Heimweh nach Waldhausen

Meine Familie und die Flucht

Flüchtlinge auf dem Weg von Mazedonien in ein Camp nahe der serbischen Stadt Presevo.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung hört nicht auf: Am 20. Juni ist der Weltflüchtlingstag. © EPA, dpa picture-alliance
Von Katrin Albinus · 06.06.2016
Welche Verbindung gibt es zwischen den heutigen Flüchtlingen und den deutschen Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges? In ihrer Reportage sucht Katrin Albinus Antworten auf diese Frage: Sie ist mit ihrer Familie in die frühere ostpreußische Heimat gereist.
"Diese Trecks, diese unendlichen Trecks, die ganze Zeit haben wir die Trecks überholt, aber du konntest nicht sehr schnell fahren..."
Ich gehe mit meinem Vater Georg, 78 Jahre alt, am Strand der Ostsee entlang, 40 Kilometer westlich von Kaliningrad. Wir sind auf einer Reise in die Vergangenheit meiner Familie. Für meinen Vater sind es Erinnerungen an die Flucht im Jahr 1945.
Für mich ist es aber auch ein Blick in die Gegenwart. Vertrieben, den eigenen Wurzeln entrissen – was macht das mit Menschen? Auch noch nach so langer Zeit. Mein Vater blickt mit mir auf das offene Meer und erinnert sich an einen bitterkalten Januartag 1945. Georg ist eines von elf Kindern, die gemeinsam mit drei Frauen auf der Ladefläche eines LKWs auf der Flucht waren.
"Wir durften auch nicht mehr rausgucken. Zu Anfang haben wir hinten die Plane zurück gekippt und dann geguckt. Und dann haben die Mütter gesagt, wir sollen dahinten zu machen und nicht wieder raus gucken."
Mein Vater, damals ein Junge von sieben Jahren, sieht auf den Straßen Leichen liegen. Es ist das erst Mal, dass ich erlebe, wie nah ihm die Ereignisse wirklich gegangen sind.
"Also dann kam noch mal diese ganze Chose hoch. Es ist schön, dass wir das überlebt haben."

Ein Ölbild mit dem Gutshaus von Waldhausen

Mir wird klar, wie traumatisch die Flucht für ihn gewesen sein muss. Bislang waren es für mich schwarz-weiß Fotos und Fernsehbilder aus einer längst vergangenen Welt.
Nur der Heimatort meines Vaters ist mir farbig in Erinnerung. Von einem Ölbild, dass bei uns über der Haustür hing. Das Gutshaus in Waldhausen, eng umstanden von dunklen Tannen. Düster und schwer. Als kleines Mädchen fand ich es unheimlich. Für meinen Vater bedeutete es seine Kindheit. Jetzt sind wir mit einem Bus auf dem Weg dorthin. 30 Familienmitglieder aus halb Deutschland. Mein Vater ist nervös. Genau wie sein Bruder. Mein Onkel Eberhard. Beide sitzen ganz vorne im Bus. Eberhard ist der Ältere, auch er hat Waldhausen nie vergessen.
"Hier links war die lange Scheune, davor hier der runde Turm, das war der Silo, und hier links sollte das Waldhauser Haus sein."
Angespannt schaut Eberhard auf ein kleines Waldstück, gleich dahinter sollte das Gutshaus stehen.

Ein neues Leben in Norddeutschland

Mein Vater wurde nach dem Krieg Holzkaufmann, Onkel Eberhard Maschinenbau-Ingenieur. Sie haben sich ein neues Leben in Norddeutschland aufgebaut, mir eine weitgehend unbeschwerte Kindheit ermöglicht.
Ich möchte von meinem Onkel wissen, was ihm durch den Kopf geht, wenn er in den Nachrichten die Bilder von Flüchtlingstrecks sieht. Ob es für ihn Ähnlichkeiten gibt zwischen der eigenen Geschichte und den Flüchtenden von heute.
"Im gewissen Sinne nicht. Zunächst erst mal hat es da keine Okkupation von Außen gegeben. Es ist alles von innen heraus passiert."
Und deswegen dürfen die Leute da nicht weggehen und woanders Schutz suchen?
"Die Frage ist: warum lasse ich mich eigentlich in meinem eigenen Land dazu anstiften? Die alle da, die da Riesenprobleme haben, die kommen jetzt hier hin, und wenn es ihnen hier nicht passt, machen sie hier bei uns die gleichen Probleme, wie sie die da gemacht haben. Ich sage ja nur: hätten sich ja mal wirklich die einzelnen Gruppen - wie zu Zeiten der DDR – gesagt: Wir machen einen runden Tisch. Und da sorgen wir dafür, dass wir uns nicht an die Köppe kriegen, dass nicht geschossen wird, sondern dass wir die Revolution friedlich machen. Und das könnte man auch in dem Land machen..."

"Wenn akute Not da ist, muss man helfen"

Für mich eine absurde Vorstellung. Aber vielleicht erlaubt sie ihm Distanz zu halten, zu den aktuellen Flüchtlingsschicksalen. Eberhards Sohn Christian, 44 Jahre alt, spreche ich später noch einmal darauf an. Er sagt:
"Wenn akute Not da ist, muss man auch helfen. Ich wäre mit meinem familiären Hintergrund und mit meinem Verständnis, wäre das auch ein Verrat an der eigenen Tradition oder an der eigenen Geschichte. Jetzt da zu sagen, da muss man hartherzig sein, und zu sagen nein: wir ziehen neue Grenzen. Denen darf ich aus meiner Sicht, aus zweierlei Sicht - auf der einen Seite aus christlicher Nächstenliebe und auf der anderen Seite vor dem Hintergrund der eigenen Familienbiografie - nicht die Tür vor der Nase zuklappen."

Weltanschauliche Differenzen in der Familie

Unsere Reise an die Orte der Kindheit meiner Vorfahren offenbart, dass die Gräben zur aktuellen Weltlage sich auch durch unsere Familie ziehen. Meine Tante Kathrin ist die Schwester von Eberhard und meinem Vater Georg. Auf der Flucht war sie gerade einmal ein Jahr alt. Sie ist pensionierte Lehrerin und gibt Syrern heute Deutschunterricht.
"Das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, da zu helfen. Uns wurde geholfen. Uns ist ja geholfen worden. Also wir haben Glück gehabt, und ja, nun verschaffen wir den anderen vielleicht auch mal ein kleines Stückchen Glück."

Das berühmte Haus der Kindheit

Auf der restlichen Reise geht die Familie dem Thema aus dem Weg. Onkel Eberhard sehnt sich vor allem nach Waldhausen. Für ihn steht das im Mittelpunkt. Unser Reisebus hält an der Stelle, wo das berühmte Haus der Kindheit stehen soll.
"Da gerade aus steht das Gutshaus, und die Steine drauf. "
Das Gutshaus? Welches ist denn das Gutshaus?
Da sind die Ziegelsteine drauf gelagert. Und hier rechts....
Dieser Steinhaufen? Ohne das Dach, oder was?
Ja! Das ist nur Fundament.
So und da unten ist der frühere Teich..."
Vom alten Familienhaus ist kaum etwas übrig. Für meinen Onkel sicher ein Schock. Aber er lässt sich nichts anmerken. Auch mein Vater gibt sich gefasst. Auf dem Weg zurück nach Hamburg denke ich viel darüber nach, wie es ihnen auf der Flucht ergangen ist. Wie der Verlust von Heimat Menschen begleitet – ein Leben lang.
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