Hat der Osten noch eine Chance?

Von Konrad Weiß |
Der Trend ist eindeutig: Immer mehr Menschen verlassen auf der Suche nach Arbeit und Zukunft die ostdeutschen Bundesländer, fast zwei Millionen seit 1989. Allein im vergangenen Jahr ist hier die Bevölkerung um 100.000 geschrumpft.
Für viele ist das ein Alarmsignal, ein Indiz für das Scheitern des Aufbaus Ost. Regelmäßig machen Schreckensszenarien vom Ausbluten Ostdeutschlands oder von der Verödung ganzer Landstriche die Runde. Glaubt man den Fachleuten, dann wird der demographische Wandel gerade im Osten katastrophale Auswirkungen haben.

Auch wenn man an den Zahlen nicht zweifeln muss, ein genaueres Hinsehen lohnt sich allemal. Zunächst: Fast 800.000 Ostdeutsche haben die DDR bereits 1989 und 1990 verlassen, also noch vor der Wiedervereinigung, als sie endlich von ihrem Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen konnten. Davor hat die SED die Menschen gezwungen, im Land zu bleiben oder hat die Ausbürgerung als Machtinstrument und Einnahmequelle missbraucht. Die Geburtenrate wurde durch massive Fördermaßnahmen hoch gehalten und lag höher als in der alten Bundesrepublik. Andererseits war die Lebenserwartung der Ostdeutschen auf Grund der schlechteren medizinischen Versorgung und der sozialpsychologischen Belastungen durch das Regime um zwei bis drei Jahre geringer als im Westen. Der ausgeglichenere Bevölkerungssaldo war also eine unmittelbare Konsequenz staatlicher Einflussnahme. Wenn sich die Bevölkerungsstruktur nach 1990 gewandelt hat und wandelt, so ist das keineswegs nur eine negative Folge der Wiedervereinigung, sondern auch ein Prozess der Normalisierung.

Zudem ist die Situation regional sehr unterschiedlich. Es gibt Städte und Gegenden, die anhaltend prosperieren, Dresden zum Beispiel oder das Umland von Berlin. Die Universitätsstadt Jena galt Mitte der 90er Jahre als hoffnungsloser Sanierungsfall; heute gewinnt Jena an Bevölkerung und ist eine der jüngsten Städte Deutschlands. Doch es gibt ebenso Regionen und Orte, die ohne Hoffnung und Zukunft scheinen. Dann nämlich, wenn es an Arbeitsplätzen mangelt. In Görlitz wurde die Altstadt liebevoll restauriert, aber zahlreiche Wohnungen stehen leer. Die Uckermark ist ein landschaftliches Kleinod, aber viele Dörfer sind am Veröden.

Das Problem wird dadurch verstärkt, dass es gerade die Jungen und Aktiven sind, die auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen. Es bleiben die Älteren zurück und jene, die sich scheuen, ihr Glück in der Fremde zu suchen. Besonders junge Frauen gehen dorthin, wo sie für sich eine berufliche und familiäre Zukunft sehen. Mancherorts im Osten gibt es bereits heute einen Männerüberschuss. Oft fördert gerade dies die Herausbildung von radikalen Strukturen.

Im Herbst prognostizierte das Statistische Bundesamt einen Schwund der deutschen Bevölkerung um etwa zehn Millionen bis zum Jahr 2050. Kritisch sei der Rückgang von Geburten und Zuwanderung ebenso wie das immer höhere Älterwerden. Immer mehr Senioren stünden immer weniger Menschen im Erwerbsalter gegenüber. In 40 Jahren würden doppelt so viele Alte leben wie Kinder geboren werden. Keine Frage: Die deutsche Bevölkerung altert und schrumpft.

Einige Wissenschaftler und Politiker möchten das durch eine aktive Bevölkerungspolitik verhindern, durch staatliche Lenkung und Planung. Nach den Erfahrungen mit der zweckorientierten zweckorientierten Familienpolitik im "Dritten Reich" und in der DDR muss man das kritisch sehen. Ein Blick in die Geschichte lehrt, dass es schon immer Schwankungen in der Bevölkerungsstruktur gegeben hat, oft durch Menschen verursacht. Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren ganze Landstriche entvölkert und verödet. Mitte des 18. Jahrhundert musste Friedrich II. das Oderbruch mit Kolonisten aus Süddeutschland und Frankreich besiedeln, weil es zu wenige Einheimische gab. Auch Berlin wäre ohne Zuwanderer aus dem Osten nie zur Großstadt geworden; das Ruhrgebiet ohne 700.000 Neusiedler aus Schlesien und Polen nicht zur deutschen Industriezentrale. Auch meine Vorfahren sind fast alle nicht dort gestorben, wo sie geboren wurden. Sie sind der Arbeit und der Liebe nachgezogen.

Auch wir sollten gelassener sein. Wer weiß schon, was in 50 Jahren sein wird. Vielleicht ist dann das Kinderkriegen wieder en vogue oder sogar lukrativ. Oder die Menschen werden durch den medizinischen Fortschritt fähig, bis ins gesegnete Alter zu arbeiten. Oder neuartige Krankheiten verhindern das Älterwerden drastisch und reduzieren damit den Rentnerüberschuss. Oder der Klimawandel raubt uns so viel von Deutschland, dass aus heute entvölkerten Landstrichen begehrte Ballungsgebiete werden.

Die Demographen sollten jedenfalls mit ihren Modellen, die immer nur vom Status quo her gedacht sind, zurückhaltender sein. Sie sollten die Gegenwart interpretieren, sich aber nicht anmaßen, Zukunft gestalten zu wollen. Das Leben ist ohnehin immer klüger als die Statistik.


Der 1942 im schlesischen Lauban geborene Konrad Weiß studierte an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Bis zur Wende 1990 drehte er rund 50 Dokumentarfilme für das Kino und Fernsehen. 1989 gehörte Konrad Weiß zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerbewegung Demokratie jetzt (später Bündnis 90), wurde 1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer, dann des Deutschen Bundestages. Seit 1994 arbeitet er als freier Publizist. Buchveröffentlichungen u.a. "Neuland - Dialog in Deutschland" (mit Rita Süßmuth), "Von Erblasten und Seilschaften" und die Biographie "Lothar Kreyssig - Prophet der Versöhnung". Konrad Weiß lebt in Berlin.