Heilungsgeschichte ohne Zeigefinger

20.05.2009
Sie war einst olympiaverdächtige Schwimmerin und die Jahrgangsbeste beim Abitur. Später wurde sie magersüchtig und erkundete die Berlin-Kreuzberger Frauenszene. Noch später wurde sie eine fromme Schwesternschülerin. "… und plötzlich Nonne" ist die bewegende Biografie einer Frau auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.
"Menschen, die an Grenzen leben, vor Übergängen stehen, Abgründe aushalten müssen und wieder lernen wollen, zu leben" – für die habe sie dieses Buch geschrieben, sagt Katharina Schridde auf Seite 1. Oh je, dachte ich, wird das eins dieser feuchtwarmen Ratgeberbücher? Machen Sie dies, lassen Sie jenes und am Ende wahrscheinlich "mehr Achtsamkeit "?
Oh nein, merkte ich, als die Autorin beschreibt, wie sie als 13-Jährige auf die Nachricht reagiert, dass ihre Eltern sich trennen werden:

"Ich hörte, wie mein Vater am späten Nachmittag hereinkam und meine Mutter an der Tür fragte, ob sie `es` mir gesagt habe. Ich verstand, dass die heutige Offenbarung wohl abgesprochen war. Sie sprachen also noch miteinander, aber sie hatten nicht mit mir gesprochen. Wer weiß wie lange schon. Wenn das möglich war, dann war nichts und niemandem mehr zu trauen, und genau das beschloss ich in diesem Augenblick. Als sie mich fragten, bei wem ich lieber wohnen würde, hätten sie mich auch fragen können, ob ich lieber erhängt oder ertränkt werden möchte."

Aha, las ich mit wachsender Spannung, die olympiaverdächtige Hochleistungs-Schwimmerin und Abiturs-Jahrgangsbeste bricht bei einem Besuch in Auschwitz zusammen, vertieft sich fortan in alle nur erreichbaren Judaica, lernt Hebräisch, findet ihr Lebensziel und -glück in Israel, wo der sanfte Perez sie umwirbt? Oh nein, dessen Bruder Amnon erpresst und missbraucht sie, ein junger Araber vergewaltigt sie auf offener Straße .

"Ich wusste mit der Instinktsicherheit des unterlegenen Tieres, dass es nun vorbei war. Er griff nach mir, ich wehrte mich nicht, verließ meinen Leib, verschwand aus meinem Kopf, war einfach nicht mehr da. Und spürte fast nichts."

Ist dieses Buch, rätselte ich, die schreibtherapeutische Lebensbeichte einer lesbischen Magersüchtigen (die sie in der Berlin-Kreuzberger Frauenszene wird) oder ist es eine Bekehrungspredigt, wie sich 42 kg heulendes Elend zu einer frommen Schwesternschülerin auf der Kinder-Onkologie wandeln (als sie sich in der evangelischen Kirche taufen lässt)? Von wegen: Zur Taufe hatte ihr ein Bürokrat auf dem Einwohnermeldeamt geraten, als sie ihren ungeliebten Vornamen Barbara in den ihrer geliebten Oma Katharina umbenennen wollte. Und psychisch instabil bleibt sie auch als Kirchgängerin.

Ex-Barbara-nun-Katharina Schridde begegnet auf dem evangelischen Kirchentag im Ruhrgebiet 1991 – dem ersten nach der Wende - der "Communität Casteller Ring", einer evangelische Ordensgemeinschaft auf dem Schwanberg im fränkischen Bayern. Wie sie dorthin kam, was sie im Noviziat durchmachte, warum sie heute die Stadtstation der Communität im Augustinerkloster Erfurt leitet und was sie am Leben als evangelische Nonne reizt – das soll hier gar nicht verraten werden. Nur so viel:

"Ich staune über die dichten Parallelen zwischen meiner frühen hochleistungssportlichen Erziehung und dem spirituellen Leben in einem Kloster. Es ist nicht nur der klar strukturierte Tagesablauf, es ist vor allem eine Ähnlichkeit der Haltung: Eine Haltung der bejahenden Disziplin und des freiwilligen Gehorsams."

Das Buch "... und plötzlich Nonne" (wobei sie soo plötzlich nun wirklich keine wurde) ist eine der bewegendsten Biographien, die ich in den letzten Jahren las.
Es ist – man muss das Wort auch mal ohne skeptisches Stirnrunzeln aussprechen dürfen - eine Heilungsgeschichte. Eine erstklassig erzählte, völlig zeigefingerfreie Heilungsgeschichte.

Besprochen von Andreas Malessa

Katharina Schridde : "…und plötzlich Nonne"
Herder-Verlag Freiburg 2009
178 Seiten, 16,95 Euro