Harald Martenstein: "Wut"

Prügelattacken aus dem Nichts

07:00 Minuten
Das Buchcover "Wut" von Harald Martenstein ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"Dies ist ein Roman, keine Biografie und keine Reportage", schreibt Harald Martenstein im Prolog zu "Wut". © Ullstein Verlag / Deutschlandradio
Von Jörg Magenau · 30.01.2021
Audio herunterladen
Harald Martenstein schildert in seinem beklemmenden Roman "Wut" eine Kindheit voller Gewalt. Verzeihen kann der Erzähler seiner Mutter nicht. Gerade weil das Buch nicht autobiografisch sein will, legt es doch diese Lesart nah.
Kindheiten verlaufen selten ideal, hat Harald Martenstein vor rund zehn Jahren in einer seiner Kolumnen für die "Zeit" geschrieben. Daraus leitete er ab, dass jeder zu einem Täter, einem potenziellen Mörder gar, werden könne, dass aber auch jeder für seine Taten verantwortlich ist - und sich nicht einfach auf eine schlimme Kindheit berufen darf.
Sein Roman "Wut" liest sich wie ein Exempel zu diesen Thesen, denn der Icherzähler Frank hat eine ganz besonders fürchterliche Kindheit hinter sich und spielt am Ende zumindest in Gedanken mit der Möglichkeit, ein Mörder zu sein. Doch da sitzt er in der Psychiatrie, und es ist empfehlenswert, ihm nicht alles zu glauben, was er behauptet.

Liebes- und Bindungsunfähigkeit geerbt

Die Wut, die er in sich spürt, ist die Wut seiner Mutter. Die Mutter mit dem heiligen Namen Maria hat diese Wut in ihren Sohn hineingeprügelt. In der Auftaktszene versteckt sich der Junge, zwölf oder 13 Jahre alt, unterm Bett, von wo sie ihn mit dem Besen und den Worten "Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße" herausstochert.
Ähnlich drastisch geht es weiter. Ihre Prügelattacken kommen grundlos und für das Kind völlig unverständlich. Der erwachsene Erzähler, der die demente Mutter ins Pflegeheim bringt, vermutet, Gewalt sei für sie "ein Heilmittel, ein Stresskiller" gewesen und habe ihr "eine Art Orgasmus" verschafft.
Verzeihen kann er ihr nicht. Doch er versucht, sie zu verstehen, indem er sich ihr erzählerisch annähert und ihre eigene Kindheit rekonstruiert. Tatsächlich gelingt es Martenstein, diese schreckliche Frau als Romanfigur mit Wärme und nicht ohne Sympathie zu zeichnen.
Sie wurde von der eigenen Mutter im Stich gelassen, wuchs bei einer Tante auf, die in der Nachkriegszeit ein Bordell unterhielt, machte dort mit 14 erste sexuelle Erfahrungen, während sie zugleich ein katholisches Gymnasium mit Nonnen als Lehrerinnen besuchte, heiratete früh und, natürlich, den Falschen.
Martensteins Frank weiß über die Ehe- und Liebesverhältnisse der Mutter Bescheid und begreift allmählich, wie er die vergeblichen Bemühungen der Mutter im eigenen Leben fortgesetzt hat. Nicht nur die Wut hat er von ihr geerbt, sondern auch die Liebes- und Bindungsunfähigkeit.

Eine Geschichte von Abenteuer und Flucht

Das alles ist so direkt, so beklemmend, so unentrinnbar in der szenischen Darstellung und in lebensechten Dialogen, dass die Vermutung naheliegt, es handle sich in Wahrheit um einen autobiografischen Roman. Dem schiebt Martenstein in einem vertrackten Prolog scheinbar einen Riegel vor. "Dies ist ein Roman, keine Biografie und keine Reportage", schreibt er da, berichtet aber zugleich davon, wie er die Wohnung seiner alten Mutter ausräumt und sich dort im "Steinbruch der Erinnerungen" befindet.
Als wolle er damit einen klaren Schnitt machen, tauft er seinen Ich-Erzähler hier demonstrativ auf den Namen Frank. Das hat den merkwürdigen Effekt, dass der Roman durch diese Geste der Distanzierung stärker ins Autobiografische verrutscht, als das ohne den Prolog der Fall wäre. Aber gerade darin besteht der erzählerische Kniff.
Das Geschehen steigert sich vom soziopathischen Psychogramm einer Kindheit in eine immer absurde Lebensgeschichte hinein, bis Martenstein zum Schluss hin alle Glaubwürdigkeit hinter sich lässt. Da verfällt sein Erzähler in ein fantastisches Fabulieren, als könnte alles, was möglich ist, auch wahr sein. Ihm ist anzumerken, wieviel Freude ihm die Abenteuer- und Fluchtgeschichte bereitet, in der jeglicher Autobiografieverdacht verschwindet.
Vielleicht bestehen darin die wahre Katharsis und der eigentliche Sinn dieses Erzählens, das sich von zersplittertem Erinnerungsmaterial ausgehend immer tiefer ins Fiktive, Romanhafte und damit in eine höhere Freiheit hineinschreibt. Die Härte des unmittelbar Erlebten geht dabei in den Schlusskapiteln verloren. Aber das ist nur ein kleiner Einwand gegen dieses packende, schillernde Mutterbuch.

Harald Martenstein: "Wut"
Roman
Ullstein Verlag, Berlin 2021
270 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema