Heinz Bude über ostdeutsches Wahlverhalten

"Das Problem ist nicht durch mehr Geld zu lösen"

07:10 Minuten
Der Soziologe Heinz Bude mit kleinem Mikrofon bei einer Veranstaltung
Der Soziologe Heinz Bude © imago/Horst Galuschka
Heinz Bude im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 28.05.2019
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Der Westen hat bunt gewählt, der Osten AfD? So einfach ist es nicht, sagt der Soziologe Heinz Bude. Städte wie Leipzig oder Jena hätten anders abgestimmt. Laut Bude brauche Ostdeutschland nicht mehr Geld, sondern eine positive Idee.
Nach der Europawahl lässt sich nach den Worten des Soziologen Heinz Bude kein einheitliches Wahlverhalten in den ostdeutschen Bundesländern feststellen. Vielmehr sei auch dort eine Fragmentierung sichtbar geworden: So würden die Ergebnisse zeigen, dass auch in Leipzig und Jena "dieses neuere, jüngere urbane Milieu Fuß gefasst" habe, so Bude im Deutschlandfunk Kultur.
"Blaue Milieus" – also AfD-Wähler – seien vor allem in den Grenzregionen zu finden, etwa in Görlitz. Aus den "schwierigen Zahlen" der Stadt, wo demnächst ein AfD-Politiker Oberbürgermeister werden könnte, zieht Bude einen Schluss:
"Das Problem ist nicht durch mehr Geld zu lösen. Noch mehr Geld als nach Görlitz geht gar nicht mehr. Das Thema Ost-West ist keine Frage des finanziellen Ausgleichs mehr. Das machen sich viele Politiker vor, das wird erzählt, aber das ist falsch. Es ist auch falsch zu glauben, es sei ein Thema von Vergangenheitsbewältigung, also Treuhandpolitik oder irgend so etwas. Das ist auch eine ganz falsche Strategie."

Das große Thema des Ostens

"Es sind überhaupt nicht die Abgehängten und Frustrierten", meint Bude, der an der Universität Kassel lehrt. Aus seiner Sicht liegt das "große Thema des Ostens" in einem anderen Aspekt:
"Man braucht eine Idee, auch im Osten eine Idee, wo man aus dieser negativen Integration in die Bundesrepublik rauskommt. Und diese Idee muss irgendwie sein, dass der Osten eine bestimmte und auch positiv bestimmbare Rolle in einem Projekt Deutschland spielt. Das ist die entscheidende Frage."
Sozial- uind Christdemokraten, aber auch Grüne ließen die Ostdeutschen in dieser Frage allein, so Bude:
"Die schreien geradezu nach einer Funktions-, einer Bedeutungsbestimmung in einer veränderten Lage in Deutschland, in der deutschen Gesellschaft – und kriegen immer nur die Antwort: Ihr seid ein Subventionsgebiet. Und das geht so nicht weiter."
(bth)

Über Budes Thesen haben wir auch in der Sendung "Der Tag mit Albrecht von Lucke" gesprochen. Der Journalist findet Bude zu "paternalistisch": Audio Player


Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Der Wahlzettel am Sonntag zur Wahl des Europäischen Parlaments, der war – Sie erinnern sich – fast einen Meter lang. Immer mehr Klein- und Kleinstparteien warben da um Stimmen. Das Parteienspektrum, es ist zersplittert und polarisiert, und es verändert sich rasant, nicht nur hier, sondern in allen EU-Staaten. Aber es gibt, grob und etwas vereinfacht betrachtet, zwei Lager: die einen, die weniger EU, weniger Öffnung und mehr Nationalismus wollen, die anderen, die pro Europa sind, die auch merken, dass die EU gefährdet ist, wenn man nur an Großbritanniens wann auch immer bevorstehenden Ausstieg aus der EU denkt.
Woran liegt das, dass sich soziale Milieus und Altersgruppen so deutlich in ihrem Wahlverhalten unterscheiden? Das wollen wir jetzt wissen von dem Soziologen Heinz Bude. Er ist Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel und befasst sich seit Jahren mit der Spaltung der Gesellschaft. Jetzt ist er am Telefon. Schönen guten Morgen!
Heinz Bude: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!

Dringlichkeit und Beschwichtigung

von Billerbeck: Ist die Analyse des Wahlverhaltens für Sie als Soziologie diesmal besonders interessant, weil sich so viel tut, oder stehen Sie den Ergebnissen eher ratlos gegenüber?
Bude: Nein, nein, ich finde sie besonders interessant, weil ich deutlich sehe, dass es einen neuen Sortierungsbedarf, nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern auch in den europäischen Gesellschaften, gibt.
Bleiben wir mal bei der Frage der jüngeren Wählerinnen und Wähler. Da ist ja nun deutlich gewesen, dass die zu den Grünen mehrheitlich gegangen sind, wobei mehrheitlich schon so eine Sache ist. Wir sprechen sicherlich dabei von Wählerinnen und Wählern, die – ich sage es mal sehr pauschal – mindestens Abitur haben. Das heißt, das sind Gruppen, die durchaus sensibel für politische Fragen sind, aber – und das gilt, glaube ich, für alle europäischen Gesellschaften – diesen Knoten aus Dringlichkeitsappellen und Beschwichtigungsstrategien im Grunde durchschlagen wollen.
Ansicht des Görlitzer Obermarkts an einem Tag mit blauem Himmel
Die Stadt Görlitz© imago/F. Berger
Die haben das Gefühl, wir sind aufgewachsen mit dem Thema des Klimawandels, und es wird von allen Seiten gesagt, jetzt müssen wir nun endlich was tun, und immer wieder sagen dann welche, das lässt sich technologisch lösen, CO2-Verpressung, oder fatalistisch: Was können wir in dem kleinen Europa eigentlich machen, in der ganzen Welt, oder auch, dass es durch eine Lebensstiländerung zu machen ist.
Dies alles ist nicht einleuchtend, und die jungen Leute sagen, wir wollen jetzt eine politische Botschaft oder eine politische Strategie oder irgendetwas haben, wo dieses Verhältnis von Dringlichkeit und Beschwichtigung durchstoßen wird. Das ist ein riesiges Thema, glaube ich.
Das zweite große Thema, was wir auch in Deutschland haben, ist das ganze Thema von nationaler Nostalgie und sozialer Verzweiflung. In Großbritannien ist das ein Riesenthema. Also die ganze Frage des Brexits hat damit zu tun. Wenn Sie in den nördlichen Teilen Großbritanniens unterwegs sind, sehen Sie, da ist die Armut und die Abgeschlagenheit im Grunde mit Händen zu greifen, und dann ist natürlich die Idee einer nationalen Nostalgie – Great Britain again und all sowas – psychologisch sehr verständlich. In Deutschland sieht das ein bisschen anders aus.
von Billerbeck: Sie machen hier gerade einen Parforceritt durch das ganze Programm. Das einzige, was ich jetzt so rausgehört habe, es wurde so schlicht gesagt, die Jungen haben Bündnis 90/Grüne gewählt und die Alten AfD, um es mal so ganz platt auf den Punkt zu bringen, oder CDU. Sie haben aber sehr deutlich unterschieden, dass es das junge gebildete großstädtische Milieu ist, –
Bude: So ist es.

"Das Thema Ost-West ist keine Frage des finanziellen Ausgleiches mehr"

von Billerbeck: – das da gewählt hat, Grün gewählt hat vor allem. Gucken wir mal auf die andere Seite, wenn man sich die Karte – bleiben wir in Deutschland – nur mal anguckt und die politischen Farben verteilt, dann ist ganz viel im Osten Deutschlands blau, im Westen ganz viel schwarz, dann gibt es ein paar rote Punkte und ein paar grüne Punkte. Wie schätzen Sie das ein?
Bude: Das ist das zweite ganz große Thema, was jetzt ansteht. Ich glaube, erst mal muss man feststellen, dass der Osten sich auch fragmentiert. Wir haben die Zahlen aus Leipzig, wir haben die Zahlen aus Jena, die deutlich machen, dass da auch dieses neuere, jüngere urbane Milieu Fuß gefasst hat. Also wer nach Leipzig fährt von Berlin aus, auch das ist überdeutlich – man merkt das schon, wenn man aus dem Bahnhof kommt –, dass das irgendwie eine andere Stadt ist, übrigens anders als Dresden, ist zu fühlen. Das merkt jeder, der einigermaßen mit offenen Augen durch diese Stadt geht.
Der zweite Punkt ist natürlich gleichzeitig, wir haben diese blauen Milieus vor allen Dingen in den Grenzregionen, und da ist jetzt eine Sache, die mir sehr, sehr deutlich geworden ist, die mit dieser Wahl ganz klar ist: Wenn Sie sich nur mal die doch schwierigen Zahlen aus Görlitz angucken, dann können Sie zwei Konsequenzen ziehen, nämlich erstens: Das Problem ist nicht durch mehr Geld zu lösen, also ich meine, noch mehr Geld als nach Görlitz geht gar nicht mehr.
Das Thema Ost-West ist keine Frage des finanziellen Ausgleiches mehr. Das machen sich viele Politiker vor, und das wird erzählt – ist falsch. Die zweite Frage, es ist auch falsch zu glauben, es ist ein Thema von Vergangenheitsbewältigung, also Treuhandpolitik oder irgend so etwas. Ist auch eine ganz falsche Strategie. Das wird jetzt immer deutlicher.

Schrei nach Bedeutung für den Osten

von Billerbeck: Es sind also nicht die Abgehängten und Frustrierten.
Bude: Es sind überhaupt nicht die Abgehängten und Frustrierten. Das große Thema des Ostens ist – das ist, glaube ich, mit dieser Wahl sehr deutlich geworden –, man braucht eine Idee, auch im Osten eine Idee, wo man aus dieser negativen Integration in die neue Bundesrepublik rauskommt, und diese Idee muss irgendwie sein, dass der Osten eine bestimmte und auch positiv bestimmbare Rolle in einem Projekt Deutschland spielt, und das ist die entscheidende Frage, und da wird sowohl von den Sozialdemokraten wie von den Christdemokraten, meinetwegen sogar auch von den Grünen, da wird der Osten alleine gelassen in dieser Frage.
Die schreien geradezu nach einer Funktions-, einer Bedeutungsbestimmung in einer veränderten Lage in Deutschland, in der deutschen Gesellschaft, und kriegen immer nur die Antwort, ja, ihr seid ein Subventionsgebiet. Das geht so nicht weiter.
Ich glaube auch, die ganzen Debatten über die Fortführung des Solidarpakts 2 oder Nicht-Fortführung, ich bin doch einigermaßen verzweifelt, dass die Gelegenheit nicht genommen wurde, um dieses Thema so herauszustellen. Ich finde, auch die ostdeutschen Ministerpräsidenten machen da keine gute Figur, weil sie das Problem nicht richtig benennen. Das ist jetzt da, und da muss man anders drüber reden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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