Hartmut Rosa über Jahresrückblicke

Sich das Jahr ein bisschen schön reden

08:12 Minuten
Einzelne Blätter eines Tages-Kalenders liegen flächendeckend übereinander.
Mit Blick auf das Jahresende spricht Rosa von einer "Sonderzone der Zeit". © picture alliance / Bildagentur-online
Hartmut Rosa im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 10.12.2019
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Momentan ist wieder die Zeit der medialen Jahresrückblicke. Wie wir uns das Jahr aneignen und warum wir das tun, erklärt der Soziologe Hartmut Rosa.
Im Dezember bricht regelmäßig die Zeit der Jahresrückblicke an - kein Sender, keine Zeitung, kein Online-Portal, das nicht auf die eine oder andere Art und Weise an die vergangenen zwölf Monate erinnert.
Welchen Sinn hat es, sich noch einmal zu erinnern? Auf Vulkanausbrüche, abgestürzte Flugzeuge, Präsidenten unter Druck und gewonnene Fußballspiele zurückzublicken?

Nachträglich Erfahrungen machen

Der Soziologe Hartmut Rosa nennt den Jahresrückblick einen "Versuch, nachträglich Erfahrungen zu machen oder sich Erlebnisse anzuverwandeln, die wir das Jahr über versäumt haben". Am Ende des Jahres gehe es darum, "Erinnerungsspuren" anzulegen.
Rosa sieht in den Rückblicken auch ein "Gegenprogramm" zum täglichen Strom der Nachrichten. Diese hätten ja in der Regel "katastrophischen Charakter", "so dass wir das ganze Jahr über das Gefühl haben, die Welt ist kurz vor dem Zusammenbruch."
Am Ende des Jahres versuche man dann, noch einmal eine "andere Note in die Geschehnisse" zu bringen und interpretiere "Humanes, Heimeliges und Sentimentales" hinein. Es gebe also das Bestreben, "sich das Jahr ein bisschen schön zu reden und das Leben".

"Sonderzone der Zeit"

Mit Blick auf das Jahresende spricht Rosa von einer "Sonderzone der Zeit". Das alte Jahr ist vorbei, das neue hat noch nicht begonnen - das ändere den Charakter der erfahrenen Zeit und bringe auch Distanz zum eigenen Leben und zum Weltgeschehen mit sich, sagt er.
Es sei im Übrigen "keine große Tragödie", selbst nicht in Jahresrückblicken aufzutauchen, findet Rosa. "Wenn wir Rückblicke gucken, gucken wir die auch stellvertretend: Wir identifizieren uns mit den dort vorgeführten Schicksalen. Und da kann man, glaube ich, ganz gut damit umgehen, dass man da selber nicht mit dabei war."
(ahe)
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