise stärker zur Geltung, als wenn es ein angeblich rational denkender, aufgeklärter Erwachsener sagen würde, dem man dann Naivität unterstellen würde oder mangelnden Realismus.

Philosophischer Monolog über den Mörder Dutrox

Scholl: Herr Helle ist einer, dem die Schlechtigkeit der Welt, die Katastrophen, die Kriege, die Bösartigkeit von Menschen besonders an die Nieren gehen. Darüber kann er endlos reden, zum Beispiel über den Fall Marc Dutroux, diesem belgischen Mörder und Kinderschänder. In den 1990er-Jahren haben seine Verbrechen die gesamte Welt erschüttert. Dieser Ihr Bruder, Herr Helle, schraubt sich nun förmlich hinein in diese Details der Gewalt, der Grausamkeit. Und das ersparen Sie uns auch nicht als Autor. Was hat es denn damit auf sich, warum gerade dieser Fall?
Helle: Der große Bruder macht quasi so einen Dualismus auf zwischen dem radikalen Individualismus und dem Kollektivismus oder dem Totalitarismus. Und für ihn sind das quasi so zwei Pole, zwischen denen wir uns bewegen. Und Marc Dutroux als jemand, der ohne irgendwelche Skrupel seine persönlichen Interessen durchsetzt, es ist ja auch unklar, ob das nun wirtschaftliche Interessen waren oder auch sexuelle, das wäre bei ihm die eine Seite des Kontinuums, und auf der anderen stünde dann quasi der NS-Staat. Und er meint, der betrunkene große Bruder, wenn wir als Gesellschaft Zukunft haben wollen, dann müssen wir uns eigentlich in der Mitte aufhalten. Wir dürfen nicht zu sehr ein Kollektiv werden, wo das Individuum untergeht, wir dürfen aber auch zu rücksichtslos und egoistisch werden.

Wenn es keine Regeln und Grenzen mehr gibt

In seiner Logik wäre das dann so eine Art Marc Dutroux, für den keinerlei Regeln des menschlichen Zusammenlebens gelten. Und ein anderer Grund, warum es genau dieser Fall ist, ist, das ist ein bisschen analog zu der Frage nach Gott, die Iwan Karamasow stellt in den "Brüdern Karamasow". Der sagt, er kann das Leid der Menschen akzeptieren, nur das Leid der Kinder nicht. Und analog dazu wäre auch hier, warum müssen gerade Kinder die Opfer sein und gibt es denn nicht wenigstens da eine Grenze, die jeder Mensch respektieren kann? Das ist der andere Aspekt, der diesen Dutroux-Fall aus Sicht des älteren Bruders so repräsentativ macht.
Scholl: Das sei die letzte, die einzig edle Aufgabe eines Erwachsenen, einem Kind zu erzählen, dass alles gut werde, dass man es beschützt und es keine Angst haben muss, sagt der eine Bruder. Sie haben auch eine kleine Tochter, Herr Helle. Ich habe mal eine Notiz von Ihnen gelesen, dass, seitdem Sie Vater seien, Ihnen das Leid der Welt immer noch mehr unter die Haut geht als früher. Hat das auch eine Rolle gespielt bei diesem Roman?

Fragwürdiger Rückzug in das heile und ungestörte Zu-Hause-Sein

Helle: Ja, gewiss. Ich hatte ein paar Monate, wo ich das Gefühl bekam, jetzt sei mein Leben eigentlich in Ordnung, ich habe jetzt ein Kind und kann mich voll und ganz darauf konzentrieren und nur noch mit diesem Kind sein und mich in meine kleine Welt zurückziehen. Und dann kam mir das irgendwann unaufrichtig vor und ich dachte, das entspricht nicht der Wahrheit, das ist eine Art des Rückzugs und der Verdrängung, die so viel von der Wirklichkeit negiert, dass ich mehr und mehr zu so einer Glücksreproduktionsmaschine werde, also dass ich gar nicht mehr Mensch bin, gar nicht mehr am Leben bin im eigentlichen Sinne, obwohl ich mich natürlich allein mit meiner Tochter oder mit meiner Frau und meiner Tochter in diesem Momenten. Das war natürlich das heile und ungestörte Zu-Hause-Sein.
Aber irgendwann kam der Moment, wo ich zurück musste in die Welt. Und das miteinander in Einklang zu bringen, war auch ein Impuls, diesen Roman zu schreiben, zusätzlich zu der Tatsache, dass die Geburt meiner Tochter ziemlich genau ein Jahr nach dem Tod meines älteren Bruders sich ereignete. Also es gab da so eine Phase in meinem Leben, wo ich an der Schwelle stand, einen großen Teil der Welt permanent auszublenden aus meinem Leben, und ich hatte das Gefühl, dann bin ich nicht mehr Mensch. Und gleichzeitig hatte ich den Anspruch, trotzdem an den Menschen zu glauben und an das Gute zu glauben. Und so naiv das jetzt klingt, wenn man das so sagt, das ist ja auch ein Grund, warum ich das in dem Roman den Betrunkenen sagen lasse: Das war eigentlich die Initialzündung für das Projekt, eine Möglichkeit zu finden, die Wirklichkeit wieder unter Kontrolle zu bekommen, ohne sie selektiv zu behandeln wie einen Facebook-Algorithmus.

Berührende Szene am Altglas-Container

Scholl: Am Ende – man darf das verraten, glaube ich – steht das rührendste Bild, das ich jedenfalls seit Langem gelesen habe, der jüngere Bruder mit seiner Tochter beim Altglascontainer. An der einen Hand hat er die Kleine, mit der anderen wirft er die Flaschen rein und gemeinsam hören sie, wie es klirrt. Wenn das mal nicht mitten aus Ihrem Leben gegriffen war, oder, Herr Helle?
Helle: Ja, das könnte sein, es gibt in der Nähe so einen Container bei uns.
Scholl: Ich habe mir ganz viele Sätze rausgeschrieben, zum Beispiel: "Man tut, was man kann. Man scheitert, macht weiter oder eben nicht, versucht dann vielleicht mal was anderes oder auch noch mal das Gleiche, und irgendwann kommt dabei vielleicht etwas heraus", ja, wie dieser famose Roman etwa von Ihnen, Heinz Helle, "Die Überwindung der Schwerkraft" im Suhrkamp Verlag erschienen mit 200 Seiten zum Preis von 20 Euro. Herr Helle, danke schön, dass Sie bei uns waren, alles Gute Ihnen!
Helle: Ich danke Ihnen, Herr Scholl, alles Gute!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Heinz Helle: "Die Überwindung der Schwerkraft"
Suhrkamp Verlag, 200 Seiten, 20,00 Euro.

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