Harte Kindheit

Rezensiert von Wolfgang Schneider |
Beate Rothmaiers historischer Roman „Caspar“ handelt von einer Kindheit und Pubertät unter katastrophal erschwerten Bedingungen: Caspar Schmid wird 1792 von seiner Mutter im Wirtshaus ausgesetzt, später an einen Landwirt abgeschoben und schließlich an die Soldaten verkauft. Ein höchst fremdes und befremdliches Leben zieht da am Leser vorbei – nahe gebracht durch eine artistische Prosa.
Der historische Roman ist ein sehr beliebtes, künstlerisch jedoch oft fragwürdiges Genre. Denn wie funktioniert der literarische Fahrstuhl in vergangene Epochen? Man steigt aus, und eigentlich ist doch alles wie gehabt: nicht die Welt der Dinge und Gerätschaften, aber die Menschen, die mit ihnen hantieren. Als hätten sich die Heutigen nur ins Damals kostümiert.

Auf sprachliche Gestaltung und Historisierung wird wenig Wert gelegt, umso mehr auf pittoreske Vorkommnisse, schauerliche Begebenheiten, prächtige Kulissen und hochromantische Gefühlsdramatik. So entsteht der verrufene „Konsalik im Kettenhemd“.

„Caspar“ von Beate Rothmaier ist ganz anders. Man denkt bei dem Titel natürlich gleich an Kaspar Hauser, jenes Findelkind, das in der völligen Isolation eines Kellerlochs aufwuchs und vielfach in der Literatur dargestellt wurde. Rothmaiers Caspar-Figur steht für eine ganz ähnlich gelagerte Problematik.

Über das Leben des 1787 in Ludwigsburg geborenen Caspar Schmid, der 1792 im Schwanenwirtshaus zu Schrezheim von seiner Mutter ausgesetzt wurde, gibt es im Stadtarchiv von Ellwangen einige Dokumente. Auf ihrer Basis hat die Autorin ein Fabulierkunststück errichtet, einen knapp zweihundertseitigen Roman, der aus der üblichen literarischen Produktion von Debütanten hervorsticht.

Caspar ist ein „Bankert“, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Verstoßen vom neuen Liebhaber seiner Mutter (ein brutaler Mann namens Sauer), wartet er im Wirtshaus mit einem Zettel um den Hals vergebens auf die Rückkehr seiner Mutter. Die Wirtin Kreszenz behält ihn nur deshalb bei sich, weil sich herausstellt, dass der leichtlebige Vater des Jungen, der Porzellanmaler Michael Schwartz, beim Amtmann Servilian Bröm einiges Geld zur Aufzucht Caspars hinterlassen hat. Bald wird er zu einem (ebenfalls erbarmungslosen) Landwirt gegeben, wo er die ganze Dumpfheit und Menschenschinderei des bäuerlichen Milieus zu spüren bekommt.

Nach einigen scheiternden Fluchtversuchen gelingt es ihm, das Lesen und Schreiben zu lernen und, auf den Spuren seines nie gekannten Vaters, in der Porzellanmanufaktur angestellt zu werden. Ein Bildungsroman scheint endlich Konturen anzunehmen, aber in einer Kette dramatischer Ereignisse werden die Keime des Besseren zerstört. Schließlich wird Caspar an die Soldaten verkauft:

„Sein Freund verhökerte ihn, als wäre er ein alter Ackergaul am Kalten Markt.“

Beim Versuch, auch hier wieder zu entkommen, ertrinkt Caspar in der Donau. Da ist er, nach einem aufreibenden Leben, gerade 15 Jahre alt.

Caspar ist eine ähnliche geschundene Existenz wie Büchners Woyzeck. Eine enge, gemeine Menschenwelt wird hier vorgeführt. Die ekstatischen Momente des Romans stehen in Zusammenhang mit dem Erleben der Natur, in der Caspar und seine koboldhafte Freundin Karolin herumstreifen. Eine Natur ist das freilich, die wenig mit den beseelten Landschaften Goethes zu tun hat, in denen der Mensch erfahren darf, dass er gut und harmonisch in die Welt passt. Unvermittelt wechselt Schönheit mit dämonischem Schrecken, Geborgenheit mit einem schwerem Verlorenheitsgefühl, das Caspar hastig zurücktreibt zur nächsten menschlichen Ansiedlung.

Das 18. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Aufklärung. In diesem Roman werden die Verhältnisse deutlich, gegen die sich die Licht bringende Vernunft durchzusetzen hatte: dumpf, stickig, bewusstlos, animalisch. Ein höchst fremdes und befremdliches Leben zieht da am Leser vorbei – nahe gebracht durch eine artistische Prosa, die archaisch wirkt, ohne altertümlich zu sein, die sehr kraftvoll ist und doch zugleich höchst subtil in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit.

Wenn es regnet, dann wird das nicht nur behauptet, sondern man erlebt den Regen:

„Das Wispern fallender Tropfen huschte durch die Kronen der Apfelbäume, und aus der frisch gemähten Wiese stieg der Geruch feuchter Halme und schwerer Erde.“

Ob Casper atmet, Angst hat oder einen glücklichen Moment erlebt – man erfährt es in unmittelbarer Leibhaftigkeit. Rothmaiers bildmächtige Sprache führt einen in unheimliche Wälder und Höhlen; sie schildert handwerkliche Prozesse mit faszinierender Konkretion, etwa die Arbeit an der Töpferscheibe oder Details der Porzellanherstellung.

„Caspar“ handelt von einer Kindheit und Pubertät unter katastrophal erschwerten Bedingungen. Man kann das Buch lesen als radikalen Gegenentwurf zu vielen Romanen junger Autoren, die bundesrepublikanische Jugendjahre im Zeichen von Playmobil von Popkultur darstellen. Kein Zweifel, dergleichen wirkt im Vergleich ziemlich harmlos und verhätschelt.

Beate Rothmaier: Caspar
Roman
Nagel & Kimche 2005,
191 S., 17,90 Euro