Heimerziehung in der DDR

Rückkehr in den Jugendwerkhof

Eine Frau schaut sich am 07.11.2009 eine Fotografie des Innenhofes des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau an.
Eine Frau schaut sich am 07.11.2009 eine Fotografie des Innenhofes des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau an. © dpa / picture-alliance
Von Nathalie Nad-Abonji · 05.11.2017
Renate wollte mit 17 kurze Röcke tragen, so laut wie möglich die Rolling Stones hören. Eine ganz normale Jugend war für sie in der DDR aber nicht möglich. Sie wird in den Jugendwerkhof Eilenburg eingewiesen. 45 Jahre später beginnt sie mit der Aufarbeitung.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal mache. Dass ich mich das traue dahin zu gehen. Das ist für mich wie ein Wunder. Ich war im meinem Hamsterrad, die vielen Jahre. Habe das alles runtergedrückt. Es kam mal hoch, bevor ich eingeschlafen bin, dann habe ich es wieder nach unten gekehrt. In der Früh ging es weiter. Du warst im Hamsterrad und hattest gar keine Zeit zur Aufarbeitung. Ich habe lange gezögert und dann habe ich gedacht, du bist jetzt alt, du musst irgendwann mal aufarbeiten. Weil es mir es mir auf der Seele gebrannt hat. Und dann kam eins zum anderen."
Das ist zwei Jahre her. Mittlerweile ist Renate 63 Jahre alt und hat alle Akten beisammen, die noch aufzutreiben waren. Die Verfügung der Jugendhilfe beispielsweise, die 1971 zu ihrer Einweisung in den Werkhof führt. Dank dieser Beweise wird sie im Frühjahr 2017, nach mehreren erfolglosen Versuchen, schließlich von einem Oberlandesgericht rehabilitiert – das bestätigt offiziell, dass ihr damals Unrecht angetan wird und ihr eine monatliche Opferrente zusteht. Trotzdem möchte sie anonym bleiben.

500.000 Heimkinder in der DDR

Anders Corinna Thalheim, die neben Renate sitzt und den schwarzen SUV steuert. Sie wirkt resolut und burschikos, geht ganz offen um mit ihren Macken, die sie seit ihrer Zeit im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau hat – sie erträgt keine geschlossenen Türen.
Corinna Thalheim
Corinna Thalheim© privat
Was genau sie in Torgau erlebt hat, erzählt Corinna Thalheim lieber später in Ruhe. Sie braucht Kraft und Konzentration dafür.
Seit sie ihre Vergangenheit aufarbeitet, setzt sie sich auch unermüdlich für andere Opfer der DDR-Heimerziehung ein. Organisiert Treffen, führt Gespräche, recherchiert Akten und hilft wie bei Renate, wenn es darum geht einen Antrag auf Rehabilitierung zu stellen. Sie kennt sich aus, in den verworrenen Strukturen der damaligen Jugendhilfe und dem, was sich die Gefolgsleute von Margot Honecker im Ministerium für Volksbildung so ausdachten.
Eine halbe Million Kinder und Jugendliche sehen zwischen 1949 und 1989 ein Heim von innen. Eilenburg ist einzigartig in der Deutschen Demokratischen Republik.
"Eilenburg ist zentrales Aufnahmeheim. Eilenburg war ein reiner Mädchen-Jugendwerkhof. Eilenburg war Spezialkinderheim und Eilenburg war Durchgangsheim. Es hatte alles in sich und alles in einem Objekt. Eilenburg hat entschieden wo, welcher Jugendliche hingebracht wurde, welches Heim, welchen Jugendwerkhof."
Corinna Thalheim will dafür sorgen, dass die Vergangenheit dort präsent bleibt. In Form einer Dauerausstellung, die heute eröffnet werden soll.

"Damals alle in Reih' und Glied"

Es ist Mittag, als Corinna Thalheim Renate am Pförtnerhäuschen vorbei auf den Platz bringt. Seine Mitte zierte damals eine Plastik von Ernst-Schneller, einem Lehrer und Widerstandskämpfer der Nazi-Zeit. Die Einrichtung trägt seinen Namen: Ernst-Schneller-Heim.
Corinna verabschiedet sich in Richtung Aula. Renate bleibt zurück, steht etwas verloren am Rande des großen Platzes, der von zwei bis dreistöckigen Gebäuden umrahmt ist. Zwei davon sehen marode aus, die anderen sind offenbar saniert worden.
In der Mitte stehen jetzt ein paar Bäume, auf denen gerade Kinder herumklettern.
"Wenn ich das jetzt so sehe…wenn die Kinder kommen ….lustig. Damals alle in Reih' und Glied, wie die Soldaten. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen."
Mit roten Arbeiterfahnen stehen Mitglieder der FDJ in Berlin im April 1981 am Palast der Republik, der Tagungsstätte des X. Parteitages der SED.
Mit roten Arbeiterfahnen stehen Mitglieder der FDJ in Berlin im April 1981 am Palast der Republik, der Tagungsstätte des X. Parteitages der SED.© dpa / picture-alliance / Hans Wiedl
Damals braucht es nicht viel, um nach Auffassung des Staates aus der Reihe zu tanzen. Renate will "frei leben", wie sie sagt. Kurze Röcke tragen, so laut wie möglich die Rolling Stones hören und sich von den Eltern nichts mehr sagen lassen.
"September bin ich gekommen. September 71 und August 72 war ich dann 18. Dann hat mich meine Mutter abgeholt."
Wie alle kommt Renate nicht direkt von zu Hause in den Werkhof. Dazwischen liegt das sogenannte Durchgangsheim.

"Das kann man sich heutzutage nicht vorstellen"

Eva Fischer, ist seit 1986 Erzieherin - unter anderem auch im Durchgangsheim Leipzig – also lange nachdem Renate dort war. Heute leitet sie in Eilenburg eine Wohngruppe mit acht Kindern zwischen 9 und 17 Jahren.
Damals, während ihrer Ausbildung, muss Eva Fischer auch "D-Heim-Dienst" machen, wie es unter den Erziehern heißt. Sie arbeitet nicht freiwillig im D-Heim.
"Das kann man sich heutzutage nicht vorstellen. Das ging nicht, man konnte nicht einfach gehen. Das waren Bezirks unterstellte Heime. Frau Honecker war unsere direkte Vorgesetzte und da konnte man nicht einfach kündigen. Wenn man einfach gekündigt hätte, hätte man wahrscheinlich nirgends mehr einen Fuß reingekriegt. Der Gedanke kam auch gar nicht. Soweit habe nicht mal ich mich getraut zu denken."
Eva Fischer sitzt im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss ihrer Gruppe, vor sich eine Tasse Kaffee. Durch das Fenster beobachtet sie, wie ihr heutiger Vorgesetzter auf Renate zugeht und ihr die Hand gibt.

Umerziehung durch Arbeit

"Ich musste ja damals saubermachen, die Zimmer. Reinigungskraft, kann man sagen. Ich wollte in die Brauerei aber sie haben mich als Reinigungskraft eingesetzt."
Arbeit ist die Grundlage der Umerziehung zum sozialistischen Menschen, der seine individuellen Interessen denen des Kollektivs jederzeit und selbstverständlich unterordnet.
"Ich will endlich wieder raus! Ich halte das nicht mehr aus! Ich drehe hier durch!" steht an einer Wand des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau.
"Ich will endlich wieder raus! Ich halte das nicht mehr aus! Ich drehe hier durch!" steht an einer Wand des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau. © dpa / picture-alliance / Peter Endig
Die Jugendwerkhöfe sind in den 70ern finanziell schlecht ausgestattet. Sie werden immer voller, bekommen aber nicht mehr Geld von den Behörden. Die Einrichtungen sind darauf angewiesen, dass die Jugendlichen in nahegelegenen Betrieben arbeiten, wie beispielsweise im Volkseigenen Getränkewerk in Eilenburg, in dem Renate viel lieber Brause abfüllen würde, als zu putzen. Mit dem Lohn finanzieren die Mädchen einen Teil ihres Aufenthaltes. Den Rest müssen ihre Eltern bezahlen, unabhängig davon, ob sie mit der Einweisung einverstanden sind oder nicht.
Schule spielt kaum eine Rolle. Renate erinnert sich an ein bisschen Deutsch, Mathe und vor allem Staatsbürgerkunde. Vielleicht ein - zwei Mal die Woche.
Ein straff durchstrukturierter Tagesablauf mit Arbeit und ein Leben im Kollektiv – also in der Gruppe - bilden die Eckpfeiler der DDR – Umerziehung. Solidarität untereinander lernt Renate nicht kennen. Jede habe für sich gekämpft.
"Dort oben war der Clubraum. Die ersten zwei Fenster rechts. Du warst ja nie alleine. Du musstest ja immer in der Gemeinschaft sein, konntest dich nie auf dein Zimmer zurückziehen. Musstest etwas in der Gemeinschaft vollbringen."

Zur Strafe in den Bunker

Das gilt auch für Belohnungen oder Strafen. Eine Gruppe, die besonders schnell ihre Aufgaben abarbeitet wird ausgezeichnet. Wenn allerdings ein Mitglied der Gruppe seine Aufgabe zu langsam oder schlecht erledigt, oder gar flieht, werden alle bestraft. Die Gruppe rächt sich wiederum in einem unbeobachteten Moment am Einzelnen – sofern er nicht zuvor bereits isoliert worden ist. In einer Arrestzelle, von denen es in jedem Jugendwerkhof zwei gibt – auch in Eilenburg. Die sogenannten "Bunker".
"Ich hatte das Glück, dass ich in 14 Tagen 18 wurde und dann haben sie mich nicht nach Torgau geschafft, sondern mich da oben isoliert."
"Hatten sie Ausgang? Oder waren sie 14 Tage in diesem Bunker?"
"Ich war auf den Bunker beschränkt und hatte Zeiten, wo ich auf Klo gehen konnte, da kam jemand. Ansonsten war ich da eingesperrt."
Renate leidet umso mehr unter der plötzlichen Isolation, als dass sie zuvor daran gewöhnt worden ist, nie alleine zu sein.
Die Endstation der "Erziehungsdiktatur", wie die DDR von manchen genannt wird, ist heute eine Gedenkstätte.
Der ehemalige Insasse Ralf Weber (54) sitzt am Samstag im November 2009 in einer Dunkelzelle des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau.
Der ehemalige Insasse Ralf Weber (54) sitzt am Samstag im November 2009 in einer Dunkelzelle des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau.© dpa / picture-alliance / Peter Endig
Renate hört damals Beatmusik und stellt zunehmend die Autorität ihres Stiefvaters in Frage. Er antwortet mit Prügel, woraufhin Renate jeweils von zu Hause abhaut und auch nicht zur Schule geht. Die Jugendhilfe kennt für dieses Verhalten eigene Ausdrücke: Gammeln, Schulbummelei und Herumtreiberei. Bei Mädchen kommen sogenannte "Sexuelle Verwahrlosung" und "Triebhaftigkeit" dazu.
In Renates Fall ist die Mutter damit einverstanden, dass sie schließlich in den Jugendwerkhof kommt. Letztlich haben die Eltern keine Wahl: Die Jugendhilfe entzieht ihnen das Sorgerecht und beschließt die Einweisung in vielen Fällen über ihre Köpfe hinweg. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Tabletten gegen Aufmüpfigkeit

Dass Renate offenbar zuvor mit Beruhigungsmedikamenten behandelt worden ist, erfährt sie erst 45 Jahre später.
"Als ich die Verfügung bekam, habe ich geheult. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er mit mir gemacht hat, welche Medikamente ich bekommen habe – ich weiß es nicht. Wahrscheinlich Tabletten."
Renates 14 Tage im Bunker unter dem Dach, enden 1972 mit ihrem 18. Geburtstag. Ihre Mutter holt sie aus dem Jugendwerkhof ab, aber sie kehrt nicht nach Hause zurück. Stattdessen bekommt sie woanders ein Zimmer und arbeitet in einem Kindergarten.
Später heiratet Renate, wird selbst Mutter und ist berufstätig. Alltag oder eben "Hamsterrad", wie sie es auf der Hinfahrt nennt.
Sie geht mit Markus Müller um den Ernst-Schneller Appellplatz. Sie halten direkt vor dem Haus, in dem sie und ihr Kollektiv untergebracht waren. Sie zeigt nach oben:
"Da oben ist das Klofenster, aus dem sie sich herausgestürzt hat. Sie kam aus Torgau – hier das schmale Fenster, das war ein Klo."
Das Mädchen ist zuvor aus Eilenburg geflohen, genau wie Renate. Zur Strafe wird sie jedoch nicht in den Bunker gesperrt, sondern in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gebracht.
"Ist wiedergekommen, völlig verändert: Haare weg, in sich gekehrt. Und dann war Aufruhr. Wir mussten sofort in die Zimmer. Sie hatte sich runtergestürzt, hatte aber überlebt. Da durfte niemand drüber reden. Sie war dann wirklich gestört. Sie haben sie klein gekriegt."

Corinna Thalheim flieht dreimal aus den Jugendwerkhof

Corinna Thalheim hat alles für die Ausstellungseröffnung in der Aula vorbereitet. Sie verschnauft und überblickt vom ersten Stock den Platz. Mitte der 80er Jahre flieht sie drei Mal aus dem Jugendwerkhof Wittenberg. Dann muss sie nach Torgau. Diese drei Monate brechen ihr das Genick, sagt sie heute.
Die Prozedur in Torgau ist immer dieselbe: die Mädchen und Jungen zwischen 14 und 18 Jahren werden in Handschellen hineingeführt. Sie müssen sich ausziehen, werden desinfiziert und bekommen Anstaltskleidung. Dann werden ihnen die Haare geschoren. Anschließend verbringen sie mindestens drei Tage in Einzelarrest – manchmal auch bis zu 12 Tagen - in der sogenannten "Zuführungszelle" und lernen die Hausordnung auswendig. So geht es weiter. Auf die acht Stunden Arbeit folgt täglich Sport bis zur totalen Erschöpfung. Endlos die Reihe der Demütigungen und Bestrafungen. Die Dunkelzellen im Keller sind gefürchtet. Zahlreiche Suizidversuche sind dokumentiert.
Erst kurz vor Mauerfall, als das Ende der DDR absehbar ist, werden die Jugendlichen entlassen, schrauben Erzieher hastig die Gitter von den Fenstern und vernichten Akten.
Von der vielleicht größten Erniedrigung, die Corinna Thalheim erleidet, erfährt lange niemand. Nicht mal ihr Mann: Der Direktor der Anstalt missbraucht sie regelmäßig.

Sexueller Missbrauch an der Tagesordnung

"Es war ja auch Wissen da seitens der Erzieher. Weil die Erzieher haben mich ja hier aus der Zelle geholt und mich nachts zum Direktor gebracht. Den Erwachsenen muss es ja klar gewesen sein, dass er um 22 Uhr kein Gespräch führen will."
Nach und nach stellt sich heraus, sie ist damals nicht die einzige. Corinna Thalheim gründet einen Verein und eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die in DDR-Heimen sexuell missbraucht worden sind.
Ihr Peiniger stirbt am Tag des Mauerfalls.
Markus Müller führt Renate durch die frisch renovierten Zimmer in den oberen Stockwerken. Sie kann kaum glauben, dass aus den Zwei - und Vier- Bettzimmern nun alles Einzelzimmer werden sollen. Das müsse Müller den Jugendlichen unbedingt erzählen, meint sie.
Wenig später verabschiedet sich Renate draußen vor dem Haus.
"Das habe ich heute für mich entschieden, nachdem es mich wieder so aufgewühlt hat, dass ich das jetzt wirklich abschließe. Ich habe mir eingebildet, ich stecke das besser weg. Aber das war nicht der Fall. Aber jetzt geht es. Ich habe dann wiedergesehen, was draus geworden ist und freue mich. Dass wir diese Zeiten hinter uns haben, das sage ich Ihnen. Viele trauern vielleicht um diese Zeit, aber ich nicht. Trotz aller Widrigkeiten in der heutigen Zeit – es ist ja nicht alles schön und Gold, was glänzt - aber diese Zeiten wünsche ich mir nicht wieder."
Corinna Thalheim würde Renate gern für ihre Vereinsarbeit mit Opfern der DDR-Heimerziehung gewinnen. Aber Renate will das nicht. Sie will heute wirklich, endgültig abschließen.
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