Hauptfach Erziehung

Von Tamara Tischendorf |
Wie es ist, vor versammelter Klasse an der Tafel vorrechnen zu müssen, beim Schwätzen ermahnt zu werden und Hausaufgaben zu präsentieren - all das erfahren die Eltern an der Nikolaus-August-Otto Schule in Berlin am eigenen Leib. Im Unterricht bekommen sie Strategien an die Hand, wie sie mit ihrem Nachwuchs besser umgehen können. Das Elterntraining ist seit drei Jahren Pflicht für alle, die ihre (Problem-)Kinder bei der Hauptschule im Süden Berlins anmelden wollen.
Zwei Ventilatoren lassen die heiße Sommerluft zirkulieren. Die Schüler im Klassenraum 309 in der Nikolaus-August-Otto Schule schwitzen trotzdem. Ihre Stühle haben sie zu einem Halbkreis zusammengeschoben. In der Mitte sitzt Eva Schmoll. Die Lehrerin und Elterntrainerin beginnt um Punkt 18 Uhr mit ihrem Unterricht:

"Wunderschön, dass Sie da sind. (...) Das freut uns ganz besonders, dass Sie das so wichtig nehmen und für Ihre Kinder in Vorleistung gehen."

Keiner ihrer rund 20 Schüler und Schülerinnen ist jünger als 30, fast genau so viele Männer wie Frauen sind gekommen. An ihren T-Shirts und Blusen klemmen Zettel mit ihren Namen und den Namen ihrer Kinder. An der Wand, hinter dem auf Kinnlänge getrimmten Lockenschopf der Lehrerin, hängen bunte Fußsohlen mit Aufdruck: "Verständnis", "Ermutigung", "Aktives Zuhören" und: "Kooperation". Unterrichtseinheiten des Step-Lern-Programms. Die meisten Lerninhalte des Trainings – neun von insgesamt zehn Einheiten – haben die Eltern schon kennen gelernt.

"Sie hatten eine Hausaufgabe und die Standardfrage ist: Gab es Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Hausaufgabe. Bei Nein, dann würde ich Sie bitten zu murmeln. Bitte murmeln Sie in Dreiergruppen. Sie haben fünf Minuten Zeit."

Routiniert finden sich die Eltern zu Grüppchen zusammen und tauschen sich darüber aus, wie bei ihnen zu Hause die letzte Familienkonferenz geklappt hat. Hausaufgabe war, die Familie zusammenzurufen und ein akutes Problem zu besprechen: Eine Tochter isst nicht regelmäßig, eine andere schottet sich immer mehr ab. Im kleinen Kreis ergreifen auch die zurückhaltenderen Eltern das Wort. Eine Technik, von der die Kinder im Unterricht an der Nikolaus-August Otto Schule ebenfalls profitieren. Schon seit 20 Jahren wird an dieser Hauptschule kaum noch frontal unterrichtet. Die Schulstunden sind größtenteils durch Trainingsphasen ersetzte, die Pädagogen arbeiten projektorientiert und beleuchten dabei ein Thema wochenlang von allen Seiten. Regeln einzuhalten und respektvoll miteinander umzugehen, sind dabei genauso wichtige Lernziele wie der Stoff auf dem Lehrplan.

"Okay, kommen Sie bitte in die Runde zurück? (...) Gab es Beispiele, wo Sie sagen würden: Familienkonferenz, unmöglich, bringt sowieso nichts. Oder auch gelungene Beispiele, wo sie sagen würden: Mensch, wir hatten in dieser Woche ein ganz tolles Erlebnis?"

Eine Mutter fast sich ein Herz und berichtet dem Plenum von ihrer Pleite:

"Wir haben erst Abendbrot gegessen, dann habe ich gesagt: Bleibt mal sitzen, wir unterhalten uns jetzt und nachher machen wir einen Spieleabend. Und das war dann auch schon wieder zuviel. Dann waren sie weg."

"Okay, was sagen die Expertinnen und Experten?"

Michael Kawicki meldet sich als erster zu Wort – ein geschiedener Vater, der seinen Sohn Benjamin nur alle 14 Tage zu Gesicht bekommt:

"Es ist zu spontan. Man sollte sich ja eigentlich drauf vorbereiten. Wenn ich jetzt sage: Bleibt mal sitzen, wir machen irgendwat, dann fühlen sie sich unter Druck, dann blocken sie ab."

Ihre Enttäuschung über die Reaktion der Kinder hätte die Mutter nicht einfach herunterschlucken, sondern thematisieren sollen, raten ihr die anderen Eltern. Ich-Aussagen machen, nennt das Eva Schmoll:

"Okay. Ich-Aussage: Drei Schritte: 'Wenn, Gefühl, weil.' 'Wenn' ist die Beschreibung dessen: Wenn ihr mich hier einfach stehen lasst, fühle ich mich ziemlich schlecht, weil ich den Eindruck habe, ihr nehmt mich gar nicht ernst oder was auch immer Sie sagen würden. Was wäre das, wenn sie jetzt sagt: Okay, ich kann das verstehen, ihr wart wahrscheinlich völlig überrumpelt. Ich würde euch bitten: Macht ihr einen Vorschlag?
Das aktive Zuhören. Das heißt: Sie beschreiben jetzt auch noch mal die Situation, in der die Kinder waren. Sie wechseln die Perspektive aus Kindersicht: Ich habe euch überrumpelt."

Zum Perspektivwechsel gehört an diesem Abend auch, Prüfungssituationen zu meistern. Das proben die Eltern als nächstes. Sie sollen zeigen, was sie bei den letzten Sitzungen gelernt haben. Zwei aufgekratzte Gruppen stehen sich in sportlichem Wettstreit gegenüber, auf dem Tisch in der Mitte wartet eine Kuhglocke.

"Also, es geht los. Frage Nr. 1: Wenn Kinder sich rächen, fühlen wir uns..."

Die Gruppen beraten sich kurz, dann prescht einer vor.

"Verletzt!"

Spielerischer Wettbewerb statt Leistungsdruck und Vorführeffekt. Jeder soll einmal an die Reihe kommen.

"Warum vermeiden wir Du-Aussagen?"

"Schuldzuweisung, Ja? Eine Schuldzuweisung – eine Du-Aussage."

"Sie dürfen auch ruhig in vollständigen Sätzen sprechen. Wie Ihre Kinder auch ja, (Lachen) – es ist echt wie im Klassenzimmer! (Lachen)."

Eine ausgelassene Prüfung, bei der selbst Reimer Noffke beherzt zur Kuhglocke greift. Das Elterntraining versetzt ihn zurück in seine eigene Schulzeit, die er noch in schlechter Erinnerung hat:

"Das geht bei mir sehr schnell, weil ich heute manchmal noch Alpträume habe, was die Schule anbelangt, dass ich mit den Kindern auf der Schulbank sitze und ein halbes Jahr so durchlebe, im Traum ganz schnell und dann kommt die Prüfung und ich habe gar nichts gemacht. Ne? Das ist immer so ein Thema. (...) Ich war auch keiner, der sich so unheimlich gern hingesetzt hat."

Nach dem gleichen Motto hat Reimer Noffke später auch sein Jurastudium bestanden. Heute arbeitet er beim Bezirksamt in Berlin-Neukölln als Rechtsberater für Einkommensschwache. Am Elterntraining nimmt er seinem Sohn Johannes zuliebe teil. Anders als seine vier Töchter ist der Jüngste lernschwach, besonders in Mathe fehlt ihm das Vorstellungsvermögen. Reimer Noffke strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, aber selbst er stößt bei Johannes schon mal an seine Grenzen. Die nächste Aufgabe, der sich die Eltern stellen müssen, fällt Reimer Noffke leicht. Fallbeispiele sind ihm vertraut.

"Ich möchte Ihnen ein Beispiel vorlesen und sie dann bitten, dass Sie sich darüber unterhalten. (...) Was würden Sie tun?"

Der 16-jährige Christian will an einem Sonntagabend mit Freunden ausgehen. Sein Vater erinnert ihn an die Abmachung, dass er um zwölf Uhr wieder zu Hause sein soll. Dem Sohn ist das zu früh, Vater und Sohn geraten in Streit. In seiner Vierergruppe dominiert Reimer Noffke die Diskussion:

"Mann muss ja erst mal überlegen: Wo wird’s kritisch in der Geschichte, ne? Also offensichtlich ist mal eine Regel aufgestellt worden, dass er um zwölf Uhr zu Hause sein muss, und in zunehmenden Alter des Jungen (...) jetzt nicht mehr akzeptiert wird, eben weil er bloßgestellt scheint vor seinen Freunden (...) und jetzt muss man sagen: (...): Okay, verstehe ich, dass du das nicht angenehm findest, (...) Aber dann auch die Notwendigkeit vor Augen zu führen, (...) am nächsten Tag wieder frisch in der Schule zu erscheinen oder in der Ausbildung oder wo auch immer, ne?"

In der Praxis konsequent bleiben, auch wenn die Kinder aufbegehren, fällt den meisten Eltern schwer. Auch Dietmar Schmied, Abteilungsleiter eines mittelständischen Unternehmens. Ein Schelm mit Schlips und im Anzug, der immer ein paar Minuten zu spät zum Elterntraining kommt. Sein "Lösungsvorschlag" für den Machtkampf sorgt für allgemeine Heiterkeit:

Schmid: "Ich würd‘ vielleicht versuchen, noch eine halbe Stunde zuzugeben."
Schmoll: "Ein Veto von dir und wir machen neue Regeln?"
Schmid: "Na ja, ich hätt‘ sie halt ein bisschen ausgeweitet, ein halbes Stündchen oder so."

Konsequenz, Regeln einhalten, Respekt: Damit die pädagogischen Ansätze der Nikolaus-August-Otto Schule zu Hause nicht ins Leere laufen, wurden vor drei Jahren die Elternkurse eingeführt.
Gegen Ende der ersten Hälfte der Doppelstunde lässt die Konzentration der Eltern nach: Hausaufgabenbesprechung, Prüfung, Fallanalyse, sie haben sich eine kurze Pause verdient. Die zweite Hälfte erfordert dann wieder ihre ganze Aufmerksamkeit:

"Sind Sie bereit? Ihre nächste Aufgabe ist, sich an ein Problem zu erinnern, das Sie mit Ihrem Kind zu Hause haben. Und ich würde Sie bitten, dass Sie sich überlegen, was können Sie tun, um das Problem zu lösen."

Diesmal: Arbeit im Tandem. Bunte Zettel kursieren. Die Eltern sollen sich zunächst Notizen machen. Der ein oder die andere schaut fragend in die Runde und holt sich Hilfe. Nicht wenige haben – wie ihre Kinder – Lese- und Rechtschreibschwächen, eine Analphabetin ist im Kurs.
Susanne Reichardt berichtet ihrer Tandempartnerin von ihrer Tochter Marie. Sie selbst zählt zu den Hinterbänklerinnen im Elternseminar. Ihre blaue Jeans und das weiße T-Shirt trägt die Fotolaborantin und studierte Sozialarbeiterin wie eine Tarnkappe. Seit Marie in der Pubertät ist, habe sie überhaupt kein Interesse mehr an der Schule, mache keine Hausaufgaben und von ihren Mitschülerinnen ziehe sie sich auch immer weiter zurück. Hausaufgabenhilfe und eine langjährige Therapie schlagen nur langsam an. Massive Schwierigkeiten, die auch das zehnminütige Zwiegespräch nicht lösen kann. Aber: Durch das Elterntraining kommt sie ihrer Tochter immerhin emotional ein wenig näher, meint Susanne Reichard:

"Mir fällt es auch immer schwer so in einer neuen Gruppe, also, jetzt habe ich gedacht, so von meiner Person her, irgendwie angefangen langsam wohl zu fühlen und jetzt ist Ende. Also, ich brauche immer ganz lange, um anzudocken in einer Gruppe, und ich denke, das ist was, was meiner Tochter ganz genauso geht. Und ich denke, das ist etwas, was ich dann auch besser noch mal nachempfinden kann. Nicht nur vom Kopf her."

"Haben Sie Wege gefunden, wo Sie sagen: Okay, das kann ich jetzt mal ausprobieren, oder gibt es Eltern, die sagen: Ne, mein Problem ist so schwierig, da gibt es überhaupt gar keinen Weg."

Sabine Kerber hat sich ein handlicheres Problem vorgenommen. Beim Elterntraining ergreift sie häufig das Wort. Ihr Sohn weigert sich seit Jahren, seine Zähne ordentlich zu putzen:

"Das funktioniert immer nicht, wenn ich da nicht hinterher gehe und ich weiß mir da nicht mehr zu helfen. Wir haben Zettel angemacht, ich habe mich daneben gestellt, wir haben zusammen Zähne geputzt (...) wenn ich nicht da bin, dann funktioniert's nicht."

Als stellvertretende Leiterin einer Supermarktkette ist die energische Frau oft bis spät abends außer Haus. Ein Rollenspiel soll zur Lösung des Falls beitragen:

"Wer ist bereit, eine Mutter zu sein? (...). Sie ist das Kind, sie ist ihr Sohn, na klar. Wer spielt das Elternteil bitte?"

Bei dem Konflikt geht es eigentlich gar nicht ums Zähneputzen, sondern um einen Machtkampf, stellt sich dabei heraus. So hat Sabine Kerber das bis dahin noch nicht gesehen. Die Lösung: Nicht mehr Kontrolle, sondern die Zügel mal lockerer lassen. Wenn der Sohn die erste Freundin hat, löse sich das Problem vielleicht von ganz alleine. Sabine Kerber ist dankbar, dass sie sich im Elterntraining mit anderen vergleichen kann:

"Ich merke, dass nicht nur ich Defizite habe. (...). Ich habe immer gedacht in der Erziehung, ich mache irgendwas falsch. Aber bei manchen Sachen finde ich, bin ich schon sehr weit – weiter als andere, sprich: Konsequenz und so, ein bisschen zu hart, aber – der Vater bestätigt das gerade --- (lacht) Aber (...) / Ich habe meine Fehler, die anderen machen Fehler und ich denke, wir haben alle hier eine Menge gelernt."

Dass die eigenen Lösungen nicht unbedingt auf andere übertragbar sind, hat Ralf Merkin an diesem Abend aus dem Rollenspiel für sich mitgenommen. Der durchtrainierte Mann mit Vollbart hatte Sabine Kerber geraten, beim Zähneputzen einfach nicht locker zu lassen. Er selbst hat auf diese Weise bei sich zu Hause ein Schweigegebot beim Essen durchgesetzt. Ralf Merkin ist einer der wenigen allein erziehenden Väter in der Runde. Seit kurzem arbeitet er wieder in seinem Beruf.

"Ick bin Gas-Wasserinstallateur, jetzt wieder im Arbeitsleben zurück und habe mich die letzten fünf Jahre nur um meinen Sohn gekümmert, der AHDS hat und medikamentiert wird und wirklich kein leichter Fall ist. AHDS ist Aufmehrksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom. Die Kinder können weder stillsitzen, noch können sie sich konzentrieren, also es ist ein ganz schweres Unterfangen."

Inzwischen ist Ronny gewaltfrei. Früher war er ein extrem aggressives Kind. Im Alter von knapp sechs Jahren hat er ein anderes Kind das erste Mal bewusst mit dem Dreirad umgefahren, erinnert sich der Vater. Ein Jahr später hat er dann seinem Meerschweinchen den Hals umgedreht. Die Symptome verschlimmerten sich, als Ralf Merkin und seine alkoholkranke Frau in der Trennungsphase waren. Inzwischen lebt Ralf Merkin in einer neuen Partnerschaft, und auch für Ronny, glaubt er, wird es nach den Ferien bergauf gehen:

"Ich freu mich (...) schwerst darauf, dass der Kleine hiersein darf und hiersein wird, weil, sonst wäre er kein besserer Mensch geworden. Sonst geht der automatisch durch die Struktur der Gesellschaft durch. Sonst gehen sie denn unter, diese Kinder. Die werden Hooligans, Kriminelle, Stricher, Sonstiges. Ist vorprogrammiert."

"Jetzt geht’s loos, jetzt geht’s loos, die Freude ist ganz grooß, die Schule geht jetzt loos! Wuuuhhhh. Jetzt geht’s los!"

Das Elterntraining endet mit einer Performance, die allen Mut machen soll für den neuen Start an der Nikolaus-August-Otto Schule. Vor Übermut und überzogenen Hoffnungen allerdings warnt Elterntrainerin Eva Schmoll. Für sie zählt, dass Eltern, Schüler und Lehrer wieder an besser an einem Strang ziehen, ohne Maskenspiel:

"Die Flügel sind ihnen nicht gewachsen in den letzten Jahren, das kann ich nicht behaupten. Was für uns so deutlich ist, ist, dass wir über dieselben Probleme sprechen, das heißt: Das Kind hat irgendwas falsch gemacht, unterdrückt andere oder was auch immer das ist, dann sprechen wir plötzlich von derselben Sache. Da ist nicht mehr dieses: Ich stelle mich schützend vor mein Kind, (...) Wir sprechen dieselbe Sprache. Wir haben hier alles vorab durchgesprochen und ich kann dann schon sagen: Gelingt es ihnen denn, konsequent zu sein oder ist das noch schwer. Und dann kann ein Elternteil sagen: Immer wieder rutscht es mir weg. Und dann (...) sagen wir: Können wir Sie irgendwie unterstützen, damit dieser nächste Schritt gegangen wird."

Anfangs haben sich manche Eltern nur widerwillig auf den Selbstversuch in Sachen Erziehung eingelassen, von Zwangsbeglückung und Freiheitsberaubung war die Rede. Doch die Ansichten ändern sich, meint Michael Kawicki:

"Es wäre fantastisch, wenn das Elterntraining jeder machen müsste. Dann würde unter Umständen auch viel weniger passieren, viel weniger schlechte Sachen geben. Und wenn eben Elternseminare gemacht werden, das könnte man ja vom Staat fördern, dass alle paar Jahre gemacht wird, je nachdem, wie die Altersstufe sind: Bei Neugeborenen, dann, wenn sie zur Grundschule, vor der Oberschule, das wäre vernünftig."

Die Eltern sind vorbereitet, nach den Ferien sind ihre Kinder am Zug.

"Jetzt geht’s loos, jetzt geht’s loos, die Freude ist ganz grooß, die Schule geht jetzt loos! Wuuuhhhh. Jetzt geht’s los!"