Heiligt der Zweck alle Mittel?
Kann, darf, muss man manchmal alle Bedenken über Bord werfen und gibt es den Zweck, der alle Mittel heiligt? Solche Fragen stellt sich eine verschreckte Öffentlichkeit, die, von scheinbar übermächtigen Feinden bedroht, mit ihrem moralischen Latein am Ende ist.
Im Angesicht des Bösen hat das Gute keine Chance – so scheint es. Aber mit der allgemeinen Aufgeregtheit geht der Blick für die Zusammenhänge schnell verloren. Das Verhältnis von Regel und Ausnahme, von Verbotenem und Erlaubten ist komplizierter, als es der tagespolitischen Hysterie lieb ist.
Wenn etwas in der öffentlichen Verwaltung nicht funktioniert, dann hat die deutsche Sprache dafür die schöne Formulierung vom Dienst nach Vorschrift. Man kriegt die Dinge nicht geregelt, wenn man sie nach Regeln ausführt. Ein deutscher Polizeiführer prägte dagegen die eher hemdsärmelige Variation, dass er beim Einsatz gegen Gewalttäter nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen könne. Der Mann wurde für seine Aussage heftig kritisiert. So haben wir also zwei Varianten: einmal wird die Einhaltung der Regeln angemahnt, einmal wird regelkonformes Verhalten kritisiert.
Man kann das Ganze in eine psychologische und eine politische Lesart aufspalten. Wer unter Druck handelt, bei dem können die Dinge schon mal aus dem Ruder laufen. In der gemächlichen Stille der Amtsstube hingegen sollte doch das Augenmaß der großzügigen Interpretation von Vorschriften herrschen. Politisch gesehen ist strikte Regelbindung wünschenswert, psychologisch können Abweichungen nachgesehen werden, ja sogar erwünscht sein, wie jeder weiß, der schon einmal mit einer Politesse über einen Strafzettel verhandelt hat.
Es geht um das Verhältnis von Regel und Ausnahme. Dieses Verhältnis lässt sich auf zwei Arten gestalten: einmal mit Hilfe des apodiktischen Pathos des Unbedingten, wie wir es aus Sonntagsreden der Politiker kennen – Nie wieder Krieg, Keiner soll benachteiligt werden, Jede hat ein Recht auf Dieses oder Jenes. Sätze dieses Typs sind meist reine Rhetorik. Die andere Lösung verschiebt das Problem ins Kleingedruckte. Das klassische Beispiel sind die Regeln der Steuergesetzgebung, die ein engmaschiges Netz von Schlupflöchern knüpfen. In beiden Fällen wird jedoch eines deutlich: Regeln, Normen und Vorschriften mögen viele Funktionen haben, das individuelle Handeln im Einzelfall steuern sie jedoch – in aller Regel – nicht.
Läuft also alles auf die Formel hinaus, dass es drauf ankommt, dass jeder Fall anders gelagert ist? Oder sollte man eine Hierarchie von unbedingten und lässlichen Regeln entwerfen: Du sollst nicht töten, nicht foltern und Verbrechen gegen die Menschheit begehen gilt dann immer, während wir die Fragen der Einkommenssteuer von Fall zu Fall beantworten?
Man könnte zeigen, dass solche Konstruktionen nicht funktionieren und das ist nicht nur sophistische Haarspalterei, sondern ein ernstzunehmendes Problem im Angesicht der aktuellen Debatten über die Grenzen staatlicher Gewaltanwendung bei der Bekämpfung von realen oder vermeintlichen, jedenfalls aber lebensbedrohlich wirkenden Gefährdungen von globalem Ausmaß.
Differenzierung tut not. Menschen sind keine Computer im herkömmlichen Sinne. Als biologische Wesen handeln wir im Wesentlichen nach unseren Instinkten. Als Mitglieder einer Kultur haben wir gelernt, diese im besten Fall zu zähmen oder zumindest unser Handeln im Nachhinein mit den in dieser Kultur geltenden Regeln zu rechtfertigen. Jedenfalls haben wir keine fest verdrahtete Ordnung im Hirn, die unser Handeln nach Regeln und Normen steuert, auch wenn wir so tun müssen, als wäre dem so. Für die Bearbeitung entsprechender Probleme gibt es das Recht und das greift immer erst im Nachhinein. Wer etwas tut, das den Regeln unseres Zusammenlebens zuwiderläuft, der muss vor den Kadi. Eine ähnliche Ordnung entwickelt sich mit der internationalen Gerichtsbarkeit im Augenblick auch für die Regelung des Zusammenlebens auf der Ebene von Staaten und Regierungen.
Hier liegt eine wichtige Unterscheidung. Zwar wissen wir um unsere Fehlbarkeit, um das Verführerische der leichteren und schnelleren Lösung im Angesicht scheinbar drängender Probleme, aber das sollte uns nicht dazu verleiten, die kulturellen Prinzipien, die dem entgegenstehen, in Frage zu stellen. Gewalt – von wem auch immer verübt – ist nach den Regeln unserer Zivilisation ein Tabu. Es entspricht dem Wesen des Tabus, dass man es nicht berühren darf. Es bannt in sich die Gefahr der allumfassenden Gewalttätigkeit, die über die Gesellschaft hereinbrechen könnte. Zivilisatorische Verbote entfalten die Wirkung einer Quarantäne, sie bilden einen Cordon Sanitaire, den wir um unsere innere Natur als Triebwesen legen. Dieses Bild verweist auf die religiösen Wurzeln des Gewaltverbots. Aus dieser Sicht bleibt zu hoffen, dass die Wiederentdeckung der Religion als Leitorientierung der Politik, wie wir sie im Moment weltweit beobachten können, auch das Überleben derartiger zivilreligiöser Tabus sichert.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".
Wenn etwas in der öffentlichen Verwaltung nicht funktioniert, dann hat die deutsche Sprache dafür die schöne Formulierung vom Dienst nach Vorschrift. Man kriegt die Dinge nicht geregelt, wenn man sie nach Regeln ausführt. Ein deutscher Polizeiführer prägte dagegen die eher hemdsärmelige Variation, dass er beim Einsatz gegen Gewalttäter nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen könne. Der Mann wurde für seine Aussage heftig kritisiert. So haben wir also zwei Varianten: einmal wird die Einhaltung der Regeln angemahnt, einmal wird regelkonformes Verhalten kritisiert.
Man kann das Ganze in eine psychologische und eine politische Lesart aufspalten. Wer unter Druck handelt, bei dem können die Dinge schon mal aus dem Ruder laufen. In der gemächlichen Stille der Amtsstube hingegen sollte doch das Augenmaß der großzügigen Interpretation von Vorschriften herrschen. Politisch gesehen ist strikte Regelbindung wünschenswert, psychologisch können Abweichungen nachgesehen werden, ja sogar erwünscht sein, wie jeder weiß, der schon einmal mit einer Politesse über einen Strafzettel verhandelt hat.
Es geht um das Verhältnis von Regel und Ausnahme. Dieses Verhältnis lässt sich auf zwei Arten gestalten: einmal mit Hilfe des apodiktischen Pathos des Unbedingten, wie wir es aus Sonntagsreden der Politiker kennen – Nie wieder Krieg, Keiner soll benachteiligt werden, Jede hat ein Recht auf Dieses oder Jenes. Sätze dieses Typs sind meist reine Rhetorik. Die andere Lösung verschiebt das Problem ins Kleingedruckte. Das klassische Beispiel sind die Regeln der Steuergesetzgebung, die ein engmaschiges Netz von Schlupflöchern knüpfen. In beiden Fällen wird jedoch eines deutlich: Regeln, Normen und Vorschriften mögen viele Funktionen haben, das individuelle Handeln im Einzelfall steuern sie jedoch – in aller Regel – nicht.
Läuft also alles auf die Formel hinaus, dass es drauf ankommt, dass jeder Fall anders gelagert ist? Oder sollte man eine Hierarchie von unbedingten und lässlichen Regeln entwerfen: Du sollst nicht töten, nicht foltern und Verbrechen gegen die Menschheit begehen gilt dann immer, während wir die Fragen der Einkommenssteuer von Fall zu Fall beantworten?
Man könnte zeigen, dass solche Konstruktionen nicht funktionieren und das ist nicht nur sophistische Haarspalterei, sondern ein ernstzunehmendes Problem im Angesicht der aktuellen Debatten über die Grenzen staatlicher Gewaltanwendung bei der Bekämpfung von realen oder vermeintlichen, jedenfalls aber lebensbedrohlich wirkenden Gefährdungen von globalem Ausmaß.
Differenzierung tut not. Menschen sind keine Computer im herkömmlichen Sinne. Als biologische Wesen handeln wir im Wesentlichen nach unseren Instinkten. Als Mitglieder einer Kultur haben wir gelernt, diese im besten Fall zu zähmen oder zumindest unser Handeln im Nachhinein mit den in dieser Kultur geltenden Regeln zu rechtfertigen. Jedenfalls haben wir keine fest verdrahtete Ordnung im Hirn, die unser Handeln nach Regeln und Normen steuert, auch wenn wir so tun müssen, als wäre dem so. Für die Bearbeitung entsprechender Probleme gibt es das Recht und das greift immer erst im Nachhinein. Wer etwas tut, das den Regeln unseres Zusammenlebens zuwiderläuft, der muss vor den Kadi. Eine ähnliche Ordnung entwickelt sich mit der internationalen Gerichtsbarkeit im Augenblick auch für die Regelung des Zusammenlebens auf der Ebene von Staaten und Regierungen.
Hier liegt eine wichtige Unterscheidung. Zwar wissen wir um unsere Fehlbarkeit, um das Verführerische der leichteren und schnelleren Lösung im Angesicht scheinbar drängender Probleme, aber das sollte uns nicht dazu verleiten, die kulturellen Prinzipien, die dem entgegenstehen, in Frage zu stellen. Gewalt – von wem auch immer verübt – ist nach den Regeln unserer Zivilisation ein Tabu. Es entspricht dem Wesen des Tabus, dass man es nicht berühren darf. Es bannt in sich die Gefahr der allumfassenden Gewalttätigkeit, die über die Gesellschaft hereinbrechen könnte. Zivilisatorische Verbote entfalten die Wirkung einer Quarantäne, sie bilden einen Cordon Sanitaire, den wir um unsere innere Natur als Triebwesen legen. Dieses Bild verweist auf die religiösen Wurzeln des Gewaltverbots. Aus dieser Sicht bleibt zu hoffen, dass die Wiederentdeckung der Religion als Leitorientierung der Politik, wie wir sie im Moment weltweit beobachten können, auch das Überleben derartiger zivilreligiöser Tabus sichert.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".