Haushaltspolitik

Staatsschulden sind in der Krise ein Segen

Moderation: Gabi Wuttke  · 08.01.2014
Die Deutschen begreifen nicht, wie die Staatsschulden zu bewerten sind, sagt der Wirtschaftshistoriker Carl Ludwig Holtfrerich. Das Wirtschaftswachstum werde in der öffentlichen Meinung zu wenig einbezogen.
Gabi Wuttke: Sie stehen genauso in der Kreide wie ich – mit über 25.000 Euro, weil Deutschlands Schuldenberg derzeit mehr als zwei Billionen Euro hoch ist und immer weiter wächst, genauso wie das europäische Schuldengebirge. Stehen uns da zu Recht die Haare zu Berge, oder sitzen wir Panikmache auf, weil Schulden auch für etwas gut sein können? In der ersten Arbeitswoche der neuen Bundesregierung, die sich den Problemen nun endlich wirklich stellen muss, die Frage an den Wirtschaftshistoriker Prof. Carl-Ludwig Holtfrerich. Einen schönen guten Morgen!
Carl-Ludwig Holtfrerich: Guten Morgen!
Wuttke: Unsere Schuldenquote liegt bei über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wieso sehen Sie das relativ gelassen?
Holtfrerich: Erstens müssen Sie wissen, warum es zu dieser Erhöhung gekommen ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise, da lag die Quote bei 64 etwa und ist dann auf 83 gestiegen, aber 13 Prozentpunkte davon gehen auf das Konto der Bankenrettung.
Wuttke: Das macht mich jetzt nicht glücklicher.
Holtfrerich: Ja, aber die Bankenrettung hat uns vor einer großen Weltwirtschaftskrise wie zum Beispiel 1929 folgende bewahrt.
Wuttke: Was auch kontrovers diskutiert wird, nicht nur unter Bürgern, sondern auch unter Wirtschaftswissenschaftlern, ist: Was hilft denn nun, Staatsschulden abzubauen? Sparen oder prassen?
Schuldenstandsquote - nicht Staatsschulden
Holtfrerich: Was die Deutschen überhaupt nicht begreifen, ist, dass es sich um eine Schuldenstandsquote handelt, das heißt, um – wenn Sie so wollen, mathematisch ausgedrückt –, um einen Bruch. Also im Zähler steht das Volumen der Schulden, und im Nenner steht das Bruttoinlandsprodukt. Und Sie können einen Bruch sowohl über eine Veränderung des Zählers als auch über eine Veränderung des Nenners in seiner Größenordnung ändern.
Alle in Deutschland – die Politik, die Medien, die Öffentlichkeit – schauen immer nur auf den absoluten Betrag im Zähler. Das ist völlig falsch. Sie müssen nämlich auch die Entwicklung des Nenners berücksichtigen, also Wirtschaftswachstum hilft, die Schulden abzubauen. Es muss nur das Wachstum der Schulden geringer gehalten werden als das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes.
In dieser großen Finanzkrise seit 2008 sind Staatsschulden ein Segen, und da muss man es auch einsetzen, genauso wie in großen Konjunkturflauten. Nur muss man das durch Überschüsse in den Staatshaushalten in guten Konjunkturjahren, wie wir sie in Deutschland im Augenblick haben, nicht in ganz Europa, aber in Deutschland, muss man durch Überschüsse die Schulden dann auch mal wieder zurückführen.
Wuttke: Geht das nur den Bürgern so, dass es eine schwierige Materie ist, oder andersherum gefragt: Wissen die Politiker genug, oder teilen Sie uns, den Bürgern, den Wählern nicht genügend darüber mit, wie unser Schuldenberg zustande gekommen ist und was zu tun ist, um ihn abzubauen?
Holtfrerich: Die 13 Prozentpunkte des Anstiegs der Staatsschuldenquote, die ich erwähnt habe, sind Zahlen, die das Finanzministerium, unser Finanzministerium in Berlin, selbst zusammengestellt hat, und wenn sie lange genug suchen, dann finden sie das versteckt auch auf der Homepage des Finanzministeriums.
Wuttke: Versteckt.
Holtfrerich: Versteckt, ja. Das wird nicht propagiert.
Wuttke: Verstehen Sie das?
Rücksichtnahme auf die Finanzwelt
Holtfrerich: Ich sehe darin in gewisser Weise eine Rücksichtnahme auf die Finanzwelt, die ja ohnehin sehr stark in der Kritik steht im Augenblick, und wenn die deutsche Öffentlichkeit sehr leicht erfahren würde, wie viel der zusätzlichen Schulden zur Rettung der Banken und Finanzinstitute entstanden ist, dann würde sie vielleicht noch skeptischer.
Wuttke: Sie haben einen interdisziplinären Arbeitskreis ins Leben gerufen, er heißt "Staatsschulden in der Demokratie". Wird dieser Arbeitskreis mit Ihnen uns, der Öffentlichkeit und damit auch der Politik in diesem Jahr mal den Spiegel vorhalten, wie es wirklich um den deutschen Schuldenberg bestellt ist?
Holtfrerich: Na ja, den Spiegel vorhalten ist vielleicht etwas übertrieben. Aber wir werden die deutsche Öffentlichkeit und die Politiker und die Medien darüber aufklären, wie die Zusammenhänge zu sehen sind und wann Staatsschulden die Generationengerechtigkeit oder die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen beeinträchtigen. Das ist nämlich nicht immer so, dass steigende Staatsschulden Schaden anrichten, sondern es kommt auf das Verhältnis zwischen Zinssatz und der Wachstumsrate der Wirtschaft an. Und im Augenblick haben wir zum Beispiel extrem niedrige Zinssätze.
Wuttke: Klar, das merkt jeder Sparer.
Holtfrerich: Richtig, und jeder Kreditnehmer, jeder Häuslebauer und so weiter. Das hat ja immer zwei Seiten. Schulden-Kehrseite ist Geldvermögen. Ohne Schulden gibt es kein Geldvermögen, ganz gleich, wer die Schulden macht, ob der Staat oder die private Wirtschaft. Wenn Sie sich angucken würden, mit wie viel jeder Aktionär einer großen deutschen börsennotierten Gesellschaft verschuldet ist, da würden Sie prozentual gerechnet auf ähnliche Größenordnungen kommen, wie wenn Sie die Staatsschulden auf jeden Bürger umrechnen.
Wuttke: Wie geht es Ihnen damit?
Nur im Deutschen ist Schuld und Schulden derselbe Wortstamm
Holtfrerich: Ich habe als Privatmann viel mehr Schulden, ist so. Jeder, der nur ein bescheidenes Häuschen für 250.000, 300.000 Euro kauft, der hat doch wesentlich mehr Schulden für lange Zeit, bevor das alles abbezahlt ist. Außerdem müssen Sie berücksichtigen: Nur im Deutschen ist Schuld und Schulden derselbe Wortstamm. Schulden deutet also irgendwie auch etwas moralisch Schlechtes an im Deutschen. In anderen großen Sprachen ist das nicht so.
Zum Beispiel im Englischen ist Schuld guilt, und Schulden sind debts. Im Spanischen, Italienischen, Französischen ist es ähnlich, zwei verschiedene Wortstämme. Das hat damit zu tun, dass diese Staaten, was Handel und Reichtum angeht, viel früher entwickelt waren als die Deutschen, die ja sehr spät erst, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in die Entwicklung reingekommen sind. Und dort hat man seit dem Mittelalter, in Italien zum Beispiel, einen sehr guten und reichen Umgang mit Schulden gemacht, mit Verschuldung, im Handelsbereich sowieso, Kaufleute untereinander sind immer verschuldet.
Wuttke: Wie verräterisch die deutsche Sprache ist, auch dazu das Interview in der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur mit dem Wirtschaftshistoriker Carl-Ludwig Holtfrerich. Ich danke Ihnen sehr!
Holtfrerich: Ja, bitte sehr, Frau Wuttke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema