Heimat ist ein "antiquiertes Gebilde"

Von Martin Sander |
Das allgemeine Verständnis von Heimat sei in Deutschland ein anderes als in Polen, sagt der deutsch-polnische Schriftsteller und Theatermacher Peter Piotr Lachmann.
"Begriffsgeschichte ist eine Sache, Begriffsmanipulation ist ne zweite Sache. Wenn wir heute Vertreibung sagen, denken wir überhaupt nicht mehr an die historischen Gegebenheiten."

Peter Piotr Lachmann beobachtet die aktuelle Debatte über Vertreibung aus einer kritischen Distanz, die viel mit seinem eigenen Leben zu tun hat. Lachmann wurde 1935 als Sohn des damals berühmten Fußballspielers von "Vorwärts Rasensport" Ewald Lachmann in Gleiwitz geboren. 1945, im Alter von zehn Jahren, sollte Peter Lachmann eigentlich mit seinen Angehörigen und den anderen deutschen Bewohnern der Stadt vertrieben werden. Doch durch einen Zufall blieb er, lernte eine, neue ihm bislang unbekannte Sprache, absolvierte das Gymnasium, danach ein Studium und galt offiziell als Pole. Ende der 50er-Jahre kam Piotr Lachmann dann als Spätaussiedler nach Deutschland. Doch Mitte der 80er-Jahre kehrte er auf Dauer nach Polen zurück – diesmal nach Warschau, wo er seither als deutsch-polnischer Autor arbeitet und das Video-Theater "Poza" betreibt. Vertreibung, meint Lachmann, lässt sich nicht ohne Heimat denken. Das allgemeine Verständnis von Heimat sei aber in Deutschland ein durchaus anderes als in Polen.

"Es ist nur das Merkwürdige, dass es im Polnischen das Wort Heimat, es gibt das Wort Heimat nicht. Und diesen mythischen Begriff Heimat, den gibt es eigentlich nur im Deutschen beziehungsweise, wenn ich jetzt einmal diese beiden Sprachen vergleiche, die Polen versuchen jetzt im Augenblick eine Art Heimatbegriff aufzubauen, auch in Bezug auf ihre neue Heimat, die ehemalige deutsche Heimat, und die nennen es dann: Das ist das kleine Vaterland, mała ojczyzna. Das ist eine Sache, die ist in sich schon einmal ganz relativiert. Sie ist relativ vom Begriff her. Sie kann sich gegen dieses Urwort Heimat gar nicht wehren."

Die sprachlichen Unterschiede stehen für ein unterschiedliches Bewusstsein zum Thema Heimat und Vertreibung aus der Heimat. Zwar wurden Millionen von Polen auf Stalins Betreiben am Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls zwangsumgesiedelt. Dennoch gab und gibt es bis heute in Polen keine Organisationen, die in vergleichbarer Manier wie die deutschen Vertriebenenverbände ein "Recht auf Heimat" postulieren würden. In Polen wird das Thema Vertreibung aus der Heimat eher selten einzeln betrachtet, sondern meist im Kontext und als Folge anderer Tragödien des Zweiten Weltkriegs, namentlich der großen Völkerverbrechen an Juden und Slawen. Peter Piotr Lachmann zeigt Verständnis für diese Sichtweise.

"Da muss ich jetzt sagen als Deutsch Denkender und Deutsch Sprechender, dass ich das Wort Heimat in dieser Urbedeutung für ein unheimlich antiquiertes Gebilde halte. Es ist für mich antiquiert, und es ist so antiquiert, daß es augenblicklich, im modernen Denken oder im modernen Leben für mich fast einen archaischen, mythischen Stellenwert hat, den ich im Grunde genommen gar nicht mehr richtig begreifen kann."

Dieser archaisch anmutende Heimatbegriff wird in Deutschland nicht zuletzt von vielen Vertretern der Vertriebenenverbände immer wieder in die Debatte geworfen, namentlich von der BDV-Vorsitzenden Erika Steinbach, die ihn allerdings gern in das zeitgemäße Gewand von europäischen Werten und Menschenrechten kleidet. Peter Piotr Lachmann kann mit alledem wenig anfangen, weil, wie er meint:

"… das natürlich zwangsläufig auf Blut und Boden irgendwie zurückführt, was mir so unendlich unzeitgemäß vorkommt. Wenn ich jetzt meine Situation in Warschau überlege, dann würde ich sagen, es ist eine Heimatlosigkeit, die für mich eine Art Glückszustand ist, ich könnte aber genauso gut auch in einer anderen Stadt sein."