Hebräische Bücherei Berlin

Lesen in der Muttersprache

08:25 Minuten
Das Bild zeigt links die Gründerin und Leiterin der "Hebräischen Bücherei" in Berlin Michal Zamir und rechts die Autorin Orna Akad.
Michal Zamir (l.), die Leiterin der "Hebräischen Bücherei" in Berlin, hier zusammen mit der Autorin Orna Akad. © Igal Avidan
Von Igal Avidan · 12.04.2019
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In einer Berliner Wohnung befindet sich eine hebräische Privatbibliothek. Die Künstlerin Michal Zamir hat sie gegründet. Hier treffen sich regelmäßig Israelis und Deutsche, die gut Hebräisch sprechen - zu Lesungen in Wohnzimmer-Atmosphäre.
Michal Zamir nennt sich selbst einen "Lesewurm". Nein, eine Leseratte sei sie nicht. Die 44-jährige liest ausschließlich Bücher in ihrer hebräischen Muttersprache – und das gern und häufig. Lesewurm, "Tolaat Sfarim", nennt man im Hebräischen Menschen, die leidenschaftlich lesen.
Als die Künstlerin Michal Zamir mit Mann und zwei Kindern 2009 nach Berlin kam, brachte das Ehepaar 2000 eigene hebräische Bücher mit, vor allem Romane, Gedichtbände und Philosophie.
Bald brauchte sie neue Bücher und Gleichgesinnte zum Austausch: "Als wir hierher kamen, suchten wir hebräische Bücher und eine hebräische Gemeinde für uns und für unsere Kinder. In der Jüdischen Gemeinde haben wir nichts gefunden ... . Sie haben eine Bibliothek, aber das ist meistens auf Deutsch und Russisch und niemand spricht dort Hebräisch."

Anfangsidee: Lieber tauschen statt bestellen

Bücherbestellungen aus Israel waren für Michal Zamir zu teuer, Bestellungen im Internetversand damals noch nicht üblich und bald wurde es für sie unangenehm, Freunde und Verwandte darum zu bitten. Sie startete daher in Berlin einen entsprechenden Austauschdienst. Das Interesse war so groß, dass sie 2012 die "Hebräische Bücherei Berlin" gründete – im Wohnzimmer in Berlin-Wilmersdorf.
Dort empfängt sie einmal im Monat vor allem Israelis, aber auch Deutsche mit guten Hebräisch-Kenntnissen. Der Eintritt ist frei, um Spenden freut sie die Gastgeberin. Die Gäste stöbern durch die Buchregale und tauschen sich bei Kaffee und Kuchen über Literatur und israelischen Alltag in Berlin aus.
Der Jazz-Musiker Arik Strauss ist Stammgast. Seit zwei Jahren lebt er in Berlin.
"Warum ich hier bin? Weil ich gern lese und es hier viele Bücher gibt! Die meisten Bücher sucht meine Frau aus, ich nur ein oder zwei. Diesmal hat sie Nir Bar'ams Roman 'Machzir Hachalomot' ausgesucht. Auf Deutsch 'Der Mann, der die Träume zurückbringt', das klingt interessant."

Tausende Bücher von Poesie bis Psychologie

Michal Zamirs Wohnzimmer ist längst zu eng für all die gespendeten 10.000 Werke. Ein Teil lagert jetzt im Keller. Auf den Regalen im Wohnzimmer findet man überwiegend Literatur auf Ivrit - von israelischen Autoren und Übersetzungen.
"Die Bücher sind nach dem Nachnamen des Autors alphabetisch geordnet – vom Buchstaben Alef bis Tav", erklärt Hier findet man alle Sachbücher, dort sind Gedichtbänder, Biografien, Kochbücher und Psychologie. In dieser Ecke sind die Kinder- und Jugendbücher. Die großen Stapel an der Wand und im Flur sind die Bücher, die ich diese Woche als Spende bekommen habe, dieser Stapel hier ist hebräische Literatur auf Deutsch."
Vor allem Israelis schenken Zamir Bücher für die kleine Bibliothek. Viele Romane und Sachbücher hat sie aus zwei Nachlässen bekommen. Häufig spenden auch Schriftsteller ihre Bücher, wenn sie bei Zamir eine Lesung halten. Auf dem Regal im Flur findet man CDs und DVDs – direkt gegenüber der überfüllten Garderobe.
Eine junge Israelin, die hier zum ersten Mal ist, will ein Buch ausleihen. "Du muss zuerst ein Formular mit allen Angaben ausfüllen und du musst versprechen, die Bücher irgendwann zurückzubringen", sagt Michal Zamir.

Israelischer Schriftsteller liest in Strümpfen

Heute ist der israelische Schriftsteller und Filmemacher Ron Segal zu Gast. Er stellte im Wohnzimmer seinen Roman "Muzikat Chatulim" oder "Katzenmusik" vor. Darin erzählt er die Geschichte der vielen herrenlosen Katzen aus Ost-Jerusalem. Diese hatten ihre palästinensischen Besitzer verloren. Die Katzenbesitzer ergriffen im Sechstagekrieg von 1967 die Flucht.
"Ich mache Lesungen in Deutschland seit 2014", erzählt Ron Segal. "Und die finden immer auf Deutsch statt. Und alle tragen Schuhe. Es ist für mich sehr angenehm, heute auf Ivrit und in Strümpfen vorzulesen."
Während der Veranstaltung sitzt Michal Zamir direkt neben Ron Segal und hält ein Smartphone in der Hand. Eine Stamm-Besucherin, die an diesem Abend krank zu Hause bleiben muss, kann übers Handy die Lesung verfolgen und durch Michal sogar einige Fragen stellen:
"Ich mache das alles kostenlos. Und die Künstler und Schriftsteller machen das auch kostenlos. Weil für mich ist es wichtig, hebräische Kultur nach Berlin zu bringen, nicht nur für die hebräische Gemeinde, aber auch für Deutsche, die Interesse an hebräischer Kultur haben. Hebräische Kultur ist nicht nur Shoah und nicht nur der Konflikt."

Ein Wohnzimmer der besonderen Art

Ein häufiger Gast in Michals Wohnzimmer ist der israelische Dramatiker und Schriftsteller Erez Majerantz. Er lebt in Berlin seit 2016, aber arbeitet übers Internet weiterhin in Israel - als Redakteur und Medienberater:
"Ich komme einmal pro Monat fast zu dieser Bibliothek. Für mich ist es mehr als eine Bibliothek. Es ist auch eine Art von Gruppentherapie für israelische Menschen, die einen alternativen Raum für ihre Kultur suchen.
Größere Veranstaltungen der Hebräischen Bibliothek finden im Kunst- und Kulturzentrum ACUD statt, zum Beispiel mit dem in Israel lebenden Illustrator und Buchautor Yirmi Pinkus.
"Und das war ein echter Genuss", sagt Yirmi Pinkus. "Der Abend war sehr gut vorbereitet: Die Fragen waren fundamental und das Publikum oder die Leute, die da waren, waren engagiert. Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich Interesse in Berlin für hebräische Literatur gibt. Natürlich, die meisten Menschen waren Israelis oder Ex-Israelis. Sie konnten jedenfalls Hebräisch, weil meine Bücher sind nicht auf Deutsch herausgegeben."
Im Mittelpunkt des Abends stand der Roman "Singles und Witwen". Er ist 2017 auf Hebräisch erschienen. Yirmi Pinkus erzählt darin die Geschichte der betagten und pflegebedürftigen Witwe Bertha Blumenthal. Ihr letzter Wille besteht darin, ihrer Schwiegertochter den Zutritt in ihre Wohnung bis zum letzten Atemzug zu verweigern.

Aufmerksames und geduldiges Publikum

Ungewöhnlich für Yirmi Pinkus war auch, dass er nicht nur vorlas, sondern auch an einem gründlichen Gespräch teilnahm und dass die Zuhörer so lange aufmerksam blieben. In Israel habe man nicht so viel Geduld.
Der israelischen Dichterin Zehava Khalfa gefällt, dass man bei Michal Zamir ein Buch für jeden Israeli in Berlin findet. Nun dreht sie einen Dokumentarfilm darüber:
"Ich sehe die hebräische Bibliothek als Kulturschatz hier in Berlin. Ob es eine Zukunft gibt für die Hebräische Bibliothek ist abhängig von uns Eltern: Wie werden wir unsere Kinder entwickeln - und wie werden wir ihnen das Hebräisch beibringen."
Welche Zukunft hat die hebräische Literatur in Berlin? Werden ihre Kinder hebräische Bücher lesen können? Michal Zamir wird nachdenklich: "Das ist schwierig zu sagen. Wir bekommen viele Bücher von Israelis, die hier in Berlin schon 30 oder 40 Jahre wohnen und ihre Kinder können kein Hebräisch. Sie können die Bücher nicht lesen. Die Bücher stehen wie Grabsteine im Regal. Ich versuche diese Grabsteine zum Leben zu bringen."
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