Heimliche Kulturhauptstadt der Lateinamerikaner

"In Berlin sind mir Flügel gewachsen"

Berlin hat nach Buenos Aires die zweitgrößte Tangogemeinde der Welt.
Berlin hat nach Buenos Aires die zweitgrößte Tangogemeinde der Welt. © picture alliance / dpa / EPA/CEZARO DE LUCA
Von Peter B. Schumann · 24.11.2018
Zahllose lateinamerikanische Einwanderer haben das Gesicht Berlins geprägt. Zuerst waren es die politischen Emigranten, die hier Zuflucht fanden und auf die unter Diktaturen notleidende Kultur ihrer Länder hinwiesen. Dann entdeckten in demokratischen Zeiten Künstlerinnen und Künstler das kreative Potenzial Berlins.
"In Berlin sind mir Flügel gewachsen" - erklärt z. B. die argentinische Schriftstellerin Maria Cecilia Barbetta stellvertretend für viele andere Autorinnen und Autoren. Cineasten haben hier ihr Handwerk gelernt oder schätzen den freien Geist dieser Stadt, wie der Brasilianer Karim Aïnouz. Und schließlich hat sich Berlin zu dem nach Buenos Aires wichtigsten Tango-Zentrum entwickelt, wo jedoch auch alle übrigen lateinamerikanischen Rhythmen getanzt und gespielt werden.
Berlin beherbergt das kulturelle Zentrum des spanisch- und portugiesisch-sprechenden Amerikas. Keine der zahlreichen ausländischen Communities ist hier kulturell so stark präsent wie die lateinamerikanische. Hier befindet sich das nach Buenos Aires vielfältigste Tangozentrum. Berlin - die heimliche Kulturhauptstadt der Lateinamerikaner in Europa? Davon erzählen wir in dieser Langen Nacht:

Die literarische Szene

"Ich kehrte in dem Augenblick nach Chile zurück, als ich mich Hals über Kopf in Berlin verliebt hatte. Als ich mich in seinen Straßen, seinen Buchhandlungen, Theatern und Kneipen so auskannte, dass ich, obwohl es nicht meine Stadt war, mit aller Natürlichkeit so tun konnte, als ob es sie wäre. Als der Kreis meiner Freunde gewachsen war und die Sommernächte scherzend und philosophierend in den Straßencafés von Schöneberg, Wilmersdorf oder Charlottenburg dahinplätscherten. Als meine beiden Söhne sich leidenschaftlich zwei Dingen, die ich liebe, hingaben: Musik und Lyrik. Als ich anfing, deutsche Witze, die Sprachspiele enthielten, zu begreifen. Als ich gerade dabei war, Romane und Filmdrehbücher zu schreiben, die nicht mehr in Lateinamerika, sondern in Kreuzberg spielten. Als Freunde und Journalisten aus anderen Städten zu Besuch kamen, um einen Tag mit mir zu arbeiten, und dann eine ganze Woche blieben. Ich kehrte nach Chile zurück, als sich die radikalste Rochade in der Politik meiner Stadt ereignete: die hochmütige Yuppie-Tolle Diepgens gegen die üppige Glatze Mompers. Als die Alternativen zur Regierungspartei wurden."

Antonio Skármeta

Der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta
Der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta© picture alliance / dpa / Sebastiao Moreira
Diese Zeilen stammen aus einem Essay, dass Antonio Skármeta 1989 über seinen Abschied von Berlin geschrieben hat. Er ist hier zu einem international bekannten Autor von Erzählungen, Romanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern sowie zu einem Filmregisseur avanciert. Als er 1974 nach Deutschland kam, hatte er in seinem Koffer nicht mehr als drei dünne Bände mit Erzählungen. Der damals 34-jährige war vor der Pinochet-Diktatur zuerst nach Argentinien geflohen. Dann hatte ihn das Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Berlin eingeladen, was für ihn zunächst eine Art Kulturschock bedeutete.
"Ich war ein völlig von der nordamerikanischen Kultur, der Pop-Kultur beeinflusster Chilene, und ich kannte die große deutsche Kultur nicht: die klassische und die romantische Kultur. Also machte ich mich allmählich mit der deutschen Sprache vertraut, begann die Philosophen auf Deutsch zu lesen und vor allem die Lyrik von Heine und Hölderlin. Das hat mein intellektuelles Leben auf wunderbare Weise bereichert. Auch habe ich Berlin immer als eine Stadt voller Dramatik empfunden. Nach dem 2. Weltkrieg gab es hier große dramatische Ereignisse. Um diese Stadt aufrecht zu erhalten, wurde ihr eine Art libertäre Kultur implantiert. Und dieser Exzess an Kultur hat mich fasziniert. Dabei hat mir die Freundschaft vieler Deutscher sehr geholfen: von Intellektuellen und Künstlern, mit denen ich lange zusammengelebt und -gearbeitet habe. Ich bin in ihre Bücher eingetaucht, habe ihre Träume und ihre politischen Probleme kennen gelernt. Und ich habe hier zum zweiten Mal geheiratet, eine Deutsche. Zwei meiner Söhne leben in Deutschland, haben ebenfalls geheiratet und mir inzwischen zwei Enkel geschenkt. Meine intellektuelle und emotionale Bindung an Deutschland ist enorm."

Esther Andradi

"Als ich zum ersten Mal nach Berlin gekommen bin, hat es mir als junge Frau besonders gefallen: ich durfte hier alles machen, was ich wollte, ohne belästigt zu werden. Das war eine Stadt, die absolut frei war für jemanden, der aus Argentinien kam, aus einer schweren Diktatur. Und von Peru, wo ein großer Machismus herrschte, zu kommen, das war für mich eine Erleichterung, eine große Freiheit, die ich hier als Mensch erlebt habe, obwohl die Stadt total eingemauert war."
In Ataliva, einem Dorf in der Pampa, ist sie geboren. Sie hat Publizistik in der Provinzhauptstadt Rosario studiert und ist in den 70er Jahren der Militärdiktatur nach Peru emigriert. Dort herrschte gerade eine progressive Regierung, so dass sie als Journalistin problemlos arbeiten konnte. Mit der peruanischen Poetin Ana María Portugal hat sie in Lima ihr erstes Buch über die Macho-Gesellschaft publiziert: Frau zu sein in Peru. Begeisterte Berichte von Freundinnen führten sie 1982 nach Berlin.
Sie hat als Journalistin gearbeitet, vor allem für die ´Deutsche Welle`, hat eine Tochter zur Welt gebracht und ist 1995 nach Buenos Aires umgezogen, wo ihr deutscher Ehemann eine neue Tätigkeit aufgenommen hatte. Seit 2003 lebt die Familie wieder in Berlin, die Autorin besucht Argentinien jedoch regelmäßig. Von diesem Zwiespalt, der Existenz in zwei Welten, ist ihr Werk geprägt. Deshalb begreift sie sich beispielsweise in ihren Essays, Chroniken und Reportagen als Berlin-Vermittlerin: Sie will die Leser in Lateinamerika an ihren hiesigen Erfahrungen teilhaben lassen. Eine Auswahl dieser Texte hat Esther Andradi in einer Anthologie zusammengefasst. Die deutsche Ausgabe hat den Titel Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel.

Die Themenvielfalt ist groß

Viele lateinamerikanische Autorinnen und Autoren, die sich in Berlin heimisch fühlen, haben ihr thematisches Spektrum weit gefasst und sich auch mit anderen Weltgegenden beschäftigt wie Antonio Skármeta. Oder sie sind ihrem Heimatland verbunden geblieben wie María Cecilia Barbetta, die ihre beiden Romane in Buenos Aires angesiedelt hat. Oder sie haben sich geografisch nicht festgelegt wie der brasilianische Poet Ricardo Domeneck. Die Texte der argentinischen Berlinerin Esther Andradi kreisen dagegen fast ausschließlich um Berlin.
Ricardo Domeneck
Hör zu, wir blassen Poeten
bewegen uns heute
zwischen Pflanzen mit genau
erfasstem Namen
den wir aber nicht kennen
und so verwechseln wir häufig
Vergiss-mein-nicht mit Männertreu
halten Ringelblumen für Ranunkeln
pflücken nicht selten
Bitterwurz statt Balsamkraut.
aus: "Hoch lebe die reine Poesie".
"Ich bin ein Berliner Autor, der auf Portugiesisch, Englisch und Deutsch schreibt. Aber ich betrachte mich zuerst als portugiesisch sprachigen Autor. Ich finde es augenblicklich wichtiger, die Sprache ins Zentrum zu bringen als die Idee von Nation."
Im Mittelpunkt des poetischen Schaffens von Ricardo Domeneck steht die Physis. Deshalb heißt sein erster auf Deutsch und Portugiesisch erschienener Gedichtband Körper: ein Handbuch, dem wir die Texte in diesem Kapitel entnommen haben. Die Bezeichnung Handbuch sollte niemand daran hindern, darin Gedichte zu suchen, denn der Autor breitet eine Vielfalt von Erscheinungsformen des Körperlichen aus: der Körper als Begegnungsstätte der Lust, als Liebesgedicht für Männer, als gesellschaftlicher Konfliktstoff, als poetisches Manifest, als Schauplatz der Welt, die in diesem Poeten steckt.
"Es war für mich immer wichtig, diese Dualität zu überwinden Körper und Geist. Natürlich ist diese Frage für Homosexuelle wichtig, weil wir uns die ganze Zeit damit beschäftigen müssen: das macht ein Junge nicht, besonders in Brasilien, wo diese Grenze so definiert ist. Ich bin damit aufgewachsen. Ich habe mich geschämt, ich hatte Angst vor meinen Eltern, ich hatte Angst vor der Gesellschaft. Als ich mich dann entschieden habe, fand ich es besonders wichtig, diese Grenze zwischen Körper und Geist irgendwie zu zerbrechen. Das war ganz viel Arbeit, mich davon zu befreien, auch von dieser religiösen Idee, dass ich irgendetwas Falsches mache mit meinem Körper, weil mein Körper andere männliche Körper begehrt. Ich finde es wichtig, dass andere Leser, junge Leser sich dadurch auch davon befreien können. Das ist der politische Aspekt."

María Cecilia Barbetta

"Die deutsche Sprache ist meine Geliebte, und ich muss sie erobern, und das versuche ich die ganze Zeit, aber das gelingt mir nicht. Und dass es mir nicht gelingt, macht das Ganze für mich nur noch faszinierender."
María Cecilia Barbetta, Schriftstellerin aus Buenos Aires, seit 1996 in Berlin, Autorin von zwei Romanen, in denen sie auf Deutsch argentinische Geschichten erzählt.
"Ich bin eine Argentinierin, die in Deutschland lebt und auch aus Deutschland nicht wegmöchte. Ich bin eine Argentinierin, die sehr, sehr gerne in der Fremde ist und die in der Fremde nicht wirklich das Eigene sucht. Mein ganzes Umfeld ist deutsch. Aber wenn mir eine Geschichte einfällt aufgrund von Einflüssen, die ich in Berlin finde, transportiere ich all das, was ich erlebe, zurück nach Argentinien. Das ist schon mein Sehnsuchtsort… Das ist sehr widersprüchlich. Aber man kann diesen Widerspruch nicht – wie sagt man – auflösen… Bis jetzt ist es jedenfalls immer so: den Funken, die Inspiration finde ich in Berlin, aber ich führe sie dann zurück."

María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten"
Verlag S. Fischer, Frankfurt 2018, 528 Seiten, 24 Euro

"In Berlin sind mir Flügel gewachsen. Das ist das, was ich immer wieder spüre. Ich habe eine große Liebe für die Mythologie, und ich sehe mich ein bisschen wie ein Doppelwesen. Ich denke an Pegasus, weil das ein Symbol für die Einbildungskraft ist. Es gibt einen Literaturwissenschaftler, Wolfgang Iser, der sagt: bei dem Pegasus, bei diesem Pferd, ist nicht wirklich interessant der Körper und auch nicht die Flügel, sondern die Stelle, in der die Flügel in den Körper ineinander übergehen. Wenn man so will, ist der Körper Argentinien, und die Flügel sind Berlin, aber interessant ist die Stelle, wo sie sich berühren, und das ist die Literatur."

Die filmische Szene - die Anfänge

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Die Cineasten Erika und Ulrich Gregor© Deutschlandradio - Matthias Dreier
"Es gab niemand anderes. Es gab uns, und wir sind eigentlich zu diesen Sachen gekommen, ohne es zu wollen. Es kamen die Filme zu uns, es musste etwas mit den Filmen geschehen, also haben wir es gemacht. Es gab da keinen Vorsatz. Es kamen hoch interessante Filme aus Ländern, von denen wir wenig wussten, und wir fanden, dass sie in unserem Land zirkulieren sollten, und das haben wir gemacht, ohne Vorbereitung, ohne dass uns jemand das gesagt hat: es lag an den Filmen."
So erzählen Erika und Ulrich Gregor über die Gründung der ´Freunde der Deutschen Kinemathek` in Berlin. Und aus diesem Filmclub entwickelte sich alsbald das erste Zentrum des unabhängigen Kinos – und des lateinamerikanischen Films.
Die Arbeit der ´Freunde der Deutschen Kinemathek` um Ulrich und Erika Gregor ließ ganz allmählich in Berlin eine lateinamerikanische Filmszene entstehen. Diese Entwicklung wurde durch verschiedene Ereignisse begünstigt. Das Interesse am lateinamerikanischen Film war in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zunächst durch zwei Retrospektiven auf der Berlinale verstärkt worden: sie stellten das Cinema Novo, das neue Kino Brasiliens, vor und präsentierten den filmischen Aufschwung in ganz Lateinamerika. Außerdem zeigten ARD und ZDF kontinuierlich die wichtigsten dieser Spielfilme. Und das ZDF lieferte schließlich in der Dokumentation "Kino in Opposition" den kinematografischen Kontext.
In Berlin gibt es deshalb im ‚Arsenal‘, dem ‚Institut für Film und Videokunst‘ – wie die ‚Freunde der Deutschen Kinemathek‘ heute heißen – die größte Sammlung lateinamerikanischer Filmkopien in Deutschland. Hinzu kommt das ‚Iberoamerikanische Institut‘, das mit mehr als 6.000 Titeln die umfangreichste Kollektion auf DVD und Video besitzt. Doch in Berlin wurden nicht nur Filme gesammelt, sondern auch vor der Zerstörung bewahrt. Ulrich und Erika Gregor waren in den 70er Jahren mit ihren beiden Institutionen – den ‚Freunden‘ und dem ‚Internationalen Forum‘ der Berlinale – an einer außerordentlichen Rettungsaktion für den chilenischen Film beteiligt.
"Wir hatten sehr gute Kontakte zu den chilenischen Regisseuren, und wir bekamen auch die vielen Kurzfilme, die sie eigentlich für Chile gemacht haben, um das Volk aufzuklären. Dann kam der Sturz Allendes, und die Filmemacher mussten emigrieren. Die Filme blieben bei uns, es wurden Negative hergestellt, weil man wusste, jetzt sind sie in Chile verloren. Viele Jahre später, nach 2.000, fuhr Heiner Ross, der sich damals wahnsinnig darum gekümmert hat, nach Chile, zeigte diese Filme, brachte sie zurück. Und er sagte mir, nie in seinem Leben wäre er so viel umarmt worden wie in Chile, denn da waren plötzlich die Kinder, die inzwischen erwachsen geworden waren und denen man immer gesagt hatte, dein Vater hat auch Filme gemacht, und die hatten nie etwas gesehen."
Berlin als Zentrum des lateinamerikanischen Films war nicht nur eine Anlaufstation. Hier zeigten sich ungeahnte Talente, und hier begannen Karrieren. Als erster verfilmte der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta seinen Neruda-Roman Mit brennender Geduld. Dann gelang es Orlando Lübbert, der bereits Erfahrung als Regieassistent mitgebracht hatte, bei der DEFA Dokumentar- und Spielfilme zu machen, u.a. Die Kolonie, den ersten Film über die berüchtigte Colonia Dignidad, die von einer deutschen Sekte geleitet wurde und während der Diktatur als Folterzentrum diente. Auch aus anderen Ländern Lateinamerikas strebten sie Mitte der 70er Jahre nach Ost- und nach Westberlin wie z.B. die Argentinierin Jeanine Meerapfel, heute Präsidentin der Akademie der Künste.

Jeanine Meerapfel

Jeanine Meerapfel, die neue Präsidentin der Akademie der Künste, auf einer Terrasse der Akademie vor der Kulisse des Brandenburger Tors in Berlin, aufgenommen am 31.05.2015 in Berlin.
Jeanine Meerapfel, die Präsidentin der Akademie der Künste, auf einer Terrasse der Akademie vor der Kulisse des Brandenburger Tors in Berlin.© picture-alliance / dpa /Jörg Carstensen
"Wenn es Hitler nicht gegeben hätte, wäre ich ein deutsch-jüdisches Kind geworden, mehr deutsch als jüdisch, geboren in einem kleinen süddeutschen Dorf. Aber ich bin in Argentinien geboren. Meine Muttersprache ist Spanisch. Vor 17 Jahren kam ich nach Deutschland. Wie ein Schwamm saugte ich die deutsche Kultur, die deutsche Sprache auf. Zu der Unordnung meiner Identität gehört, dass ich jahrelang damit beschäftigt war, eine echte Argentinierin zu sein. Und nun Deutschland. Ich sage nicht, das ist nicht mein Land. Ich sage: Dies war das Land meiner Eltern, und es ist auch mein Land. Sie mussten weg, aber ich bin hier."
"Das Wort Heimat benutze ich nicht so gerne Heimat, das ist die Kindheit, und da kann ich nicht zurück. Heimat ist da, wo du deine ersten Schritte gemacht hast, das Gefühl davon. Deutschland kann deshalb nicht meine Heimat werden, weil ich nicht an Heimat glaube, genauso wenig, wie ich an andere Dinge glaube. Auch Argentinien ist nicht meine Heimat. Aber das sind die Orte, in denen ich lebe. Ich liebe Berlin, und ich liebe auch dieses Deutschland, in dem ich so wachsen konnte und mich entwickeln konnte und Freunde gewinnen konnte und glücklich sein konnte und auch manchmal unglücklich. Dieses Deutschland ist auch mein Deutschland geworden."

Ciro Cappellari

1980 - Ciro Cappellari war gerade mal zwanzig Jahre alt, hatte zwar bereits eine Ausbildung als Fotograf absolviert, aber er wollte unbedingt Film studieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien, woher ein Teil seiner Familie stammte, landete er in München – und arbeitete zunächst als Fotograf. Doch es drängte ihn zum Film. Er bewarb sich an den Filmakademien in München und in Berlin und wurde an der Berliner Deutschen Film- und Fernsehakademie aufgenommen.
"Im September ’84 bin ich nach Berlin gezogen. Heute gibt es kaum Filmschulen, die so funktionieren wie die DFFB (Deutschen Film- und Fernsehakademie). Damals war die Schule sehr frei, so dass ich mich sehr gut entfalten konnte. Zum Beispiel habe ich mich nach einem Jahr Studium entschieden, einen Dokumentarfilm in Argentinien zu machen. Ich hatte die Kenntnisse, ich hatte ein ganz klares Ziel, was ich machen wollte. Die Schule hat nicht richtig mitgemacht. Dann habe ich mich beurlauben lassen."
Amor América ist ein Film der Reise durch die Geschichte und Gegenwart der Mapuche, des größten der indigenen Völker im Süden Argentiniens. Es steht stellvertretend für die Ureinwohner, die alle das gleiche Schicksal erlitten – wie fast überall in Lateinamerika.
Ciro Cappellaris Reise zu seinen patagonischen Wurzeln wurde 1989 im ‚Forum‘ der Berlinale uraufgeführt. Damit begann seine erfolgreiche Karriere als Regisseur und Kameramann. Sie hat ihn in die Welt geführt. Heute lebt er in Buenos Aires, das er "nie richtig verlassen" hat – wie er sagt – und in Los Angeles, wo er einige Monate im Jahr als Dozent am California Institute of the Arts lehrt – sowie in Berlin.
"Berlin ist meine Heimat geworden. Berlin ist die Stadt, die ich am besten kenne. In Buenos Aires habe ich immer viel Zeit verbracht. Ich habe Spielfilme gedreht, ich habe auch dort gelebt, ich kenne die Stadt sehr, sehr gut. Aber in Berlin habe ich die meiste Zeit gelebt. Die wichtigsten Erinnerungen sind hier passiert. Deswegen kann ich Heimat sagen. Wenn ich mehrere Monate weg war, der Moment, wo ich nach Berlin komme, ist ein Moment von Freude, ein sehr schöner Moment."
2009 hat er für diese Liebe eine filmische Form gefunden. In Berlin heißt der Dokumentarfilm schlicht, den er zusammen mit Michael Ballhaus gedreht hat, Deutschlands berühmtestem Kameramann. Ein Kaleidoskop von prominenten, kuriosen und unbekannten Leuten haben sich die beiden ausgesucht.

Karim Aïnouz

Der brasilianische Regisseur Karim Ainouz verfolgt am 11.02.2014 in Berlin während der 64. Internationalen Filmfestspiele die Pressekonferenz für "Praia do futuro".
Der brasilianische Regisseur Karim Ainouz© dpa / picture alliance / Daniel Naupold
Karim Aïnouz hat zunächst in Brasilia Architektur und dann in New York Filmwissenschaft studiert und dort auch das filmische Handwerk gelernt. Er hat als Drehbuchautor und Co-Regisseur gearbeitet, hat mit Kurzfilmen Preise gewonnen und sich 2002 mit dem mehrfach prämierten Spielfilm Madame Satã über einen exzentrischen Transvestiten endgültig als Regisseur durchgesetzt. In Berlin wollte er immer schon Filme machen. 2014 gelang es ihm endlich mit Praia do Futuro/Strand der Zukunft, der im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführt wurde.
"Ich arbeitete am Drehbuch zu einem neuen Film über einen Brasilianer, Donato, der Brasilien verlassen wollte, um ein neues Leben auf der anderen Seite des Atlantiks zu beginnen und zwar in Berlin, der Stadt, die ich liebe. Hier zum ersten Mal zu drehen, war für mich ein Abenteuer. Doch ich hatte von Berlin schon sehr viele Fotos gemacht bei meinem ersten Aufenthalt 2004, so viele wie nie zuvor Das war eine Art Tagebuch über meine Erfahrungen in Berlin. Der Film ist so etwas wie eine Fortsetzung mit einem anderen Mittel. Es ist auch das erste Mal, dass das Thema der Stadt und die Stadtlandschaft einen meiner Filme derart beherrscht wie diesen."
In Praia do Futuro dominieren nicht die Worte – wie in vielen anderen brasilianischen Filmen. Es wird eigentlich die meiste Zeit geschwiegen. Selbst die Handlung tritt in den Hintergrund, wird auf das Nötigste beschränkt. Musik, Atmosphären, Stimmungen und die Bilder von einem gar nicht so tristen, doch auch nicht gerade attraktiven Berlin stehen im Vordergrund. Die Stadt erscheint als Freiraum durch weitläufige Parks und durch eine Clubszene, in der sich jeder austoben kann.
2015 begann sich Karim Aïnouz erneut mit Berlin filmisch zu beschäftigen. Ursprünglich wollte er eine Dokumentation über die angekündigte Schließung des Flughafens Tegel drehen. Als Architekt interessierte ihn die besondere Funktionalität dieses relativ kleinen Airports. Aber dann kam die Welle der Flüchtlinge in der Hauptstadt an, und sieben Hangars des Flughafens Tempelhof wurden in Berlins größtes Notaufnahmelager verwandelt. Und aus dem Projekt Tegel wurde Zentralflughafen Tempelhof.

Tango in Berlin

Der Tango entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den armen Einwanderervierteln, in den Kaschemmen und Bordellen von Buenos Aires und Montevideo. Die Oberschicht verachtete ihn jahrzehntelang "wegen dieser dubiosen Herkunft". Das Volk liebte ihn umso mehr. Er avancierte zum erfolgreichen Volksvergnügen und wurde kurz vor dem 1. Weltkrieg in den Salons und Bars von Paris zum gefeierten Modetanz. Von dort schwappte er nach Berlin über.
"So richtig los ging’s 1913. Es gab ihn am Nollendorfplatz, im Metropol-Theater, und Tanz auf dem Eis im Admiralspalast und der Wintergarten, das waren die drei wichtigsten Orte, wo zu eleganten Tango-Veranstaltungen geladen wurde. Aber natürlich hat der Tango auch sehr viel Gegnerschaft provoziert. Man kann durchaus von einem Clash of Culture sprechen, von einem Kulturkampf, den der Tango ausgelöst hat, weil die Deutschnationalen immer mehr Zulauf bekommen haben in dieser Zeit vor dem 1. Weltkrieg." Ralf Sartori

Dazu: Tango Global - Band 1: Tango in Berlin (1): Geschichten zur Pionierzeit und Tango am Rio de la Plata, 187 Seiten, kartoniert

Klaus Gutjahr, Bandoneon-Spieler und –Bauer

Klaus Gutjahr mit seinem Bandoneon war der einzige deutsche Musiker, der 1982 am Horizonte-Festival teilnahm. Er war einer der sehr wenigen, der sich schon damals mit dem Tango in seiner ursprünglichen Form, dem Tango Argentino, beschäftigte.
"Ich habe ein Konzert gehört von Leopoldo Federíco mit seinem Ensemble. Und ich habe nach seinem Auftritt in der Garderobe mein Instrument, ich hatte das mit und habe dann eine Bearbeitung gespielt, die er gemacht hat: Selección de Tango hieß die, eine wunderbare Komposition. Und dann sagt er: Spiel das nochmal. Dann habe ich das nochmal gespielt, und da sagt er: Das ist nicht unser Tango, das ist dein Tango. Das war eine Schlüsselaussage für mich in der Form, dass ich danach alles so gemacht habe, wie ich es das mache, nicht wie andere es machen. Natürlich habe ich mich mit der Stilistik des Tangos auseinandergesetzt, und in diesem Bereich spiele ich nach wie vor Tango."

Das Contemporary Tango Festival im Berliner Hauptbahnhof

Tango im Berliner Hauptbahnhof. Seit drei Jahren findet an dieser lärmerfüllten Durchgangstation für Tausende von Reisenden jeweils im August eine Woche lang das Contemporary Tango Festival statt. Eigentlich eine Zumutung für Menschen, für die Tango Intimität und tänzerische Kunstfertigkeit bedeutet. Doch offensichtlich sehen das viele ganz anders. Der Lärm stört diesen Tänzer nicht.
"Der Berliner Hauptbahnhof hat die besondere Eigenschaft, dass wir das gesamte soziale Spektrum, das gesamte Altersspektrum haben. Es ist Musikern wirklich passiert, die ein sehr seltenes Stück spielten, und da kommt jemand vorbei: das Stück habe ich auch schon gespielt. Also es gibt Connaisseure und Menschen, die haben gar keine Ahnung, was es ist. Und das Publikum ist deshalb vom Spektrum viel größer, auch von der Emotionalität, von der Intellektualität viel größer, und fordert uns viel mehr als das Publikum, das wir normalerweise in unserem Kunstbetrieb haben. Dort sitzen meist interessierte Menschen, das ist zwar schön, aber es ist eine Einengung, und der Bahnhof ermöglicht uns den Zugang zu Menschen, die uns aus zufälligen Gründen wie ein Geschenk vom Himmel fallen. Bahnhöfe weltweit sind Bühnen, an denen ausprobiert wird. Ich kenne viele Geschichten, wo Schachfestival und Konzerte und alles Mögliche gemacht und sicherlich auch getanzt wird. Aber in der Größenordnung, wie wir das hier haben, sechs Tage lang ein Tango-Festival – das ist weltweit einzigartig." Andreas Rochholl, Organisator

Produktion dieser Langen Nacht
Autor: Peter B. Schumann
Regie: Beate Ziegs
SprecherInnen: Frank Arnold, Max Urlacher, Oliver Nitsche und Anika Mauer
Redaktion: Dr. Monika Künzel

Lesen Sie hier das vollständige Sende-Manuskript der Langen Nacht Lateinamerika in Berlin (PDF)