Heiligabend

Lieder, Briefe und das ganz große Geschäft

Von Axel Schröder, Franziska Rattei, Nadine Lindner und Lisa Weiss · 24.12.2013
Ob im Seemannsclub fernab der Heimat oder im Knast: Weihnachten wird an vielen verschiedenen Orten gefeiert. Und auf viele verschiedene Weisen - und manch einer hat schon genug Weihnachten für sein ganzes Leben gefeiert.
Billardkugeln rollen über den feinen, grünen Filz. Sechs Seeleute, aus Indien, den Philippinen, aus China nehmen die Tische in Beschlag. Geleitet wird der Seemannsclub „Duckdalben“, mitten im Hafen, dicht an den Liegeplätzen der großen Containerschiffe, von Diakon Jan Oltmanns.
"Das ist sozusagen unser Spielzimmer. Hier stehen die drei wichtigsten Möbelstücke im Seemannsclub: Das sind die Billardtische. Immer auch ein Symbol für den festen Boden unter den Füßen. Im Moment alle drei von verschiedenen Leuten nach verschiedenen Regeln anscheinend auch bespielt. Man kann hier aber sitzen und skypen. In Ruhe einfach mal eine Zigarette rauchen. Denn Seeleute sind zumeist Raucher. Das muss man schon zugeben."
Aber damit ist Jan Oltmanns ganz einverstanden und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. Die Augen ein bisschen müde, grauer Vollbart, genauso graue, halblange Haare. Jeans und Sweatshirt. Vor 27 Jahren hat er im Auftrag der Seemannsmission den Club im Hafen aufgebaut. Der heute zu den besten der Welt gehört.
Das jedenfalls fanden Seeleute von allen Kontinenten, die den Duckdalben 2011 zum „Best Seamansclub“ wählten. Und Jan Oltmanns bekam für sein Engagement im letzten Jahr, mit Mitte fünfzig, das Bundesverdienstkreuz. Oltmanns steigt die stählerne Wendeltreppe hoch, in den ersten Stock, zum „Raum der Stille“:
"'Raum der Stille' ist er gerade nicht. Weil wir die Tür offen haben. Wer die Tür hinter sich schließt, allein sein möchte, kann sich hier an verschiedene Gottheiten wenden. Wir haben verschiedene Altare. Einmal für die Taoisten, für die Sikhs, die Hindus, die Buddhisten, Juden, die Christen und natürlich auch – ein bisschen, weil nach Mekka ausgerichtet – für die Muslime."
Fern der Heimat ist es besonders hart
In der Mitte des Raums, in einem Globus aus geschweißten Stahldrähten, hängen kleine Zettel. Wünsche und Gedanken der Seemänner für ihre philippinischen Kollegen, die vor sechs Wochen durch den Taifun „Haiyan“ ihre Mitmenschen, ihr Hab und Gut verloren haben. Jan Oltmanns verabschiedet sich in sein Büro. Weihnachten steht vor der Tür, die große alljährliche Feier muss organisiert werden.
Unten am Tresen des Clubs sitzen die Seeleute, trinken ihr Bier. Kommen und Gehen, kaufen ein im kleinen Kiosk. Auf dem Sofa neben dem Tresen sitzt Bhupesh Seth, 23 Jahre alt, Seemann aus Indien. Die Weihnachtszeit, fern der Heimat, ist besonders hart, erzählt er.
"Ja, vielleicht ist da schon ein bisschen Heimweh. Meine Stadt vermisse ich. Meine Freundin wartet dort. Ich vermisse einfach die Zeit mit ihr."
Weihnachten wird Bhupesh Seth irgendwo auf den Atlantikwellen feiern, Sylvester an der Küste Brasiliens.
"Das ist unser Plan. Wir werden Brasilien am 31. erreichen. Und Weihnachten? Wir werden eine kleine Feier an Bord haben. Kein Problem! Es wird eine sehr gute Feier werden!"
Sein Kollege am Nebentisch, ein Seemann von den Philippinen, nickt. Er feiert Weihnachten in einem Hafen in Saudi-Arabien. Gegenüber, in der Ecke greift ein Matrose zur Gitarre, singt seine Lieder.
Seeleute sind sehr dankbar
Vorn neben dem Tresen steht Mattes Albrecht im kleinen Kiosk, verkauft Rasierer und Chips, die begehrte Schokolade oder Batterien, Kleinkram für den täglichen Gebrauch. Der 20-Jährige leistet hier seinen Bundesfreiwilligendienst, ist begeistert von der Aufgabe:
"Das Schönste ist einfach, dass man immer mit netten Leuten zusammenarbeitet. Dass die Seeleute einfach unheimlich dankbar sind. Und dass macht einfach unheimlich Spaß, die Seeleute lächeln zu sehen! Einfach zu wissen, dass man was Gutes tut! Das macht hier so am meisten Spaß!"
Er winkt rüber zu seinem jungen Kollegen. Der macht sich auf den Weg zum Hafenterminal, über die dunklen Straßen mit dem Kleinbus des Seemannsclubs. Sein Auftrag: neue Gäste von den Schiffen abzuholen. Neue Gäste, die etwas verfroren schon am Tor zum Containerterminal warten. Bester Laune, im Kleinbus auf dem Weg zum vielleicht besten Seemannsclub der Welt:
Briefe schreiben über Gefängniswände hinweg
von Franziska Rattei
André Galdia läuft über den Hof der Justizvollzugsanstalt Bremen. Wohin man blickt: hohe, rote Backsteinwände. Die meisten Gebäude sind knapp 150 Jahre alt. Vor einem macht Galdia Halt. Zum Eingang sind es ein paar Stufen - "Schule" steht auf dem Schild an der Hauswand.
Galdia ist Berufsschullehrer. Seit sieben Jahren arbeitet er im pädagogischen Dienst der JVA Bremen, unterrichtet Insassen und betreut die Gefangenenzeitschrift „Diskus 70“.
Im Redaktionsraum erwarten ihn schon vier Redakteure. Siggi Rothe steht vor einer großen Pinnwand und präsentiert seinen Kollegen die Inhalte der nächsten Ausgabe. Galdia setzt sich an einen kleinen Besprechungstisch und hört zu.
"Und das sind jetzt unsere aktuellen Themen. Da haben wir einmal – was wir gerade besprochen haben: den Einkauf – da wird der Thomas dann gleich was zu sagen. Dann haben wir hier eine Koryphäe von der Bremer Universität eingeladen, den Professor Dr. Feest. Es geht um das Strafvollzugsgesetz. Der Entwurf besteht seit 2011, und uns interessiert nun brennend, wann das Ding verabschiedet wird und durch die Bürgerschaft geht. Und wir wollen eben einen haben, der uns da mal detailliert Genaues erklären kann. Und deshalb kommt dieser gute Mann hier her, in die Redaktion, in den Knast, und erzählt uns da was zu."
Die Kontakte draußen brechen weg
Die Themen von "Diskus 70" sind bunt gemischt: Interviews mit Politikern, Gefangenen, Justizvollzugsbeamten. Es geht um geänderte Gesetze, Entwicklungen innerhalb und außerhalb der JVA und um Gefängnis-Alltagsthemen: Resozialisierung, offener Vollzug, Neuerwerbungen der Bibliothek. Die Redakteure recherchieren in Tageszeitungen und Büchern, hören Radio und sprechen mit ihren Mitinsassen. So ist auch die Idee für die Rubrik auf der letzten Seite entstanden: Die Kontaktanzeigen. Siggi Rothe hat seine Lesebrille vergessen, sein Kollege Thomas Derner hilft aus und liest vor.
"Hi Ihr Lieben, ich bin Philipp, 32. 177 Zentimeter und blau-grüne Augen. Zur Zeit bin ich in der JVA Köln in Haft und habe noch einige Zeit vor mir. Bin ein offener Mensch, suche Freundschaft oder mehr und über die Haft hinaus. Freue mich jetzt schon auf Eure Antworten."
Derner ist seit zwei Jahren wegen Betrugs in Haft. Ein Jahr muss er noch. Dann wird er wieder ein freier Mann sein; allerdings ist seine Ehe während der Zeit im Gefängnis kaputt gegangen – so geht es vielen Gefangenen. Die Kontakte "draußen" brechen weg, und den Mitinhaftierten kann man auch nicht alles erzählen, sagt Derner.
"Im Knastalltag ist es praktisch verboten, Gefühle zu zeigen, weil das wird als Schwäche ausgelegt, und dann ist man hier ganz unten in der Hierarchie, und das möchte eben auch keiner."
Mittlerweile darf der 50-Jährige das Gefängnis regelmäßig verlassen. "Der Subkultur im Knast", wie er es nennt, entkommt er so ein Stück weit. Gefangene ohne sogenannte Haftlockerungen leiden häufig noch mehr unter der Isolation, sagt André Galdia vom pädagogischen Dienst.
"Bei mir klagen viele Inhaftierte, mit denen ich spreche, auch über Einsamkeit. Sie sagen: Im Knast gibt’s keine echten Freunde. Man weiß nicht, wem man vertrauen kann. Viele wünschen sich einfach jemand Unbeteiligtes, mit dem sie offen reden können, wo sie offenen Austausch haben, und dann geht’s natürlich auch um Kontakte für die Zeit danach und Sozialkontakte außerhalb dieses Umfelds."
Die Kontaktanzeigen im "Diskus 70" kann jeder schalten – Inhaftierte genauso wie freie Bürger. Über Chiffrenummern können interessierte Leser darauf antworten, die Redakteure leiten die Briefe weiter. Bislang inserieren aber vor allem Gefangene, und "gemischte" Freundschaften sind noch rar. Aber das Projekt läuft auch erst ein gutes Jahr. Galdia ist zufrieden; auch wenn er anfangs skeptisch war.
"Wir haben natürlich befürchtet – oder uns gefragt – welche Art von Anzeigen werden das wohl werden; nicht, dass wir nur schlüpfrige Anzeigen da haben und das nicht gerade das Aushängeschild der Zeitung wird. Aber diese Befürchtungen haben sich eigentlich als unbegründet erwiesen. Es geht um Kontakte, um Briefkontakte, Brieffreundschaften – und mittlerweile denke ich, dass das auch ne ganz wichtige Rubrik auch für die Zeitung und für die Inhaftierten ist."
Eine Anzeige aufgeben – das hätte sich Uwe Teermann nicht getraut. Der 31-Jährige ist ein schüchterner Typ. Seit drei Jahren ist er in Haft, "und ein Ende ist nicht abzusehen" - so umschreibt er es. Trotzdem hat Teermann innerhalb der Gefängnismauern seine Freundin Susanne kennengelernt. Ein Mitinsasse hat die beiden miteinander verbandelt, den Briefkontakt zwischen ihnen hergestellt. Die ersten Zeilen aus der Frauen-JVA erhielt Teermann vor eineinhalb Jahren.
"Ja, da hat man sich sehr drüber gefreut. Und dann hab ich mich auch gleich hingesetzt und ne Antwort drauf geschrieben. Und das ist auch immer mal ne nette Abwechslung, wenn dann abends mal ein Brief kommt: Man liest den, man schreibt da drauf, dann hat man mal ein bisschen das Gefühl, man hat was Sinnvolles gemacht. Sonst, wenn die Tür zu ist, ist man ja mit sich alleine, da kann man ja mit sich nicht so viel anfangen."
Zwei Besuche pro Monat
Zu Beginn nutzten die beiden die Hauspost für ihre Briefe. So konnten sie Porto sparen, mussten aber davon ausgehen, dass Beamte mitlasen. Als die Themen persönlicher wurden, schickte Uwe Teermann seine Briefe lieber mit der normalen Post. So blieben sie ungeöffnet. Und nach einem halben Jahr Brieffreundschaft fand das erste Treffen zwischen ihm und Susanne statt.
"Da weiß ich noch, dass ich da sehr aufgeregt war, sie das erste Mal zu sehen. Ja, und wir waren uns gleich… also… Das hat gepasst."
Zwei Besuche pro Monat wurden den beiden gestattet: 60 Minuten zusammen an einem Tisch sitzen und reden. Keine Privatsphäre. Und doch haben sie sich ineinander verliebt und sich im Mai verlobt. Kurz danach wurde Susanne entlassen. Seitdem sind tägliche Telefonate zu kleinen Ritualen geworden. Aber Telefonieren ist teuer im Knast, deshalb hat sich am häufigen Briefkontakt nichts geändert.
"Wir haben uns über das Briefeschreiben ja auch kennengelernt. Und das möchte man natürlich dann auch beibehalten. Also, so ist das für mich. Dass man abends dann mal so die Gedanken aufschreibt, und ihr einen netten Brief schreibt. Das ist ja, finde ich, schon noch mal ein bisschen besser als wenn man sich am Telefon einfach nur unterhält."
Uwe Teermann glaubt fest daran, dass die Beziehung hält. Schließlich wisse seine Verlobte, wie es im Gefängnis zugeht. "Sie kann sich in meine Lage versetzen", sagt er. Im Februar wollen die beiden heiraten.
Russische Weihnachtsgeschäfte in Dresden
von Nadine Lindner
Raffaels "Sixtinische Madonna" in Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister
Raffaels "Sixtinische Madonna" in Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister© picture alliance / dpa Foto: Matthias Hiekel
Bloß raus aus der Winterkleidung, hier in der gut geheizten Garderobe der Gemälde-Galerie. Routiniert entledigen sich die acht Russen ihrer Mäntel, Schals und Mützen. Nach Zwinger und diversen Weihnachtsmärkten mit Glühwein, Stollen und Männchen aus trockenen Pflaumen stehen jetzt die alten Meister auf dem Programm. Ein Must für russische Touristen im Dresden
"Spasiba!"
Verwunderung zeichnet sich auf den Gesichtern der Gruppe ab - dann Freude. Schließlich bemüht sich die Garderobenfrau auf Russisch. Wenn auch mit weichem sächsischen Einschlag.
Russen sind gern gesehene Gäste in Dresden. Seit die russische Mittelschicht das Reisen entdeckt hat, kommen sie in Scharen in der sächsischen Landeshauptstadt vorbei. Mitunter nur für einen Tag – auf der Durchreise nach Prag, wie diese Gäste in der Gemäldegalerie – aber immer öfter eben. Und so gibt es neben englisch- längst russischsprachige Schilder in der Stadt und auch die Führer legen sich mächtig ins Zeug – wie der russischstämmige Willi Boos zum Beispiel:
Das Beste kommt gleich am Anfang: Die Sixtinische Madonna von Raffael. Über 500 Jahre alt, eines der berühmtesten Gemälde der italienischen Renaissance.
Mit ihrem milden Lächeln und dem festen Griff um das nackte Jesus-Kind hat sie schon den russischen Dichterfürchsten Fjodor Dostojewski entzückt, einem der ersten russischen Dresdenfans. Im Neunzehnten Jahrhundert, als er sogar ein paar Jahre in der Stadt lebte, saß er oft Stunden vor den Bild, um es zu bewundern.
„Unter seinem Pinsel entstanden Götter. Raffael arbeitete an jedem Bild viele Jahre und feilte an jedem Teil viel herum; so schuf er Meisterwerke.“
So teilte der Dichter 1845 seine Begeisterung für die Madonna in einem Brief an seinen Bruder Michail.
Manch russischer Besucher erinnert sich noch an die Madonna aus seiner Kindheit
Nachvollziehbar findet das dieser Mittfünfziger, der sich ganz verträumt auf einer Bank vor dem Raffael niedergelassen hat
"Die Madonna ist besonders interessant, nicht nur für Katholiken oder Lutheraner, sondern auch für Leute von anderen Konfessionen. Das ist also ein Teil der Kultur Europas."
Für Stephan Adam von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist klar, dass die Sixtinische Madonna etwas ganz besonderes ist, ein…
„Sehnsuchtsbild vielleicht deshalb, weil die Veehrung der Gottesmutter in Russland grundsätzlich eine große Rolle spielt.“
In den Fünfziger Jahren war die Madonna noch in Moskau zu sehen, die sowjetischen Truppen hatten das Bild aus Dresden mitgenommen und zehn Jahre behalten. Manch russischer Besucher erinnert sich so noch an die bezaubernde Madonna aus seiner Kindheit. Aber für solche Erinnerungsschwenke hat die Gruppe keine Zeit – weiter geht’s.
Gibt es Fragen? Ein prüfender Blick – Nein, dann können wir weitergehen.
Routiniert schleust Boos die Gruppe durch die Alten Meister. Raffael, Rubens, Rembrandt. Den Niederländer finden die Russen zu düster. Zum Glück kommt bald Tizians schlummernde Venus – eine nackte schlafende Frau – viel erfreulicher.
Die Kunst, aber auch die Geschichte zieht diese Touristen nach Dresden. Faszinierend finden sie den Wiederaufbau der Frauenkirche, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.
„Geschichte ist Geschichte, die kann man nicht wiederholen. Aber ich will mehr erfahren, was hier passiert ist, mit Dresden, mit Deutschland.“
Neben den Alten Meistern, hat Dresden aber natürlich noch andere Sehnsuchtsorte für russische Touristen: Die Altmarkt Galerie zum Beispiel, eine große Shopping Mall direkt neben der Frauenkirche. Hier gibt es mittlerweile Infopunkte, an denen russischsprachiges Personal arbeitet.
"Der russische Markt hat eine große Bedeutung, die russischen Gäste nehmen jedes Jahr zu. Das ist beeindruckend, dass wir jedes Jahr zweistellige Zuwachsraten haben."
Viel Gold, viel Blau und ganz viel Hochglanz. Überaus edel kommen die Image-Broschüren daher, die Bettina Bunge auf ihrem Schreibtisch verteilt. Sie ist Geschäftsführerin der Dresden Marketing GmbH. Gerade im Dezember und Januar boomt das Geschäft, wenn die Weihnachtsmärkte locken und Anfang Januar die russischen Ferien beginnen
Der Vorteil sei, dass russische Gäste etwas härter im Nehmen seien, was das Wetter angeht, meint Bunge. Sie fürchten sich auch bei Minusgraden nicht vor einem Spaziergang durch die Altstadt.
„Russische Gäste sind – sagen wir mal - wetterunabhängig. Denen macht das nichts aus, wenn es mal ein bisschen kälter und ungemütlicher ist. Dann reisen sie trotzdem sehr gerne.“
Strohsterne, Tannengrün und pappsüßer Kinderpunsch
von Lisa Weiss
Die vielen Holzstände sind mit Tannenzweigen und Lichterketten geschmückt, an vielen Glühweinständen stehen die Leute, trinken und haben Spaß. Also, ganz objektiv gesehen - eigentlich ist der Rosenheimer Christkindlmarkt ja schon schön…
Eigentlich. Mein Problem ist: Ich komme aus einer Weihnachtsmarkt-Familie.
Meine Mutter verkauft alles, was ein Haus weihnachtlich macht: Strohsterne, Räuchermännchen, Kunstharz-Nikoläuse. Nur unser Haus war nie weihnachtlich. Ich habe nie mit meiner Mutter Plätzchen gebacken, nie Weihnachtsdekoration gebastelt, nie die Kerzen am Adventskranz angezündet oder die Krippe aufgebaut. Denn meine Eltern waren in ihrem Christkindlmarktstand.
Von 10 Uhr morgens bis acht Uhr abends, sieben Tage die Woche, bis Heilig Abend, 12.00 Uhr. Und ich viel zu oft mit dabei. Meine Advents-Erinnerungen sind: Kälte, Langeweile und viel zu viel pappsüßer klebriger Kinderpunsch. Fremde Menschen am Christkindlmarkt, die ohne mich zu fragen, mit ihren Hände in meine blonden Locken greifen und mit zuckersüßem Lächeln flöten: Mei, wia a kloans Engal – wie ein kleiner Engel. Ich hätte sie am liebsten gebissen.
Die Messehallen auf zehn Grad runtergekühlt - im Sommer
Was an der Adventszeit schön sein soll, habe ich nie verstanden. Schon das Konzept Weihnachten hat mich als Kind nachhaltig verwirrt. Als ich klein war, habe ich gedacht, ich hätte in der Weihnachtszeit Geburtstag. Ich bin im August geboren. Allerdings zur Zeit der Frankfurter Weihnachtsmesse – natürlich ein Pflichttermin für meine Eltern. Man kann sich das so vorstellen: Eine Klimaanlage kühlt die Messehallen auf zehn Grad runter – im Hochsommer. Als Engel verkleidete Hostessen verteilen Plätzchen, künstlicher Schnee rieselt von der Decke, Plastikweihnachtsmänner singen "White Christmas". Das hat mich traumatisiert.
Später habe ich selbst auch am Christkindlmarkt verkauft, natürlich – Familienbetrieb. In einer Holzhütte, vorne offen, mit zwei kleinen Heizstrahlern auf dem Boden. Bei Minusgraden reicht das nicht aus. Du hast Ski-Unterwäsche und dicke Socken an und trotzdem kannst du deine Finger und Zehen vor Kälte kaum mehr bewegen. Und gleichzeitig musst du mit zusammengebissenen Zähnen die Kundschaft anlächeln, Kunstharz-Schneemänner oder ähnlichen Weihnachtskitsch über den Tresen reichen. Überhaupt – Weihnachtsdeko. Wenn du täglich damit zu tun hast, kannst du das Zeug einfach nicht mehr sehen. Die Engel, die meine Mutter verkauft – bei uns in der Familie heißen sie nur: Geflügel.
"Is no mehra von dem roten Geflügel obn im Lager – Naa des is aus, des müssma nachbestellen!"
Und das alles untermalt von Weihnachtsliedern. Am Christkindlmarkt laufen genau zwei Weihnachts-CDs in Endlosschleife. Immer wieder Ihr Kinderlein kommet, Kling Glöckchen Klingelingeling, Schneeflöckchen Weißröckchen… Ahhhhh.
KINDERCHÖRE!
Nur am Sonntagnachmittag wird die Musik abgeschaltet. Kein Grund zur Freude. Es wird noch schlimmer: KINDERCHÖRE!!! Entzückende kleine Jungen und Mädchen mit Piepsstimmchen – die dich langsam aber sicher mit ihrem falschen Gesinge in den Wahnsinn treiben.
Selbst heute noch werde ich aggressiv, wenn ich die Waschmaschine meines Nachbarn durch die Wand höre. Die spielt nämlich Jingle Bells, wenn sie fertig ist. Bis zu zehnmal hintereinander, wenn sie niemand abstellt. Und wenn dann wieder Dezember ist, wenn wieder überall die Plastiknikoläuse aus dem Boden schießen, wenn der Glühweinduft die Luft verpestet, meine Freunde mit glänzenden Augen davon erzählen, wie sie ihren Christbaum in den kitschigsten Farben schmücken - dann würde ich am liebsten schreien: Lasst mich in Ruhe, ich habe schon Weihnachten gefeiert, wochenlang. Ich habe genug Weihnachten gefeiert für den Rest meines Lebens. Ich kann keinen Glühwein mehr sehen und kein Weihnachtslied mehr hören.
Außer eines: Stille Nacht, heilige Nacht. Das wird nämlich nur am Heilig Abend gespielt. Und das bedeutet, ich hab’s fast überstanden: Weihnachten ist gleich vorbei. Endlich wieder ein Jahr Ruhe.