Hauptsache Gefühl!

Rezensiert von Alexander Schuller |
Wenn von 68 die Rede ist, denken wir vielleicht auch verschämt an die menschlichen Schäden, die jene Kulturrevolution angerichtet hat. "Verschämt" weil viele von uns in aller Unschuld und mit den besten Absichten mitgewirkt haben an der Zerstörung dessen, was uns besonders kostbar sein sollte: unserer Seele. Das Buch der Astrid von Friesen liefert die Erkenntnis, dass Wollen und Wünschen nicht helfen, wenn der Zeitgeist es anders bestimmt.
Wenn von 68 die Rede ist, dann denken wir an Go-ins und Sit-ins, an Kommune I oder auch an Kommune II, an Demos und Dutschke, an Rühmkorf und Röhl, an Pädophilie und Promiskuität, natürlich auch an Schleyer und Buback. Nebenbei. Dass das alles eine wahrhafte und zum Teil auch mörderische Revolution war, das wurde den Opfern bald klar, und von den Tätern war es von Anfang an so gewollt. Letztlich aber war das nur als Vorlauf gedacht. Worum es wirklich ging war die Erschaffung eines titanenhaft entfesselten, eines Neuen Menschen. Astrid von Friesen erinnert sich.

"Wir hatten nämlich den Anspruch, immer alles rauszulassen. Um jeden Preis! Gefühle zu unterdrücken ist schädlich, Gefühle müssen raus! Egal wann, wo, gegen wen und zu wessen Schaden! Wenn ein Kind Spinat spuckte, wurde es quasi als selbstbestimmt bejubelt. Alles war erlaubt, Hauptsache Gefühl! Meine Güte, wie viel Porzellan ist damals zerschlagen worden! Denn im Sprechen über Gefühlsdinge befanden wir uns auf der Stufe von wilden Kindern, unzivilisiert und rechthaberisch. Ich fühle, also bin ich! Die Moral konnten wir jedoch nicht heraushalten, denn wir unterschieden streng nach richtigen und falschen Gefühlen! Klar, die richtigen hatten wir Frauen. Wehe dem Mann, der sich getraute, anderes zu fühlen!"

Wenn von 68 die Rede ist, denken wir daher nebenbei und vielleicht auch verschämt an die menschlichen Schäden, die jene Kulturrevolution angerichtet hat. "Verschämt" weil viele von uns in aller Unschuld und mit den besten Absichten mitgewirkt haben an der Zerstörung dessen, was uns besonders kostbar sein sollte: unserer Seele.

Ich sage das mit einem Wort, das seit 68 verpönt ist. Wir sollten damals nicht von Seele, wir sollten von Psyche reden, wir sollten in Fremdwörtern reden, uns schon in der Sprache von uns selbst entfremden. Und so war es denn auch: wer von Seele sprechen wollte, griff in sein Gefrierfach und förderte eiskalte Psyche zutage. Um die Verwandlung von Seele in Psyche zu lernen, liefen wir den Rattenfängern in die Arme, wobei einer dieser Rattenfänger tatsächlich auch so hieß: Rattner, Josef Rattner, und sein Buch hieß im Untertitel – der drohende Ton ist unverkennbar – "Die Psychotherapie der Zukunft".

Ein anderer hieß Reiche, Reimut, und sein Buch hieß "Sexualität und Klassenkampf". Noch einer hieß so ähnlich: Reich, aber mit Vornamen Wilhelm. Von dem wurden ganze Bücher, zum Teil auch nur Raubdrucke verteilt. Einer dieser Raubdrucke hatte einen Sowjetstern auf der Titelseite und befasste sich mit "Dialektischem Materialismus und Psychoanalyse". Solche Bücher mussten die Studenten in den von den K-Gruppen organisierten Arbeitsgemeinschaften – kurz AG – lesen, um sich ihre Sexualität revolutionär deformieren zu lassen.

Eigentlich müsste man solche Bücher unter der Rubrik Sexueller Missbrauch subsumieren. Sexualität war nicht Seele sondern Zweck, erst Zweck der Revolution, dann, nicht viel später, des Konsums. Seele, das war Mörike und Kitsch und eigentlich faschistisch. Auch wenn die Flankenbewegungen von 68 auf die Medien und auf die Wissenschaft zielten, das Zentrum kämpfte sich zu unserem Bewusstsein durch, zielte auf die Zerstörung unserer Identität. Auch wenn es inzwischen hunderte, vielleicht sogar tausende von Büchern gibt, die sich mit 68 und den Folgen beschäftigen, wenige machen diesen Angriff auf unsere Seele so deutlich wie das neue Buch der Astrid von Friesen "Schuld sind immer die anderen!".

"Die extremste Entwicklung des 20. Jahrhunderts war wohl die der sexuellen Revolution. Der Zusammenhang zwischen Geschlechtsakt und Zeugung schützte die Ehe, die Jungfräulichkeit war ein Markenzeichen und die Voraussetzung dafür, den richtigen Mann abzubekommen’. Nach der Erfindung der Antibabypille 1960 und der schrittweisen Befreiung der Frauen von der männlichen Dominanz in Sachen Sexualität, rauschte die Sexwelle durch Illustrierte, Filme und Werbung. Sex wurde und ist das Lockmittel per se, egal ob für Automarken oder Deos. Die Befreiung von Verklemmtheit und der Angst vor der ungewollten Schwangerschaft auf der einen Seite, zunehmende Beziehungskrisen und Partnerprobleme, Pornographie und Päderastie auf der anderen!"

Päderastie wird hier nicht, wie üblich, unter "Haben", sondern unter "Soll" verbucht. Das ist für eine eingefleischte Feministin ganz schön mutig. Für Astrid von Friesen gilt die synchrone Einheit von Vater und Mutter und Kind als die Voraussetzung für ein Beziehungsmuster zwischen den Geschlechtern und Generationen, das glückliche Kinder, glückliche Ehepaare und produktive gesellschaftliche Strukturen schafft. Sie definiert die Frau als potentielle Mutter, den Mann als potentiellen Vater und die Familie als die Struktur, in der Mann und Frau zueinander finden können. Insofern wird verständlich, dass nicht nur das Individuum und dessen Bedürfnisse, sondern vor allem die Familie den Bezugspunkt darstellt. Schon gar nicht dürfen Kinder dabei zur Verfügungsmasse partikularer Machtstrategien verkommen.

"Viele Männer verhalten sich nach Scheidungen äußerst devot, kompromissbereit bis zum Zerbrechen, nur um ab und zu einmal – nach dem Gutdünken der Frau – ihre Kinder sehen zu dürfen. Und trotzdem nimmt der Hass der Frauen seltsamerweise nicht ab. Nach 'normalen' Trennungen kann man sagen, dass die Kränkungen nach ein bis zwei Jahren soweit verarbeitet sein sollten, so dass jede Partei ohne Hass an den anderen denken kann und auch das Gute wieder in die Erinnerung dringt, denn irgendwann war ja der andere Mensch das Allerliebste und Wunderbarste! Doch Frauen, die die Familie zerstören, die Kinder entführen, die Väter schlecht reden, die Termine und Gerichtsauflagen nicht einhalten, haben natürlich (...) ein schlechtes Gewissen, zumal sie oft sehen, wie schlecht es den Kindern geht. Zur eigenen Entlastung brauchen sie einen Sündenbock, und das ist vorzugsweise der Exmann."

"Was aus den kleinen Kindern wird, die in solch einer vaterlosen und sogar männerverachtenden Welt aufwachsen, hat der Psychoanalytiker Horst Petri (....) beschrieben: Fehlt der Vater, fehlt ein Stück der Seele. Er hält uns vor Augen, dass die Frauenbewegung die Väterabwesenheit zunächst überwinden wollte, indem die jungen Männer in Familienleben und in die Kinderbetreuung eingebunden wurden. Dann jedoch wurden die individuellen Väter verunglimpft und zu einer Verfügungsmasse, zur Samen- und Geldabgabe, reduziert. Einer ganzen Generation wurde die Idee einer 'Vaterunzulänglichkeit' eingeimpft, was schließlich die massenhafte Vaterlosigkeit herbeiführte."

Was Friesen beschreibt, leuchtet ein und vielen Lesern werden entsprechende Szenen – vielleicht sogar aus dem eigenen Leben – vertraut sein, und doch werden einige grundlegende Probleme gar nicht erwähnt. Die Frauen wollten ihre Männer ursprünglich stärker in die Familie einbinden, meint Friesen, dann aber wollten sie ihre Männer plötzlich doch lieber demütigen. Friesen beschreibt dieses Paradoxon und die daraus folgende emotionale Verwirrung sehr genau.

Dabei wird erkennbar, dass es nicht genügt, sich auf die Beziehungsebene zu beschränken. Der gesamte politische, ideologische und strukturelle Kontext spielt eine wichtige und übergeordnete Rolle. Unter anderem wird dabei das so selbstverständlich angebotene Konzept der Emanzipation als problematisch erkennbar. Emanzipation ist ein durch und durch individualistisches, mehr noch ein individualisierendes Konzept. Emanzipation zielt nicht auf Bindung, sondern auf Entbindung, auf individuelle Autonomie. Ein Hauch von Befreiungsideologie durchweht den Begriff. Unter seinem Diktum kann Familie jedenfalls nicht gelingen.

Ein zweiter problematischer Begriff ist Gleichstellung, ein Begriff, den die Bundesregierung zunehmend aggressiv, vor allem in der Debatte um das Gleichstellungsgesetz, zum Einsatz bringt. Gleichstellung leugnet und bekämpft jegliche Differenzierung, vor allem jegliche sexuelle Differenz. Sexuelle Identität sei – folglich auch Familie und Geschichte - eine ideologische Fiktion. Diese These bringt sowohl eine massive psychische Störung als auch eine kulturelle Krise zum Ausdruck.

Ihr Grund ist eine süchtige Sehnsucht nach Selbst-Vernichtung. In einer alten Ausgabe des SPIEGEL aus dem Jahre 1994 wird die Frauenbewegung dafür verspottet, dass sie zwischen Mann und Frau nicht unterscheiden könne. In einer Karikatur berichtet ein emanzipierter Vater einem anderen emanzipierten Vater, er habe "die Presswehen ganz bewusst durchlebt." Emanzipation plus Gleichstellung ergibt ein Gebräu, das zu intellektuellen – erst recht zu emotionalen - Lähmungen führt. Mangelnde Unterscheidungsfähigkeit konvertiert zu mangelnder Entscheidungsfähigkeit.

Das Buch der Astrid von Friesen liefert die Erkenntnis, dass Wollen und Wünschen nicht helfen, wenn der Zeitgeist es anders bestimmt. Den gilt es zu packen. Zum Imperium dieses Zeitgeistes gehören aber nicht nur die eigene psychische, sondern auch die institutionelle Realität.

Die Institutionen filtern und ordnen unsere Phantasien, versperren oder eröffnen uns Zukunft. Law and Order waren lange verpönt, Leitkultur auch. Inzwischen haben sie sich ganz unmerklich in die Lücken unseres falschen Bewusstseins eingeschlichen und zwingen uns eine neue Wirklichkeit auf. Ad-hoc-Entscheidungen sind lustig - aber nur im ersten Moment. Die Folgen sind oft tödlich. Diese Folgen werden hier bedrohlich genau beschrieben.


Astrid von Friesen: Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer
Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2006, 160 Seiten