Sterbendes Kunsthandwerk

Blumen aus Wallroda

07:59 Minuten
Firmenchefin Heide Steyer, eine ältere Dame in kurzärmeliger Bluse, ist umringt von Hüten mit großen Kunstblumen in verschiedenen Größen und Formen. Ihre Manufaktur im sächsischen Wallroda stellt die Stoffblumen her.
Blütenträume aus Stoff: Heide Steyer lebt für ihre Blumenmanufaktur in Wallroda. Auch die verstorbene Queen Elizabeth II. trug die Steyerschen Kreationen an ihren Hüten. © picture-alliance / dpa / Matthias Hiekel
Von Alexandra Gerlach · 23.11.2022
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Ob britische Royals oder internationale Modekonzerne: Fast alle kaufen ihre Kunstblumen für Hüte, Schuhe und Kleider in der Blumenmanufaktur von Heide Steyer in Sachsen. Die Chefin liebt ihr Metier. Dennoch ist bald Schluss, weil der Nachwuchs fehlt.
Schweren Schrittes und sehr vorsichtig geht Heide Steyer über das Kopfsteinpflaster in ihrem Vierseithof. Die 79-Jährige führt die Besucher in die Produktion, ganz an das Ende des ehemaligen Stallgebäudes. Hier steht ein großer Holztisch und ein schlichtes hohes Schwerlastregal voller Stoffrollen in verschiedensten Farben. Leuchtendblauer Samt neben violettfarbenem, knisternden Seidentaft, weiße Baumwolle neben gelber Atlasseide und vieles mehr.
Dieses Material würde noch für zehn Jahre Produktion reichen - ohne dass neu eingekauft werden müsste, rechnet Steyer vor. Doch diese Mengen könne sie aufgrund ihres hohen Alters und der Verkleinerung ihres Betriebes schon länger nicht mehr verarbeiten.

In kleinen Schritten zum Kunstwerk

In vielen kleinen Schritten entsteht so eine Seidenblume: Zunächst wird der Stoff in Schichten gelegt, mit Appretur verfestigt, dann können an der elektrischen Stanze die Blütenblätter als Rohlinge ausgestanzt werden. Über mehrere 1000 Stanzeisen verfügt die Manufaktur, nur ein Bruchteil davon hängt jetzt fein säuberlich geordnet in einem Regal neben der Maschine.
Bis zu 24 Angestellte haben hier zu Hochzeiten in der Manufaktur gearbeitet und Blüten gebunden. Heute sitzt in diesem sonnigen, hohen Raum nur noch die 61-jährige Angela Reinhardt. Seit 23 Jahren ist sie im Betrieb und liebt ihre Arbeit.
Mit großer Leidenschaft verfolgt sie die Berichterstattung im Fernsehen über royale Ereignisse. Häufig begegnet sie dort ihren Blumen in den bewegten Bildern wieder.
Eine Mitarbeiterin der Kunstblumenmanufaktur Heide Steyer sitzt an ihrem Arbeitstisch und fertigt Blüten aus Stoff. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Steckkissen, daneben Blütenblätter aus Stoff sowie bereits fertiggestellte Blumen. Die Frau trägt eine Brille und hat kurze graue Haare.
Steyer-Mitarbeiterin Angela Reinhardt beherrscht noch die Kunst, ein eingefärbtes, künstliches Blütenblatt mit Hilfe von Wärme so zu formen, dass es natürlich aussieht und seine Form dauerhaft behält.© Deutschlandradio / Alexandra Gerlach
Als eine der Letzten beherrscht Angela Reinhardt noch die Kunst der sogenannten Handvorrichtung. Eine Technik, bei der mit großer Wärme ein eingefärbtes, künstliches Blütenblatt am Rand so verformt werden kann, dass es natürlich aussieht und seine Form dauerhaft behält, wie Heide Steyer erläutert.
"Das ist eine Verformung, die schon vor 300 Jahren gemacht worden ist. Mit heißen Kugeln und heißen Messern, über einem Hirsekissen, weil das nachgibt, das sind dann nur solche Blätter, die verformt werden. Man muss natürlich die Angst überwinden, dass man sich verbrennt."

Sie ist die Letzte in dem Metier

Nur noch ein Jahr lang hat Angela Reinhardt zu arbeiten, bis zur Rente. "Dann macht es niemand mehr, dann gibt es das nicht mehr, dann ist wirklich nur noch Chanel in Paris", sagt sie. Dieses Kunsthandwerk stirbt aus in Deutschland, wenn nichts passiert. Und dabei gibt es nach wie vor großen Bedarf in den Modehäusern, bei Stylisten, Hutmachern und in der Schuhindustrie.
Die edle Seidenblume als kostbares Accessoire hat Tradition. Auf der Hochzeit von William und Kate sollen es 45 Kreationen auf Damenhüten gewesen sein, die aus dem sächsischen Wallroda stammen. Und auch bei der Rennwoche im englischen Ascot sind die handgefertigten Seidenblumen aus der Manufaktur Steyer seit Jahrzehnten nicht wegzudenken, erzählt Firmeninhaberin Heide Steyer stolz: Zwei Drittel der Blumen auf den Hüten seien früher aus Wallroda gewesen.

In Malaysia trug die Queen den Klatschmohn

Vor allem die kürzlich verstorbene britische Queen mit ihrem Faible für Hüte trug häufig prachtvolle handgemachte Seidenblüten aus der Manufaktur Steyer. Heide Steyer steht an einer mit unterschiedlichsten Blüten gefüllten Glasvitrine und deutet auf eine vanillegelb-farbene Edelrose aus Samt:
"Die da oben, die hat sie auch getragen, das ist eine Samtrose, während diese aus Seidenatlas ist. Die hat sie in royalblau auf einem türkisen Hut, und das war zu einem Berlinbesuch, als sie in Berlin aus dem Flugzeug stieg, da hatte sie diesen Hut auf."
Persönlichen Kontakt zu den Royals hatten die Steyers nie, wohl aber zu deren Hutmachern, Stylisten und Modisten, die mehrfach im Jahr die Messeauftritte der Seidenblumenmanufaktur in Paris und London nutzten, um sich Neuheiten anzusehen und Ware zu ordern.

Die Blumen sind ihre Kinder

Heide Steyer hat viele dieser täuschend echt aussehenden Blüten selbst entworfen und gebunden. "Das sind alles meine Kinder! Das ist die Blume – ein Klatschmohn –, die die Königin in Malaysia getragen hat, da war sie auch noch recht jung."
Die Blumen-Karriere der Steyers beginnt aber nicht in Sebnitz, sondern in West-Berlin. 1970 übernimmt Heide Steyer, eine gelernte Bankangestellte, gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Kaufmann, durch Kauf die Produktion der renommierten Blumenmanufaktur Morgenstern. Die hatte ihre Wurzeln bis 1952 im sächsischen Sebnitz. 
Sie bringen den Betrieb unter ihrem Namen zu neuer Blüte und machen ihn international mit Messeauftritten in Paris und London. Sie knüpfen Kontakte über den Atlantik in die USA.

Nach dem Mauerfall zurück nach Sachsen

Nach dem Mauerfall vergeben sie Aufträge in Heimarbeit nach Sachsen, dorthin, wo die Kunstblumen-Produktion einst ihren Sitz hatte. Dort gibt es immer noch gut ausgebildete Facharbeiter, und die sind schließlich auch ausschlaggebend für den Umzug von Berlin nach Wallroda in Sachsen. Dort erwarb das Unternehmerpaar einen sanierungsbedürftigen Vierseithof und baute ihn aus.
Die Wallrodaer Blumenmacher stanzen und färben, formen und kleben ihre Blüten auch für große Designer und Haute Couture-Marken, wie Valentino, Dior, Escada, Talbot Runhof, Dries van Noten, Wunderkind und viele andere.
Klassisch oder exotisch, pastellig oder knallig, fein-filigran, oder groß-opulent, Blüten und Federn schmückten Braut-, Abend- oder Cocktailkleider und ganze Bilderstrecken in Hochglanzmagazinen. 

Claudia Schiffer mit Steyer-Blumen

Heide Steyers Lieblingsfotoserie: "Als Karl Lagerfeld sein Starmodel Claudia Schiffer in Frida Kahlo verwandelt hat. Da hatte Claudia Schiffer den ganzen Kopf mit unseren Blumen voll, das war in der Vogue!"

Die heute 79-Jährige schaut stolz auf das Erreichte und blättert mit sichtlicher Freude in den alten Vogue-Heften. Doch in ihre Freude mischt sich auch Kummer. Seit gut zehn Jahren suchen sie und ihr knapp 80-jähriger Ehemann – beide sind sie inzwischen gesundheitlich angeschlagen – nach einem Nachfolger für ihren Betrieb, bislang ohne Erfolg.

Nachfolger gesucht

Für die Zukunft ihres Lebenswerkes in Wallroda hat Heide Steyer einen Traum: "Es wäre die perfekte Lehrwerkstatt!"
Eine traditionsreiche Produktion mit Schauwerkstatt, Materiallager und viel Platz für Kreativität, mitten in der sächsischen Provinz sucht also einen Nachfolger, der es ernst meint mit diesem künstlerischen Handwerk.
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