Heidelberger Stückemarkt

Theaterfestival mit Istanbuler Gästen

05:07 Minuten
Fatih Koyunoğlu, Erdem Akakçe, Bülent Çolak vom Theater Tiyatroadam gucken in die Kamera und halten jeweils eine Hand hinter die Ohren, als ob sie etwas Bestimmtes hören wollen.
Eines der Gastspiele auf dem Heidelberger Stückemarkt: "Meçhul Paşa – Die Geschichte einer verbotenen Zeitung" © Emre Mollaoğlu
Von Marie-Dominique Wetzel  · 27.04.2019
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Flüchtlinge aus Syrien, das Patriachat und Meinungsfreiheit – Themen haben türkische Theaterautoren genug. Eine Auswahl, vor allem aus Istanbul, können Besucher und Besucherinnen beim Heidelberger Stückemarkt erleben. Dieses Jahr ist die Türkei Gastland.
Katrina Mäntele bekommt immer noch leuchtende Augen wenn sie von ihrer Reise in die Türkei erzählt. Zwei Mal ist die Produktionsleiterin des Heidelberger Stückemarkts nach Istanbul und einmal nach Ankara gereist und hat dort zwei völlig verschiedene Theaterwelten erlebt:
"Die Freie Szene in Istanbul ist unglaublich stark und ein riesiges Staatstheater gibt es in Ankara – die machen das Programm für alle staatlichen Bühnen in der gesamten Türkei."
Während das Staatstheater in Ankara inzwischen anscheinend Probleme hat, türkische Autoren zu finden, die für seine Bühnen neue Stücke schreiben, gibt es in Istanbul ein riesiges Angebot an neuen Texten für die freie Szene. Gespielt wird an den unterschiedlichsten Orten: in Cafés, auf Dachterrassen und in Hinterhöfen, in leerstehenden Gebäuden und einfach überall. So ein theater-besessenes Publikum hat sie noch nirgendwo erlebt, erzählt Katrina Mäntele: über 150 Theatervorstellungen gibt es tagtäglich in der 15 Millionen-Metropole Istanbul – und alle gut besucht: "Das ist wirklich ein sehr junges und sehr diverses Publikum – ja, da waren wir schon ein bisschen neidisch."

Istanbuler Theatermacherin hat Teilnehmer ausgesucht

Katrina Mäntele hat bei ihren Recherchen die junge Istanbuler Theatermacherin Gülhan Kadim kennengelernt. Sie ist in gewisser Weise typisch für die dortige Theaterszene. Gemeinsam mit Freunden hat sie vor ein paar Jahren ein eigenes, kleines Theater gegründet, das "Kumbaracı50" - das ist ganz einfach die Adresse des Theaters mitten im Stadtteil Beyoglu auf der europäischen Seite von Istanbul. Gülhan Kadim hat eigentlich Geologie studiert, aber schon an der Uni Schauspielkurse besucht. Inzwischen arbeitet sie nicht nur als Schauspielerin und Performerin, sondern führt auch Regie, gibt Schauspielunterricht und leitet eben ein kleines Theater. Das ist nicht ungewöhnlich in der freien Szene, schließlich gibt es keine finanziellen Unterstützungen von öffentlicher Hand - aber das Theater ist ihre große Leidenschaft und ein wichtiger Ort der Begegnung, sagt Gülhan Kadim:
"Die Bühne ist der Ort, wo die Menschen atmen können. Wir teilen alle unsere Gefühle, unsere Sorgen und Ängste mit unserem Publikum. Unser Land verändert sich gerade sehr schnell und tiefgreifend. Wir versuchen, dass in unseren Stücken aufzufangen. Aber auch mal andere Perspektiven aufzuzeigen. Nicht immer alle aus dem gleichen Fenster zu schauen."
So gibt es zur Zeit viele Stücke über die Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien, über Meinungs- und Kunstfreiheit und zur "MeToo"-Debatte beziehungsweise die Überreste des türkischen Patriarchats. Gülhan Kadim hat als Theaterscout zusammen mit dem Festivalteam Autorinnen und Autoren ausgesucht, die nun beim Heidelberger Stückemarkt ihre neuen Texte präsentieren. Und sie hat mehrere Produktionen aus der freien Szene in Istanbul ausgewählt, die dort jetzt als Gastspiele gezeigt werden.

Türkei als Gastland ist auch politisches Signal

Der Intendant des Heidelberger Theaters, Holger Schultze, ist begeistert von der Vielfalt der Stücke, sowohl inhaltlich als auch bühnenästhetisch:
"Wir haben wirklich ganz unterschiedliche Stücke. Ein Stück über die Pressefreiheit in Form einer Boulevardkomödie – wie kann man Kritik noch verpacken. Ein Stück mit Tanz – neue Formen entstehen ein Monolog mit einer Topfpflanze. Das alles zu zeigen, ist ungeheuer spannend. Und ich denke, es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen."
Die Entscheidung, die Türkei nun schon zum zweiten Mal nach 2010 als Gastland zum Heidelberger Stückemarkt einzuladen, möchte Holger Schultze durchaus auch als politisches Signal verstanden wissen. Seiner Meinung nach ist es wichtig, jetzt sehr genau auf die Türkei zu schauen und auch Solidarität mit den Theaterschaffenden dort zu demonstrieren. Viele junge, engagierte und kreative Menschen verlassen das Land, erzählt Gülhan Kadim:
"Ja, unsere Situation ist jetzt schwieriger geworden. Wobei man sagen muss, dass es noch nie einfach war, in der Türkei Theater zu spielen. Es gab immer enge Grenzen, aber jetzt werden sie immer enger und das Theaterspielen wird von Tag zu Tag schwieriger. Und wir suchen ständig nach neuen Wegen, um weiter machen zu können. Diese Situation ermüdet uns sehr, aber auf der anderen Seite sehen wir, dass es uns zwingt, besonders kreativ zu sein!"
Gülhan Kadim ist stolz darauf, jetzt die vielfältige Theaterszene ihrer Stadt dem deutschen Publikum vorstellen zu können und gespannt auf die Gespräche, die sich daraus entwickeln – ein Austausch, der ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen viel bedeutet.
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