Heilige Augenblicke

Von Michael Hollenbach |
Ein magischer Moment kann die Geburt des eigenen Kindes sein oder auch das erste Mal, als man sich verliebte. Heilige Augenblicke kennen wir auch aus den Religionen - sie können einen durch das Leben tragen.
"Willst du diese hier Anwesende zu deiner Frau nehmen, sie lieben, ehren und achten, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod euch scheidet, so antworte: Ja, ich will."

Seit Jahrtausenden sind Religionsgemeinschaften dafür zuständig, heilige Momente im Leben zu kreieren. Doch leider haben das viele Pfarrerinnen und Pfarrer verlernt, meint der Schauspieler und Regisseur Thomas Kabel. Deshalb bietet er Seminare an, damit die Pfarrer im Gottesdienst, bei der Trauung, Beerdigung oder der Taufe präsenter sind.

"Ich habe mit meiner Arbeit eine Botschaft: sei wesentlich. Das ist schwer genug, wesentlich zu sein. Das heißt, es ist relativ anstrengend und relativ aufwändig, heilige Momente zu erschaffen und die zu bekommen. Ich habe sie im Theater gehabt, weil Schauspieler sich so reingegeben haben in eine Rolle, dass mich das so berührt hat, das hat mein Leben verändert, und ich stelle fest, dass ich manchmal heilige Momente an heiligen Orten habe, wenn Leute einen Text sprechen, der wirklich eine Tiefe zeigt, die mich tief berührt."

Heilige Momente im Gottesdienst zu erreichen – das ist für den 51-Jährigen das zentrale Anliegen seiner Arbeit:

"Viele glauben nicht mehr an die heiligen Momente und sind dann überrascht, dass so ein Regisseur manchmal mit ihnen auch diese heiligen Momente erschafft. Um da kein Missverständnis zu haben: heilige Momente kann man nicht erschaffen, sondern das sind Geschenke, die sich aus der Arbeit ergeben, indem man sich drum kümmert, kann das passieren, dass man einen heiligen Moment erschafft und denkt: das war stimmig."

Voraussetzung für jene heiligen Momente sei eine intensive und akribische Arbeit. Wenn man routiniert, aber ohne Engagement eine Trauung oder auch Trauerfeier zelebriere, dann könne kein Funken überspringen:

"Der heilige Geist scheint sich in dem Punkt etwas zurückzuhalten, das ist nicht so, dass man sagen kann: jetzt mach mal einen heiligen Moment, sondern der heilige Moment braucht eine Bereitwilligkeit von einer Person in einem Raum, wo er sich öffnet und dann geht eine Welt auf, wo kollektiv dieser heilige Moment erlebt wird. Ein heiliger Moment ist ein kollektives Erleben."

Der heilige Moment muss aber kein kollektives Erleben sein. Martin Tenge, katholischer Propst von Hannover, erzählt, wie er so einen Moment erlebt hat. Als Jugendlicher hatte er an einer liturgischen Nacht teilgenommen und war danach auf der Kirchenbank sitzen geblieben:

"Ich hatte dann diese große Kirche für mich alleine und da war plötzlich ein ganz persönliches Gespräch mit Gott spürbar. Es ist immer schwierig, solche Sachen darzustellen, weil andere denken: Naja, jetzt spinnt er ein bisschen, aber es war so eine Art liebevolle Begegnung zwischen Gott und mir, wo ich so richtig gespürt habe, es gibt ihn, ich hatte so das Gefühl, er spricht mich jetzt ganz tief in meinem Herzen an und sagt: Ich bin da für dich. Es war eine Gewissheitserfahrung: dieser Gott existiert wirklich."

"Dass mich das so persönlich anrührt, das hat mich überrascht, das hatte eine Dimension, wie wenn es zwischen zwei Menschen Klick macht, wenn man sich verliebt oder auf einmal merkt: da brennt das Herz für jemanden, so eine Wärme habe ich da gespürt, und das hätte ich nicht erwartet. Dass das so ins Herz reingeht, das hätte ich nicht vermutet."

Tiefe Emotionen haben für Martin Tenge fast immer etwas mit Gott zu tun:

"Nicht jeder Vogel, den ein Mensch hat, ist gleich der Heilige Geist, das heißt manchmal gibt es auch emotionale Ereignisse, die sicher auch fragwürdig sind, ob sie gleich Gottesbegegnungen sind. Dennoch glaube ich, dass da, wo Emotionalität beim Menschen geschieht, etwas Göttliches darin ist, immer etwas Besonderes passiert, und selbst wenn es Tränen sind, wenn es Schmerzen sind, habe ich den Eindruck, hier wirkt Gott."

Vielleicht würde er es nicht Gott nennen, aber der Sänger und Liedermacher Heinz Rudolf Kunze kennt auch diese magischen Augenblicke:

"Ich habe schon sehr lange an diese vielen, sehr schwer beschreiblichen Dinge geglaubt, die es zwischen Himmel und Erde gibt, und halte vieles, was man nicht beweisen kann, für durchaus möglich, und ich bin kein so rational geprägter Typ, dass ich so was ausschließen würde."

"Das Geheimnis der Bühne ist, dass, wenn die Sache läuft, dass man sich selber und seine Befindlichkeit vergessen kann, man kann sich so hineinvertiefen, dass man nur noch daran denkt, und dass man sogar in schwierigen Zeiten, die man erleben muss – ich habe im Moment so eine: meine Mutter ist sehr krank und sehr alt, wurde in den letzten Wochen schon fünf Mal für so gut wie tot erklärt und hat sich immer wieder berappelt, das belastet einen den ganzen Tag über, aber für die Dauer der Aufführung, wenn alles gut läuft, kann man das wegschieben. Insofern ist eigentlich die gesamte Aufführung ein magischer Vorgang, weil man sich so konzentriert auf das, was man tut, dass man von sich selber absehen kann: man ist für zweieinhalb Stunden von sich selber erlöst."

Reinhard Kopiez hat die magischen Momente in der Musik wissenschaftlich untersucht. Der Musikpsychologe weiß, wann dem Hörer ein Schauer über den Rücken läuft, er eine Gänsehaut bekommt und ihm Tränen in die Augen treten: beim Wechsel von laut und leise, bei einer plötzlich einsetzenden Solostimme oder einem unerwarteten Harmoniewechsel.

"Die Komponisten sind eigentlich implizite Musikpsychologen, sie haben ein Wissen über die Wirkungen, und wissen sie auch so zu gestalten, dass diese Wirkungen gut dosiert auf den Zuhörer einströmen. Also muss man die Dynamik der Erlebnisse auch so verteilen, dass Musik sowohl Steigerungen und Höhepunkte hat, aber auch Hinführungen dorthin."

Dass Melodien als magisch empfunden werden, hängt nicht nur von der Musik ab, sondern vor allem von den Hörerinnen und Hörern: von deren Vorlieben und Stimmungen. Allerdings:

"Es gibt eine Musik, die ziemlich gut bei allen wirkt, das ist Filmmusik, denn Filmmusikkomponisten haben natürlich die Aufgabe, die Wirkung der Bilder zu verstärken, und sie arbeiten sehr raffiniert damit, in dem sie im Wesentlichen die Musiksprache Post-Wagner dazu benutzen."

Hertweck: "Magische Momente, wenn man sie im hollywoodmäßigen Sinne definiert, dann kann man sie vorhersehen, man kann sie auch erzeugen, man kann sie provozieren durch Effekte, Musik, Timing, Hysterie."

Die Schauspieler Florian Hertweck und Hanna Scheibe.

Hertweck: "Die Art, die ich jetzt magische Momente nennen würde, die kann man leider nicht erzeugen, und leider ist es so, wenn man sie hat, wenn man sie wahrnimmt, dann sind sie schon wieder weg."

Scheibe: "Das habe ich schon öfter erlebt, dass man was spielt, und plötzlich sagt man etwas, und das ist ganz anders als 20 Mal vorher, dann entwickelt sich was Neues und der Partner, für den ist es auch so, und dann geht man gemeinsam einen kleinen Weg und das ist dann so wie fliegen, plötzlich öffnet sich etwas und man geht einen ganz neuen Weg, der gar nicht abgesprochen war."

"Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zugrunde gehn!"

Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Teil 2


Hinderk Emrich ist Mediziner und Psychotherapeut. Dem 66-jährigen Naturwissenschaftler sind heilige Augenblicke durchaus nicht fremd:

"Man kennt das aus dem Alten Testament, dass ein Prophet aus der Wüste von Gott angerufen wird, zum Beispiel Hosea wird angerufen von Gott und ihm wird gesagt, du musst predigen, und er sagt: Ich kann nicht predigen, ich kann ja kaum sprechen, du musst predigen, du musst Prophet werden. Oder ein unser Christentum durchherrschendes Beispiel, auch für die Entstehung des Christentums ist eben die Anrufung von Maria durch den Verkündigungsengel, der sagt: Du wirst einen Sohn gebären und das ist Gottes Sohn. Das verändert die Welt, bis heute."

Nicht die Welt, aber sein eigenes Leben hat sich verändert, als er mit 30 Jahren solch eine Anrufung erlebte, sagt Hinderk Emrich.

"Ich war damals ein erfolgreicher Naturwissenschaftler und diese Anrufung sagte, du hast alles falsch gemacht, du hättest Philosoph werden müssen, und du hast zu sehr auf die Naturwissenschaften gebaut, und das hat dazu geführt, dass ich sofort versucht habe, mein bisheriges Wissen und Denken mit den philosophischen Dingen zusammenzubringen. Ohne diesen Moment wäre mein Leben völlig anders verlaufen."

Emrich stammt aus einem philosophisch geprägten Elternhaus, und er wollte als junger Mann offenbar nicht mit seinem Vater rivalisieren, deshalb habe er auf die Medizin gesetzt – bis ihn diese Anrufung ereilte:

"Da gibt es dann förmlich eine Explosion, ein Ausbruch des Unbewussten, das sich artikulieren muss, das kann ein Traum sein, es kann Imagination sein, es kann eine Anrufung sein, die dann sagt: Du hast ungelebtes Leben in dir, und dieses ungelebte Leben kommt dann in diesem magischen Moment eruptiv aus der Seele heraus ins Bewusstsein, und das Bewusstsein hat dann die Chance zu reagieren oder es zu lassen, und wenn man das lässt, wird man das wahrscheinlich psychisch teuer bezahlen."

Nicht nur als Psychiater kennt Hinderk Emrich natürlich noch ganz andere magische Momente:

"Die Liebesanrufung durch den anderen, die wird ja auch in der Malerei und in vielen Gedichten als der Pfeil des Amors dargestellt, also der Verführer, der Glücksbringer, der wie ein Schuss, von einer Sekunde auf den anderen Moment den Liebenden ergreift, und dann ist die Welt verändert, das ist ein singulärer Augenblick, ein magischer Moment."

"Du (weiblich, ca. 1,75 m groß, blond gelockte Haare, braune Augen, schwarz-weißer Mantel) stiegst ca. 17.40 Uhr Rathaus Schöneberg Richtung Zoo ein und bist mit mir (m, 1,80 m groß, kurze blonde Haare, blaue Augen, braune Jacke) bis zum Zoo gefahren. Du hast mich angelächelt und ich Depp hab nur Musik gehört und meinen Mund nicht aufbekommen: Solltest du das lesen, antworte bitte auf diese Nachricht, würde mich freuen, dich wiederzusehen."

"Meine Augenblicke" heißt eine Internetseite der Berliner Verkehrsbetriebe, ein Forum für alle, die gezielt nach Menschen suchen, die ihnen in Bus oder Bahn den Kopf verdreht haben.

"Ist es der Augenblick oder der Augenblick, wenn man sich in die Augen blickt?"

"Wow ... was für Augen! Bin gegen 13:45 Uhr am Betriebshof Lichtenberg aus der Tram 21 ausgestiegen und du (männlich, Anfang 20?, ca. 170-180) bist eingestiegen, wir hatten mehrmals Blickkontakt. Konnte diese Augen den ganzen Tag nicht mehr vergessen. Melde dich bitte."

"In der Psychologie gibt es ein Konzept, das ist das Konzept des Flow, des Fließens, das darauf abzielt, dass wir achtsamer werden sollen, nicht unbedingt auf die großen heiligen Momente, sondern auf die kleinen heiligen Momente im Leben, und die sind enorm wichtig für unser seelisches Gleichgewicht und auch für unsere Zufriedenheit und auch für unser kleines Glück."

Die Frankfurter Psychologin Ursula Nuber.

"Diese kleinen Momente sind die Momente, wo wir mit uns selbst im Reinen sind, selbstvergessen uns einer Aufgabe, einem Menschen, einem Musikstück widmen. Es sind die Momente, wo wir ganz hier sind."

"Eigentlich ist es ja in der heutigen Zeit, dass es das Gegenteil ist: Wir zweifeln an uns, wir treiben uns voran, wir sind bei dem Einen und in Gedanken schon bei dem Nächsten, sind ständig unterwegs und in Bewegung und das bekommt unserer Seele nicht, bekommt unserer Zufriedenheit nicht, wir sind ständig unterwegs auf der Suche nach dem Glück, aber wir suchen es immer da, wo es nicht ist; irgendwo woanders, wo wir gerade nicht sind. Wir finden es nur, wo wir gerade sind, und nicht in den großen Dingen, sondern eben in den kleinen."

"Der Augenblick ist jenes Zweideutige,
darin Zeit und Ewigkeit einander berühren."

Kierkegaard