Hassliebe

Von Christian Gampert |
Der junge britische Autor Dennis Kelly, 1970 in London geboren, ist in den letzten Jahren mit psychorealistischen Stücken enorm erfolgreich gewesen. In ihnen spiegelt sich eine oft verdrängte, eine grausame Seite der europäischen Gesellschaften.
"DNA" zeigt eine mordbereite Jugendgang, und in "Liebe und Geld" überlegt ein Ehemann, ob er seiner manisch-depressiven Ehefrau erste Hilfe leisten oder sie einfach sterben lassen soll. Kellys neuestes Stück "Taking care of baby" hatte nun in Basel seine deutschsprachige Erstaufführung - ein Familiendrama, das die Demontage dokumentarisch feststellbarer Wahrheiten betreibt.

Zwei Kinder sind gestorben, im Abstand von ein paar Jahren, in derselben Familie. Tragisch erstickt das eine, plötzlicher Kindstod das andere. Oder war es doch ganz anders? Hat die Mutter die Kinder umgebracht? Ein ziemlich ordinärer Boulevard-Reporter wittert eine Geschichte, zumal die Großmutter der toten Kinder eine bekannte Politikerin ist. Es gibt zwei Gerichts-Urteile: zuerst lebenslänglich für Donna, die Mutter; dann einen Freispruch. Und es gibt diese völlig zerstörte Frau, die selbst nicht mehr weiß, was geschehen ist. Auch der Zuschauer wird das bis zum Ende nicht erfahren.

Was ist die Wahrheit? Was kann man von einem Menschen wissen, was von ihm erzählen? Dennis Kelly lässt die Beteiligten selber ihre Sache vertreten, eine lange Folge von Monologen zum Publikum hin, die kunstvoll miteinander verschränkt werden. Aber was erleben wir da eigentlich? Ist es ein Interview, ein Verhör? Eine Talkshow? Eine Recherche? Das angeblich Authentische dieser Berichte wird im Lauf des Abends immer mehr in Frage gestellt; die mediale oder auch theatralische Aufbereitung selber verhindert die Wahrheitsfindung. Denn die Interviewten verhalten sich taktisch, immer neue Widersprüche tauchen auf; das alles in der Schwebe zu lassen und auf eine überraschende Pointe hinzuführen, ist die größte Qualität dieses sehr englischen, sehr lakonischen Stücks.

Das Publikum wird ständig in die Irre geführt: Lynn, etwa Mitte 50, die Großmutter, wird zunächst als patente Politikerin vorgeführt, die zu ihrer auf Abwege geratenen Tochter steht. Erst allmählich kristallisiert sich heraus, dass Lynn eine rückgratlose Karrieristin ist, die sich um diese missratene Tochter nicht viel geschert hat. "Taking care of baby", sich um die Kinder kümmern: Das bezieht sich nicht nur auf die toten Kleinkinder, die möglicherweise von der überforderten Donna umgebracht wurden, es bezieht sich auch auf Lynn, die ihre mittlerweile erwachsene Tochter nur als Objekt für sich selber benutzt.

Diese von Hassliebe durchtränkte Mutter-Tochter-Beziehung wird in der Basler Inszenierung von Caro Thum ganz filigran analysiert – wenngleich die Inszenierung eher behäbig anfängt, quasi mit Handbremse, und erst am Ende gläserne Härte demonstriert. Nikola Weisse als Lynn ist die nette joviale Tante von nebenan, die als Politikerin an Türen klopft und später dann die Krallen zeigt. Die eigentliche Entdeckung aber ist Inga Eickemeier als Donna: eine ganz junge Schauspielerin, die sich die Tics und Grimassen, das verunsicherte Drucksen und aggressive Hibbeln, das abgehackte Sprechen einer zutiefst gestörten Person virtuos angeeignet hat. War sie die drogenabhängige, paranoide, aus der Spur geratene junge Mutter, die ihre Kinder umgebracht hat? Oder ist ihre Störung eher Folge des plötzlichen, tragischen Tods zweier Kinder, an dem sie keine Schuld trägt?

Ein ziemlich schmieriger Psychiater, dem in Basel ein bisschen zu viel Raum gegeben wird, wartet mit einer dubiosen Theorie auf: Donna leide an dem "Leeman-Heatley-Syndrom", einer Überempfindlichkeit gegen die Übel der globalisierten Welt – das führe im Extremfall zur Kindstötung. Ist auch er nur ein Wichtigtuer? Wir wissen es nicht. Das einzig Greifbare bleibt die liebessehnsüchtige und doch hassgeladene Beziehung zwischen Lynn und Donna, zwischen Mutter und Tochter, die im Wunsch nach Selbstmord kulminiert.

Autor Dennis Kelly setzt dann noch einen drauf, indem er eine notdürftig therapierte Donna am Ende verkünden lässt: Ich bin schwanger! Bitte, nur dies nicht, denkt man im Publikum. Aber so ist der englische Psychrealismus: Er lässt uns ratlos – und ziemlich beeindruckt – zurück.

Taking Care of Baby
Von Dennis Kelly
Regie: Caro Thum
Theater Basel