Hautfarbe als Messwert

Wie medizinische Tests Rasseunterschiede konstruieren

08:02 Minuten
Illustration einer Lungeninfektion
Ein Lungenfunktionstest legt für Weiße und Schwarze Menschen unterschiedliche Normalwerte zugrunde, sagt die Ärztin und Professorin Staci Leisman. © imago / Science Photo Library
Von Thomas Reintjes · 20.08.2020
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Ob bei der Lungen- oder der Nierenfunktion - es gibt Bereiche in der Medizin, da werden bei Schwarzen und Weißen Menschen unterschiedliche Werte zugrunde gelegt. Mit Folgen für die Behandlung. Doch es wächst Widerstand gegen diese Form von Rassismus.
Medizin ist oft abhängig von Formeln und Algorithmen. Auf der einen Seite geben Ärzt*innen Messwerte ein - Körpergröße, Gewicht, Alter, Blutzuckerspiegel, auf der anderen Seite kommen Diagnosen heraus: übergewichtig, diabetesgefährdet. Scheinbar ganz objektiv, faktisch und unumstößlich.
In viele dieser Formeln fließe auch das äußere Erscheinungsbild ein - Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit -, sagt Staci Leisman. Sie ist Ärztin und Professorin an der Icahn Medizinhochschule in New York.
Dort hält sie vor Studierenden regelmäßig einen Vortrag über rassistische Formeln. Eines ihrer Beispiele: ein Lungenfunktionstest, der für Weiße und Schwarze Patient*innen unterschiedliche Normalwerte zugrunde legt.
"Man hat herausgefunden, dass Schwarze weniger Luft ausatmen als Weiße. Das wird auf die Physiologie zurückgeführt, also darauf, dass Schwarze Menschen irgendwie anders gebaut sind, einen anderen Körperbau haben. Dass sie weniger Luft ausatmen hat irgendwas damit zu tun, dass sie Schwarz sind. Das liege dem Unterschied zugrunde."

Konstruierte Rassenunterschiede

Aus den Messergebnissen wurde also ein angeblicher Rassenunterschied konstruiert. Und seither gilt: Was für eine Schwarze Patientin oder einen Schwarzen Patienten ein normales Lungenvolumen ist, ist bei Weißen unterhalb des Normalbereichs.
Dabei gebe es gar keine biologische Grundlage dafür, sagt Staci Leisman. Und sie kennt weitere Beispiele, wo Patient*innen verschiedener Hautfarbe unterschiedlich behandelt werden: wenn es darum geht festzulegen, wie hoch das Risiko bei einer Herzoperation ist, wie hoch das Risiko einer Harnwegsentzündung ist oder wie hoch das Risiko ist, wenn eine Frau nach einem Kaiserschnitt ein weiteres Kind vaginal gebären möchte.
Es gibt zwar einzelne Populationen, bei denen Genvarianten dazu führen, dass das eine oder andere Krankheitsrisiko höher oder niedriger ist. Aber dies auf alle Afroamerikaner*innen oder alle Schwarzen Menschen zu verallgemeinern, lässt sich kaum rechtfertigen.

Unterschiedliche Nierenfunktionswerte je nach Abstammung

Etwa bei der Nierenfunktion. Schicken Ärzt*innen eine Blutprobe ins Labor, bekommen sie zwei Nierenfunktionswerte zurück: einen für Menschen europäischer Abstammung und einen für Menschen afrikanischer Abstammung. Je nach verwendeter Formel wird der Wert bei Schwarzen Menschen mit einem Faktor von 1,16 oder 1,2 multipliziert.
"Dadurch scheint es, als habe ein Schwarzer Patient besser funktionierende Nieren als ein weißer Patient. Und das bedeutet, dass Schwarze Patienten später behandelt werden."
Paloma Orozco Scott ist eine Studentin, die Staci Leismans Vortrag über rassistische Formeln gehört hat. Das Thema hat sie nicht mehr losgelassen. Zusammen mit einer Kommilitonin schrieb sie eine Petition an die Leitung des größten New Yorker Klinikverbunds Mount Sinai, zu dem ihre Hochschule gehört.
Die Forderung: Der Verzicht auf den Korrekturfaktor bei Afroamerikaner*innen. Denn in der Studie, mit der der Faktor begründet wird, seien nur 200 Schwarze Proband*innen untersucht worden - zu wenige um allen Afroamerikaner*innen eine erhöhte Nierenfunktion zuzuschreiben.

"Das ist offener Rassismus"

Herangezogen wird zur Bestimmung der Nierenfunktion ein Blutwert: die Menge an Kreatinin im Blut, erklärt Elke Schäffner, Nierenspezialistin vom Institut für Public Health an der Berliner Charité.
"Dieses Kreatinin, das ist einfach ein Protein, das wird über die Niere gefiltert und dann ausgeschieden, und meine Formel liefert dann im Ergebnis ein Wert für diese sogenannte glomeruläre Filtrationsrate. Ja, das klingt kompliziert, aber ist, grob gesagt, die Menge an Blut, die pro Minute pro Minute durch die Niere gefiltert wird."
Der Kreatiningehalt im Blut lässt sich leicht messen, aber die Nierenfunktion lässt sich anhand der Formel nur abschätzen. Denn wie viel Kreatinin jemand im Blut hat, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem der Muskelmasse. Und hier sieht Paloma Orozco Scott ein weiteres Indiz dafür, dass dem Korrekturfaktor in der Formel Rassismus zugrunde liegt.
"Es wurde die Annahme getroffen, dass Schwarze Menschen mehr Muskelmasse hätten und deshalb auch höhere Kreatininwerte. Und das ist offener Rassismus, der auf Studien aus der Zeit zurückgeht, als Leute behauptet haben, dass Schwarze Menschen besser für harte Sklavenarbeit geeignet seien, weil sie mehr Muskelmasse hätten."

Amerikanische Kliniken reagieren

Ihre Petition, den Faktor an ihrem Klinikverbund abzuschaffen, haben mehr als 1600 Menschen unterzeichnet. Andere Institutionen in den USA haben die Abschaffung schon umgesetzt und es wird erwartet, dass auch die Fachverbände eine entsprechende Empfehlung aussprechen.
Das könnte dann auch dazu führen, dass in Deutschland nicht länger zwischen Schwarzen und Weißen Patient*innen unterschieden wird, wenn es um Laborwerte zur Nierenfunktion geht.
Eine neue amerikanische Leitlinie könne eine Änderung der deutschen Leitlinie unterstützen, glaubt Elke Schäffner. Vor allem ist sie aber dafür, die kreatininbasierte Schätzung der Filtrationsrate der Nieren, kurz GfR, durch etwas Besseres zu ersetzen.
"Es gibt Alternativen. Einmal gibt es die GfR-Messung. Da appliziert man den Patienten richtig ein Kontrastmittel in die Vene und misst dann ein bisschen umständlicher diese GfR. Oder man verwendet für die Schätzgleichung einen anderen Biomarker, zum Beispiel das sogenannte Cystatin C. Denn dieses Cystatin C ist unabhängig von der Muskelmasse."

Nicht biologische, sondern sozio-ökonomische Unterschiede

Damit wäre die Ungleichbehandlung passé. Aber auch wenn es zwischen Schwarzen und Weißen keine biologischen Unterschiede gibt, die die Nierenfunktion beeinflussen, auch wenn es keine Rassen gibt, bleibt der Rassismus, sagt Staci Leisman.
"Ich versuche, die Studierenden davon abzubekommen, Rasse als Risikofaktor zu sehen. Der eigentliche Risikofaktor ist Rassismus."
Wer Rassismus ausgesetzt sei, sei einem höheren Risiko für manche Krankheiten ausgesetzt. Wenn Studien etwa zeigen, dass Afroamerikaner*innen ein geringes Lungenvolumen haben, dann heißt das nicht, dass dem ein biologischer Unterschied zugrunde liegt.
Vielmehr ist belegt, dass Afroamerikaner*innen mehr Schadstoffen ausgesetzt sind als weiße Amerikaner*innen. Das beeinträchtigt die Lungenfunktion. Die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen sind nicht biologisch, sondern sozio-ökonomisch. Dies stärker in der Medizin zu berücksichtigen, fordert auch Elke Schäffner.
Paloma Orozco Scott hingegen hat für Ärzt*innen eine viel einfachere Message: "Wenn Sie behaupten, es gebe biologische Unterschiede zwischen Rassen, dann praktizieren Sie rassistische Medizin."
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