Priesterausbildung

"Sexualität ist bei uns kein Tabuthema"

11:35 Minuten
Hinter einer regenbogenfarbenen Skulptur ist ein Kreuz zu sehen.
Kirche und Sexualität, geht das zusammen? © picture alliance / NurPhoto / Joap Arriens
Hartmut Niehues im Gespräch mit Sandra Stalinski · 13.02.2022
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Prävention und Sensibilisierung für Abhängigkeitsverhältnisse: In der Priesterausbildung wurden Lehren aus den Missbrauchsfällen gezogen, sagt Hartmut Niehues vom Priesterseminar Münster. Vom ersten Tag an spreche man in der Ausbildung über Sexualität.
Sandra Stalinski: Wann sprechen Sie mit Ihren Priesterseminaristen zum ersten Mal über Sexualität?
Hartmut Niehues: Es wird Sie vielleicht überraschen, aber das ist tatsächlich 20 Minuten nach Beginn des ersten Kontakts oder Vorstellungsgespräches. Sobald wir uns einigermaßen kennengelernt haben, ich ein bisschen mir den Lebenslauf habe erzählen lassen, kommen wir dann auch auf die Fragen zur priesterlichen Lebensform und bisher eben zum Pflichtzölibat, der Teil dieser priesterlichen Lebensform ist. An dieser Stelle frage ich dann den Interessenten oder Bewerber, ob er sich seiner sexuellen Orientierung bewusst ist.
Das ist natürlich eine Frage, die im ersten Moment überrascht, aber ich hole die sofort rein. Ich erwarte gar keine Antwort an der Stelle, sondern mache sofort deutlich: Diese Frage soll auch ein Signal sein, dass dieses Thema Sexualität bei uns im Seminar kein Tabuthema ist, sondern immer wieder von uns angesprochen und thematisiert wird, und dass wir die Kandidaten immer wieder dazu herausfordern, sich mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen.

Polizeiliches Führungszeugnis und Präventionsschulungen

Stalinski: Können Sie mir zwei, drei konkrete Dinge nennen, wie die Priesterausbildung seit 2010 bereits verändert wurde?
Niehues: Das fängt natürlich schon bei Formalitäten an. In der Bewerbung ist es auf jeden Fall erforderlich, dass jemand ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis beibringt, sodass wir da auf der "sicheren Seite" sind, dass es keine entsprechende Vorgeschichte, zumindest keine bekannte Vorgeschichte gibt. Das hat natürlich auch eine Wirkung auf Interessenten: Die wissen dann sofort, mit dem Thema wird da auch entsprechend umgegangen, da kann ich mich nicht einfach so durchmogeln.
Weiter geht es dann mit den Präventionsschulungen, die bei uns ein fester Bestandteil der Ausbildung sind. Das machen wir auch direkt zu Beginn, denn die Neuanfänger, die dann in diesem Vorbereitungsjahr unterwegs sind, machen auch ein Gemeindepraktikum. Da ist natürlich unsere Verantwortung gefragt, das Thema schon auf den Tisch gebracht zu haben und miteinander dafür gesorgt zu haben, dass die künftigen Priesterkandidaten dann sensibilisiert sind. Darüber hinaus gibt es bei uns im Priesterseminar in Münster ein institutionelles Schutzkonzept, also ein Konzept zur Prävention sexualisierter Gewalt bei uns im Haus.

Sensibilisierung für Abhängigkeitsverhältnisse

Stalinski: Sagen Sie mal ganz konkret, was das bedeutet. Ich kann mir unter Schutzkonzept nicht so viel vorstellen.
Niehues: In der Praxis sieht das so aus, dass wir eine Risikoanalyse machen und für das Haus dann die Frage stellen, wo es Abhängigkeitsverhältnisse gibt – zum Beispiel gibt es ganz offensichtlich zwischen dem Regens, also dem Ausbildungsverantwortlichen, und den Auszubildenden, Abhängigkeitsverhältnisse. Das ist ja ganz klar, denn der Ausbildungsverantwortliche ist mitentscheidend bei der Frage, ob jemand Priester werden kann oder nicht.
Und so ein Abhängigkeitsverhältnis kann ich natürlich missbrauchen, auf unterschiedlichste Art und Weise, im Letzten theoretisch auch zu sexualisierter Gewalt. Es gibt aber noch durchaus weitere Abhängigkeitsverhältnisse, auch von Studenten untereinander.
Allein die Tatsache, dass wir das zum Thema machen und miteinander immer wieder schauen, gehen wir gut mit solchen Abhängigkeitsverhältnissen im Haus um – dass es Machtgefüge gibt, kann man ja nirgendwo, in keinem Bereich des Lebens ausschließen –, gehen wir damit so gut um, dass niemand dadurch gefährdet wird. Das alleine ist auch schon wiederum eine Einübung für die spätere Praxis im Gemeindedienst.

Keine abgeschottete Priesterausbildung mehr

Stalinski: In der vergangenen Woche hat ja auch der Synodale Weg wieder getagt, also dieser Versuch eines Reformprozesses in der katholischen Kirche. Da gibt es ein Forum, also eine Arbeitsgruppe genau zu diesem Thema des Priesterseins heute. Sie sind da beratend tätig – was raten Sie denen denn, was sich noch weiter verändern muss?
Niehues: Ich würde gern noch einen Satz ergänzen zu dem, was sich bei uns in Münster zumindest schon verändert hat im Konzept der Priesterausbildung, und da könnte ich mir vorstellen, dass das vielleicht auch hilfreich sein könnte im Kontext insgesamt: Wir haben vor einigen Jahren die bis dahin doch mehr oder weniger nach außen abgeschottete Priesterausbildung geöffnet. Abgeschottet bedeutet, dass es eben nur Priesterkandidaten gab, die im Priesterseminar gewohnt haben.
Wir sind dazu übergegangen, dass wir als Teil des Konzeptes ausdrücklich andere Studenten und mittlerweile auch Studentinnen eingeladen haben, mit dem Priesterseminar mit zu wohnen, mit zu leben und so als Lebens- und Glaubensgemeinschaft unterwegs zu sein. Denn wir meinen, dass es wichtig ist, dass die künftigen Priester von vornherein, weil sie ja für einen Dienst am Volk Gottes ausgebildet werden, auch mit anderen, und zwar auch aus ihrer Altersstufe zusammen ausgebildet werden.
Da gibt es dann die ganze Bandbreite von Studienfächern, die man sich vorstellen kann – von Jura- über Wirtschafts- und Medizin- und Lehramtsstudenten bis zu Biologie und Chemie und Landschaftsökologie und was Sie sich alles vorstellen können. Und das ist sehr förderlich einfach für die Aufgeschlossenheit der Priesterkandidaten, zum Beispiel auch im Thema Sexualität.

50 neue Kandidaten fürs Priesteramt im Jahr 2021

Stalinski: Der Priesterberuf ist ja mit einigen Zumutungen verbunden: Sich zu verpflichten, zölibatär zu leben, wird ja für die allermeisten ein großes Opfer sein, zum anderen hat die katholische Kirche ja auch in den vergangenen Jahren einen erheblichen Imageschaden erlitten. Finden Sie überhaupt noch Nachwuchs, und wie viele sind das denn noch in Deutschland?
Niehues: Es gibt viel zu wenig Priesterkandidaten, das kann man ganz klar so sagen. Wir hatten jetzt im vergangenen Jahr an Neuanfängern etwas über 50 Neuaufnahmen in der ganzen Bundesrepublik. Wenn Sie ins Jahr 2006 zurückgehen oder 2007, da waren es noch fast viermal so viele.
Das heißt, es ist also schon sehr schwierig, überhaupt Kandidaten zu finden. Ich finde das auch sehr nachvollziehbar, denn angesichts der Situation der Kirche ist es auch eine ganz schwierige Entscheidung, in dieser Kirche dieser Berufung nachzugehen. Auf der anderen Seite ist es eben auch eine Berufung in unserem Verständnis, das heißt, es fühlt sich ein junger Mann angesprochen letztlich von Gott, von Jesus Christus, diesen Weg zu gehen.
Porträtaufnahme von Hartmut Niehues.
"Es gibt viel zu wenig Priesterkandidaten", sagt Hartmut Niehues.© privat
Meine Hoffnung ist, dass trotz dieser angespannten Situation und trotz des hohen Reformbedarfs, den wir in der Kirche haben, sich tatsächlich auch junge Männer mutig auf den Weg machen. Ich habe großen Respekt vor denen, die bei uns sind und sagen, ich mache das trotzdem. Und dann ist natürlich so was wie jetzt am vergangenen Wochenende beim Synodalen Weg ein Stück Ermutigung, wenn entsprechende Beschlüsse gefasst werden. Gleichzeitig muss man natürlich dann auch sofort ein bisschen auf die Euphoriebremse treten und sagen, wir müssen auch abwarten, was jetzt tatsächlich an Reformen dabei rauskommen wird.

„Wir sagen auch: Es geht hier für Sie nicht weiter“

Stalinski: Es gibt ja die Auffassung, dass sich nur noch junge Männer für den Priesterberuf entscheiden, die entweder große Probleme mit ihrer eigenen Sexualität haben oder gerade den Klerikalismus attraktiv finden. Stimmt das?
Niehues: Das stimmt so pauschal nicht. Natürlich gibt es die, aber ich kann Ihnen ganz direkt sagen, wir wählen auch aus, und wenn wir solche Tendenzen feststellen, dann gibt es da entsprechende Konsequenzen. Wenn es entsprechend klar beschrieben ist, sagen wir auch, der Weg geht für Sie so an dieser Stelle nicht weiter.
Stalinski: Wie machen Sie das genau, wie finden Sie heraus, ob jemand fürs Priesteramt geeignet ist, und wann lehnen Sie auch jemanden ab?
Niehues: Wir sind ja als Lebens- und Glaubensgemeinschaft unterwegs, das heißt, wir haben tagtäglich Kontakt miteinander, sei es bei Gebetszeiten, bei Essenszeiten, sei es Inhalten, also Kursstunden, wo wir miteinander auch im Unterricht dann zusammen sind. Und da erlebt man natürlich einen Menschen schon sehr intensiv, da lernt man den auch kennen, und dann werden solche Dinge auch sichtbar. Wir geben wie gesagt regelmäßig Rückmeldung in den Semestergesprächen und schauen uns dann die Entwicklung an. Und wenn wir dann feststellen, bei jemandem ist keine Entwicklung zu sehen, dann konfrontieren wir ihn natürlich auch da ganz genau in diesem Punkt und sagen dann auch tatsächlich am Ende: Es geht für Sie nicht weiter. Vielleicht ist das der Grund, weswegen wir in Münster nicht so richtig viele Kandidaten haben, weil wir da sehr konsequent sind.

„Wie tiefsitzend dürfen homosexuelle Tendenzen sein?“

Stalinski: Wie ist das beim Thema Homosexualität? Das war ja gerade auch in den Schlagzeilen, weil hundert queere kirchliche Mitarbeiter*innen sich geoutet haben, darunter auch Priester und Priesteramtsanwärter. Wie ist das bei Ihnen in Münster, ist das ein Grund, jemanden abzulehnen?
Niehues: Nicht per se, kann ich ausdrücklich so sagen. Es ist eine sehr schwierige Situation, was die Rahmenordnung der Priesterbildung auf Weltebene angeht, weil es da einen entsprechenden Artikel zur Frage von Homosexualität und Priesterausbildung gibt. Nämlich, dass junge Männer mit sogenannten tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen nicht Priester werden könnten.
Bei dieser Formulierung merken Sie aber sofort, die ist interpretationsbedürftig. Was heißt tiefsitzend, und wie tiefsitzend darf es denn sein, sage ich mal ein bisschen karikierend. Und da merken Sie, wir haben auch einen gewissen Spielraum.
Ganz konkret sieht das bei uns in Münster so aus, dass ich in den vergangenen Jahren immer wieder erlebt habe, dass junge Männer mir das im Gespräch auch gesagt haben, dass sie homosexuelle Empfindungen bei sich feststellen. Wir haben dann gemeinsam überlegt, wie wir damit umgehen, und da gab es tatsächlich ganz unterschiedliche Ergebnisse.
Es gab sowohl welche, die dann gesagt haben, nein, für mich ist klar, ich kann nicht zölibatär leben, und andere, die gesagt haben, ich merke, dass ich zölibatär leben kann, auch mit dieser Orientierung, und deswegen gehe ich diesen Weg. Und wir von unserer Seite als Ausbildungsleitung haben das dann eben begleitet und beobachtet und Fragen gestellt und sind dann miteinander zu dem Schluss gekommen, wir haben den Eindruck, dass da jemand ganz ehrlich und aufrichtig vor sich selbst diese Frage beantwortet hat, und dann gehen wir den Weg mit.

Schöpferische Kraft der Sexualität nicht unterdrücken

Stalinski: Das heißt, für Sie ist wichtig, dass die Leute zölibatär leben, die Art der Sexualität, die sie dabei unterdrücken, ist für sie nicht so relevant.
Niehues: Ja, von Unterdrückung würde ich an der Stelle nicht sprechen. Es ist natürlich die Frage, wie gehe ich tatsächlich damit um. Es ist aber keine Unterdrückung. Wenn man diese Kraft der Sexualität, die ja eine ganz schöpferische Kraft ist, unterdrücken wollte, kann man darauf wetten, dass sie spätestens nach ein paar Jahren sich so dringend meldet, dass man auch gar nicht mehr weiter ausweichen kann. Das ist sicher keine Strategie, um mit dem Thema Sexualität umzugehen.
Ich glaube, dass es tatsächlich auch eine Berufung zum ehelosen Leben und damit auch zum Zölibat und zur Keuschheit gibt, und damit muss man sich auseinandersetzen. Das ist natürlich für junge Männer eine ganz wichtige Frage, denn die stecken ja gerade in der Phase, wo sie auch in ihrer Umgebung merken, da fangen welche an, in Beziehungen zu sein, da fangen welche an, Familie zu gründen vielleicht ein paar Jahre später, die bekommen Kinder, was macht das mit mir?
Und dann muss ich schauen, ist das so bedrängend für mich, dass das mehr Kraft kostet für mich, damit umzugehen? Oder ist es umgekehrt, tatsächlich, was es ja eigentlich sein soll, etwas, was mir Freiraum gibt, Freiheit gibt, damit ich meine Berufung als Priester besser leben kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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