Sportlich gesehen war er sicherlich einer der besten Mittelstürmer Deutschlands in den 20er-Jahren, das muss man so uneingeschränkt sagen.
Tull Harder
Tull Harder war erster Nationalspieler des Hamburger SV. © picture alliance / dpa / Harro Schweizer
Vom Fußballidol zum KZ-Kommandanten
23:32 Minuten
Tull Harder war in den 20er-Jahren Fußballspieler beim Hamburger Sportverein und machte dann Karriere als KZ-Kommandant. Nach seiner Verurteilung als Kriegsverbrecher schloss ihn der HSV vorübergehend aus, empfing ihn dann aber wieder mit offenen Armen.
Tull, eigentlich Otto Fritz Harder, ist im niedersächsischen Braunschweig aufgewachsen. Der HSV lockte das Fußballtalent nach Hamburg, indem ein reicher Sponsor Harder unter der Hand eine Versicherungsagentur einrichtete. Denn offiziell war Fußball damals noch Amateursport.
Der Transfer machte sich bezahlt. Als Mittelstürmer schoss Harder fast 400 Tore für den HSV und sorgte dafür, dass die Hamburger mit ihm zweimal Deutscher Fußballmeister wurden. In den 20er-Jahren entwickelte sich Harder regelrecht zum Fußballidol.
„Spielt der Harder Tull, wird es wieder drei zu null“, hieß ein beliebter Schlager, den die Leute im Kabarett und im Stadion sangen. 1925 spielte der Publikumsliebling in der Nationalmannschaft mit Sepp Herberger. Harder wird als echte Sportgröße gefeiert, weiß Niko Stövhase, Leiter des HSV-Museums.
Harders Biograf, der Soziologe Roger Repplinger erklärt, wie der Fußballspieler zu seinem Spitznamen Tull gekommen ist.
„Es gab einen englischen Fußballer, der Tull hieß. Wenn ich mich richtig entsinne, haben die Hamburger irgendwann mal gegen diese Mannschaft gespielt, in der Tull gespielt hat, der englische - und dann ist der Name an ihm hängen geblieben. Und heute firmiert er sozusagen unter Otto Tull Harder.“
Walter Daniel Tull von den Tottenham Hotspurs hatte den HSV-Spielern ein paar neue Tricks gezeigt, wie ein Mittelstürmer zum Beispiel die Verteidigung ins Leere laufen lässt. Das war genau Harders Spielweise. Beim nächsten Spiel wurde Otto Harder „Tull“ gerufen. Und dieser Spitzname wurde ein Leben lang zu seinem Markenzeichen.
Harder war erster Nationalspieler des HSV
1927 wurde Harder in einem Stummfilm sogar als „Der König der Mittelstürmer“ gefeiert. Damit war der Fußballer Tull Harder zu einem Mann der Zeitgeschichte geworden. Seine Versicherungsagentur lief prächtig. Die Kunden schlossen bei ihm Verträge ab, nur um mit dem großen Fußballer zu sprechen. Sogar eine Zigarettenmarke trug seinen Namen. Jeder Packung lag ein Foto von ihm bei mit dem Spruch: „Sportler raucht die neue Tull Harder Cigarette.“
Harder war der erste Nationalspieler des HSV. Auf dem Platz kämpfte er bis zum Umfallen, danach wollte er mit seinen Kameraden ausgiebig feiern, das war seine Devise.
Harder suchte bei der SS den Zusammenhalt
Doch mit 39 Jahren war Schluss. Er war zu alt und wurde nicht mehr aufgestellt. Harder, der als Soldat im Ersten Weltkrieg ein Draufgänger war und nie Angst hatte, fürchtete sich vor der Zukunft und suchte nach einem Ersatz für den Fußball.
Angezogen fühlte er sich von der SS und von Hitler. Schon 1932 trat er der NSDAP bei, 1933 wurde er in die Schutzstaffel aufgenommen. Bei der SS suchte Harder den Zusammenhalt, den er von seinen Fußballkameraden kannte, vermutet Stövhase.
Vergleichbares hat er dann möglicherweise in dieser SS gefunden, neben seinem Berufsalltag quasi in seiner Freizeit in dieser SS-Kameradschaft das wiederzufinden, was er im Fußball vorher hatte.
Harder kam erst mit 41 zur SS
Eigentlich war Harder mit 41 Jahren für die SS zu alt. Doch weil er prominent war, wurde ein Auge zugedrückt. Die Waffen-SS bewachte und verwaltete die Konzentrationslager. Deshalb wurde Harder mit Kriegsbeginn im KZ Sachsenhausen eingesetzt. Weil seine Familie in Bendestorf in der Nähe von Hamburg lebte, ließ er sich ins KZ Neuengamme versetzen.
Auf dem riesigen Gelände des Konzentrationslagers Neuengamme waren von 1938 bis 1945 mehr als 106.000 Gefangene interniert, erzählt der langjährige Archivar der Gedenkstätte Neuengamme, Reimer Möller, beim Rundgang. Harder war zuerst Hundeführer, dann musste er sich in der Lagerverwaltung um die Kleiderkammer und die Geräteausgabe kümmern.
Harder war als Wachmann im KZ Neuengamme
Wie in allen Konzentrationslagern wurden die Häftlinge auch in Neuengamme durch übermäßige Schwerstarbeit und mangelhafte Ernährung systematisch vernichtet. Mehr als 40.000 starben. Weil es in Neuengamme Kleierde gab, baute die SS dort die größte Ziegelei Europas auf. Die Häftlinge mussten Ziegelsteine brennen, es wurden aber auch Möbel und Ersatzteile für Pistolen hergestellt.
Was Harder im KZ Neuengamme zu sehen bekam, schockierte ihn offensichtlich nicht. Die SS hatte ihm eingeimpft, dass er es als Wachmann im KZ mit den Feinden des deutschen Volkes zu tun hat. Die müssten in den Lagern gebrochen, erniedrigt und beim geringsten Widerstand liquidiert werden.
Sogar aus dem Fußballspielen soll er noch seine Vorteile gezogen haben. Häftlinge aus der Küche, dem Lazarett und der Wäscherei, die noch die Kraft hatten, Fußball zu spielen, hatten sich aus Lederresten einen Ball genäht und brauchten noch eine Blase. Sie baten den Fußballer Harder, doch der ließ sich diese Gefälligkeit mit einer großen Anzahl von Zigaretten bezahlen, die das Zahlungsmittel im KZ waren.
Harder war zwölf Jahre Mitglied der SS
Harder war überzeugter Nationalsozialist, zwölf Jahre Mitglied der SS und KZ-Lagerkommandant. Doch nach dem Krieg nahm er wieder seine Arbeit als Versicherungsvertreter auf, als wäre nichts gewesen.
Harder hatte ein reines Gewissen, betont Repplinger, er war der Ansicht, dass er sich bei der SS nichts habe zuschulden kommen lassen. Der NS-Staat und die politische Führung hatten ihn gedeckt. Und die SS-Politik besagte, dass die Häftlinge minderwertig waren.
"Ich glaube nicht, dass er der Einzige ist, der gedacht hat, er hat nichts Unrechtes getan."
Auch für Niko Stövhase, den Leiter des HSV-Museums, ist es eindeutig, dass der Fußballstar Tull Harder zum Naziverbrecher geworden ist.
Natürlich war er Verbrecher, denn letztendlich war er jahrelang zunächst im Konzentrationslager Neuengamme tätig, als Wachmann und dann auch in der Lagerverwaltung. Er hatte da auch Kontakt mit Häftlingen, hat natürlich ganz genau gesehen und gewusst, was letztendlich dieses System Konzentrationslager mit den inhaftierten Menschen macht, dass da massenhaft gemordet wird. Für mich steht absolut außer Frage, dass er um die Verbrechen wusste und durch sein Handeln dazu beigetragen hat.
Nach dem Krieg wurde Harder von den Briten verhaftet. Er saß ein Jahr in Untersuchungshaft, bevor ihm 1947 der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht wurde. Das britische Militärgericht saß im Curiohaus, einem bekannten Hamburger Gesellschafts- und Veranstaltungsgebäude, wo der HSV immer seine Meisterschaftsfeiern veranstaltet hatte.
Nicht vom Nationalsozialismus distanziert
Während der Verhandlung distanzierte Harder sich nicht vom Nationalsozialismus und bekannte sich "nicht schuldig". Allerdings gab er zu, dass er als Lagerkommandant dafür gesorgt hatte, dass die Häftlinge die schwere Arbeit machen mussten, an der sie starben. Und er bestätigte, dass das Lager leer werden musste. Von den 1000 Häftlingen in Ahlem, zumeist polnische Juden, haben nur 250 das KZ überlebt.
Vermutlich war es Harders Position als Fußballstar, die das britische Militärgericht beeindruckte. Prominente Fußballerkollegen aus ganz Deutschland hatten Harder als stets fairen Sportsmann und Vorbild für die Jugend gelobt, weiß Stövhase.
„Und da hatte natürlich auch diese Verbindung zu sehr einflussreichen Personen im DFB, die dann in führenden Positionen waren, dazu beigetragen. Da gab's dann auch zahlreiche Unterstützungsschreiben.“
Harder selbst hatte dem Gericht geschrieben, er sei in der europäischen Sportwelt als Tull Harder, Mittelstürmer des HSV und der deutschen Nationalmannschaft bekannt. 15-mal habe er die deutschen Farben in fast allen europäischen Staaten vertreten und auch in England.
Der HSV empfing ihn wieder mit offenen Armen
Harder entkam tatsächlich dem Tod durch den Strang. Das britische Militärgericht verurteilte ihn lediglich zu 15 Jahren Zuchthaus. Nach nur vier Jahren war er aber schon 1951 wieder auf freiem Fuß.
Beim HSV wurde der frühere Nationalspieler mit offenen Armen empfangen. Seine Vergangenheit wurde nicht angesprochen. Bis zu seinem Tod war Harder ein gern gesehener Gast im HSV-Stadion, im Vereinsheim vor und nach den Fußballspielen und bei den Treffen der Alten Herren.