Von der Geschichte weggeblasen
Endlich ist die Mauer offen und man selbst sitzt noch im Kino. So ging es dem Team um Heiner Carow, der 1989 mit "Coming Out" den ersten und einzigen Schwulenfilm der DDR drehte. Eine verrückte Kinogeschichte - auf Spurensuche mit Schauspieler Pierre Sanoussi-Bliss.
An die Achtziger Jahre erinnert entlang der Schönhauser Allee kaum noch etwas. Hübsch sanierte Altbauten säumen die geschäftige Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. In dieser Ecke ist alles sehr vital und bürgerlich. Damals sah es hier ganz anders aus: grau und brüchig, aber an manchen Stellen auch ganz und gar regenbogenfarben. Einer der sich diesen Blick auf das ehemalige Zentrum der Ostberliner Schwulenszene bewahrt hat, ist Pierre Sanoussi-Bliss.
"Ja genau, an diese Fenster kann ich mich erinnern, aber mehr auch nicht. Ach nee… doch… Was ist das? Ein Fotostudio. Ja, viel geknipst worden ist damals ja auch, um es mal so zu sagen."
Bei einem Spaziergang zeigt er mir die ehemalige Kultkneipe "Zum Burgfrieden", die auch Drehort von Heiner Carows "Coming Out" war. 1989 war der Schauspieler Teil dieses allerersten DDR-Schwulenfilms.
Die Rastalocken von damals sind verschwunden und einer Glatze gewichen. Immer mehr graue Stoppeln haben sich unter seinen Drei-Tage-Bart gemischt. Wir blinzeln in die Herbstsonne, die Sanoussi-Bliss‘ schwarze Daunenjacke fast überflüssig macht. Der Schauspieler erzählt vergnügt und ein wenig stolz von der Premierenfeier zu Carows Film.
"Es war so, dass wir hier drin saßen und schon am Bier zupften. Währenddessen staute sich auf der Straße davor ein unglaublicher Konvoi von Trabbis und was weiß ich. Wir dachten: Was ist denn hier los?"
Premiere im Kino International
Während im Kino International am Alexanderplatz applaudiert wird, verliest Günther Schabowski die Pressemitteilung, die kurze Zeit später zur Öffnung der Mauer führt. Zwar will man sich nun im "Burgfrieden" nicht die eigene Feier stehlen lassen, aber die Trabbikolonne vor der Tür kann man auch nicht ignorieren. So schwankt die Stimmung in der Kneipe zwischen Euphorie und ernsthafter Auseinandersetzung, wie sich Sanoussi-Bliss erinnert.
"Wir waren uns bewusst, dass wir hier gerade gemeinsam Geschichte erleben, sowohl mit dem Film als auch mit dem Mauerfall, was so nie wieder kommt. Deshalb schwankte es zwischen tanzen, laut Musik hören, sich betrinken, hier draußen zu stehen und sachliche Gespräche zu führen, das Hupkonzert von den nicht enden wollenden Autoschlangen Richtung Mauer."
Sieben Jahre kämpfte Heiner Carow für die Verfilmung von Wolfram Witts mutigem Drehbuch. Dabei scheute er auch die offene Auseinandersetzung mit DEFA-Oberen nicht. Carows Bemühungen um ein Thema, das in der DDR-Filmgeschichte bis dahin keine Rolle gespielt hatte, liefen angesichts Maueröffnung Gefahr, vergessen zu werden.
"Das war klar, es hat niemand mehr realisiert, was es für die DDR für ein großer Schritt war, so einen Film zu machen. Das wurde von der Geschichte logischerweise weggeblasen."
Unvergessen bleibt aber die emotionale Ehrlichkeit, mit der Carow die Geschichte des Lehrers inszeniert, der erst nach und nach seine eigene Sexualität entdeckt. Geschickt lässt er Stolpersteine typischer Problemfilme aus. "Coming Out" stilisiert Homosexualität nicht und bevorzugt stets den natürlichen Blick – und nicht den voyeuristischen. Gleichzeitig bietet Witts Drehbuch genug Raum, um das Stigma des schwulen DDR-Bürgers zu erzählen.
Filmausschnitt: "Es tut mir sehr Leid, Kollege Klarmann, gewisse Vorkommnisse, über die wir noch an anderer Stelle reden müssen, zwingen uns leider dazu, mit verstärkten Hospitationen der Schulleitung zu beginnen."
Nuancen des magischen Realismus
In den wenigen glücklichen Momenten, die Lehrer Philipp mit seinem Liebhaber Michael verbringt, tauchen Nuancen des magischen Realismus im graumelierten DDR-Alltag auf. Die jungen Männer bieten sich gegenseitig einen Rückzugsort, den Matthias Freihof und Dirk Kummer in ihren Rollen zärtlich ausstaffieren.
Filmausschnitt: "Ich hab‘ an dich gedacht… So ist das, wenn man merkt, was mit einem los ist. Dann gehste in Kneipen und trinkst, um alles runterzuschlucken."
25 Jahre danach bleibt große Bewunderung für die diplomatische Leistung hinter einem solchen Film. Und natürlich für Carow, der selbst in kleinen Details innovativer war als viele seiner Kollegen. So ist auch der Gewaltexzess, dem Pierre Sanoussi-Bliss im Film ausgesetzt ist, ein weiteres Novum für die DEFA. Eine kurze Szene, die zunächst nicht im Drehbuch stand, zeigt rechtsradikale Schläger, die den dunkelhäutigen Schauspieler übel zurichten. Das gab es in der DDR-Filmgeschichte noch nie:
"Sowas stand ja nicht im Neuen Deutschland oder in der Jungen Welt oder so etwas. Da war ja alles nur schön und toll. Ich fand’s halt gut, dass es wenigstens in einem Film mal eine Szene gibt, die sich damit befasst, dass es auch Gewalt gegen Andersaussehende oder gegen Menschen gibt, die vielleicht nicht so sehr ins DDR-Straßenbild passen."