Hans Weingartner über seinen neuen Film "303"

"Sobald Sex ins Spiel kommt, wird es langweiliger"

Der Regisseur Hans Weingartner bei der Premiere des Films "Die Summe meiner einzelnen Teile" (2012)
Regisseur Hans Weingartner: Neuer Film nach sieben Jahren © dpa / Jens Kalaene
Hans Weingartner im Gespräch mit Susanne Burg · 14.07.2018
In "303" fragt Regisseur Hans Weingartner, welche Prinzipien wir ändern müssen, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Dabei ist der Film ein Roadmovie. Zwei junge Menschen diskutieren mal ganz grundsätzlich und kommen sich näher – aber ganz langsam.
Susanne Burg: Es war gerade einmal Hans Weingartners zweiter Langfilm, und der lief im Wettbewerb von Cannes. 2004 war das. "Die fetten Jahre sind vorbei" hieß der Film. Drei Jahre später kam "Free Reiner. Dein Fernseher lügt" ins Kino, eine Satire über eine Truppe Rebellen, die Fernseheinschaltquoten manipulierten. Es folgte "Die Summe meiner einzelnen Teile" über einen Mathematiker, der nach einem Zusammenbruch in die Psychiatrie kommt, seinen Job verliert und schließlich auf der Straße landet. Jetzt, nach sieben Jahren präsentiert Hans Weingartner ein neues Werk, "303", ein Roadmovie. Jule hat ihre Uni-Prüfungen verhauen, will mit dem Wohnmobil zu ihrem Freund nach Portugal und nimmt an einer Tankstelle einen Tramper mit, Jan, der seinen Vater in Spanien besuchen will. Eigentlich soll es gemeinsam nur bis Köln gehen, aber die beiden nähern sich an, unterhalten sich über die kleinen, aber auch viel über die großen Fragen, über Liebe, Beziehungen, Lebensentwürfe und die richtigen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme.
Ich freue mich, dass der Regisseur des Spielfilms ins Studio gekommen ist. Guten Tag, Hans Weingartner!
Hans Weingartner: Hallo, guten Tag!
Burg: Den Weg, den die beiden zurücklegen, der ist weit, gute 3.000 Kilometer, von Berlin bis nach Portugal. Was hat Sie an dieser Idee eines Roadmovies gereizt.

"Diesen Dialogfilm wollte ich immer schon machen"

Weingartner: Das ist so zufällig entstanden, weil ich selbst diese Tour mal gemacht habe beim Dreh von meinem ersten Film, "Das weiße Rauschen". Da saß ich genau in so einem alten Mercedes-Bus, immer neben so einer Hippie-Frau, und da sind wir immer so durch die Nacht gefahren und haben uns unterhalten über Gott und die Welt, stundenlang. Ich hab das geliebt einfach, diese Gespräche, ich hab das immer schon geliebt, schon als Kind, als Jugendlicher, immer schon, das Philosophieren. Und irgendwie ist mir eben aufgefallen, dass so ein alter Bus, dass das wie eine Zeitmaschine ist, dass man da sich auch dann entspannt, dass man nicht mehr geprüft wird von der Realität, weil die ist irgendwie weit weg. Und man bewegt sich ja immer, man ist ja, bevor einen die Realität erwischen kann, ist man ja schon wieder 100 Meter weiter. Und diesen Dialogfilm wollte ich immer schon machen, seitdem ich bei "Before Sunrise" gearbeitet hatte in Wien. Als kleiner Produktionsassistent hatte ich damals Julie Delpy rumgefahren und so, und damals schon dachte ich, das ist geil, das will ich auch mal machen, diese Kombination aus Philosophie und Liebesfilm.
Burg: Genau, das ist ja auch ein Film, wo sich zwei Menschen eigentlich über das Leben, die Fragen unterhalten, Ethan Hawke und Julie Delpy. Da hat man bei Ihnen auch im Film das Gefühl, die müssen sich in dem Fall wirklich auch erst mal kennenlernen. Sie sitzen in dem Auto zusammen, sie streiten sich am Anfang, finden sich auch ein bisschen doof. Jule wirft Jan raus. Dann treffen sie doch wieder aufeinander. Es ist auch ein bisschen eine Versuchsanordnung, was passiert, wenn man zwei Menschen für eine Zeit lang zusammensteckt, oder?

"Ich wollte das persönlicher, emotionaler haben"

Weingartner: Ich würde es nicht als Versuchsanordnung bezeichnen, das hört sich so ein bisschen nach weißen Mäusen im Käfig an. Es war mehr so, dass ich diese Phase immer so geliebt habe, wenn ich eine Frau kennengelernt hatte. Du läufst nachts durch Wien oder wo auch immer, und unterhältst dich und redest und redest und vergisst die Zeit, und dein Herz klopft und du bist irgendwie aufgeregt und vollkommen elektrisiert. Es ist so ein Hochgefühl, das ist ja mit nichts zu vergleichen. Das sind die schönsten Momente im Leben. Und dann dachte ich, das will ich mal auch in einem Film sehen. Und da war mir tatsächlich "Before Sunrise" ein bisschen zu wenig davon. "Before Sunrise", da haben die mehr so eine ironische Distanz zu allem und zu sich. Ich wollte das so ein bisschen persönlicher, emotionaler haben, ehrlich gesagt.
Burg: Dieses Herzklopfen, das die über die 3.000 Kilometer entwickeln, das muss man ja auch irgendwie inszenieren, und das dann … Sie sind viel draußen, sie springen in Seen zusammen, aber viel passiert ja wirklich in dem Wohnmobil. Was waren die Herausforderungen der Inszenierung dabei?
Weingartner: Sie sollten ursprünglich noch viel mehr im Wohnmobil reden. Es hat sich dann aber herausgestellt, dass es schwierig ist kameratechnisch, dass die Schauspieler sich körperlich natürlich nicht so gut ausdrücken können. Und dann natürlich, dass auch der Ton schlecht ist, und es hat 40 Grad im Sommer. Deswegen haben wir das dann immer mehr nach draußen verlagert. Ehrlich gesagt, auch schon in der Drehbuchphase habe ich schon schnell gemerkt, so bei den Probedrehs, du hast viel mehr Freiheiten, wenn du draußen auf einer Wiese bist. Es geht eben um diese Phase des Verliebens, vor dem ersten Kuss. Die ist einfach so schön, die wollte ich mal in einem Film einfangen.
Burg: Und Sie lassen die Zuschauer schon sehr schmoren, bis dann der erste Kuss erfolgt. Das dauert sehr lange. Es folgt nicht unbedingt der klassischen Dramaturgie, wo man so sagt, na ja, bei Kilometer 400 müsste eigentlich der erste Kuss kommen.

"Das ist erst mal ein Freundschaftsfilm"

Weingartner: In normaler Liebesfilmdramaturgie ist das "Boy meets girl", aber nach 20 Minuten werden sie getrennt, entweder weil die Familie dagegen ist oder er in den Krieg ziehen muss oder anderswohin. Und dann kämpfen sie den Rest des Films eigentlich darum, sich wieder zu kriegen, und es geht ja nur darum, wer wen kriegt. Es geht aber nicht um Liebe, es geht um ein Drama. Und das gibt es natürlich jetzt nicht in dem Film, sondern das ist mehr so wie in echt. Man lernt sich kennen, beschnuppert sich, findet sich cool, traut es sich aber nicht zu sagen, dann doch, und ist verwirrt und aufgeregt. Und vor allem hast du halt auch, und das freut mich jetzt selbst, dass der Film, ich würde sagen, das ist erst mal ein Freundschaftsfilm über zwei Seelen, die sich treffen und kennenlernen. Seien wir doch ehrlich: Sobald der Sex ins Spiel kommt, wird es doch ein bisschen langweiliger, dann geht das Ganze auf die animalische Ebene und irgendwie geht was verloren.
Burg: Die sind ja Mitte 20, und was auch in den Dialogen immer wieder herauskommt, ist, dass sie ja eigentlich schon ganz schön viel auch verstanden haben. Nicht, dass sie es unbedingt gelebt haben – das ist vielleicht der Unterschied –, aber sie reden viel über die große Liebe, gibt es die überhaupt? Sie bereden, was könnten neue Beziehungsmodelle sein. Das Gleiche trifft dann auch zu auf Gesellschaftssysteme, politische Systeme. Da gibt es so einen Dialog, "komm mir jetzt bitte nicht mit Kapitalismus oder Kommunismus, beides ist gleich beschissen, viel interessanter ist doch die Frage nach dem Grundprinzip, also was uns als Menschheit insgesamt weiterbringt. Konkurrenz oder Kooperation?" Da habe ich so gedacht, wow, also, das ist schon ganz schön viel, was Mitte-20-Jährige verstanden haben, aber womit sie ja dann auch umgehen müssen in gewisser Weise.
Weingartner: Ja, da hast du wirklich ins Schwarze getroffen. Ich muss einfach jetzt hier ein Geständnis machen, und zwar, ich habe den Film angefangen, zu schreiben, da war ich tatsächlich irgendwie 24, 25. Aber ich hab damals nicht die Fähigkeiten gehabt, das umzusetzen als Film und habe dann 20 Jahre lang immer weiter dran geschrieben, es immer wieder versucht. Deswegen reden die jetzt teilweise halt wie 24-Jährige, teilweise natürlich auch wie Leute mit 20 Jahren Lebenserfahrung. Und ich muss sagen, irgendwie – klar, es ist eigentlich jetzt nicht so hundertprozentig realistisch, dass ein 24-Jähriger schon so viel weiß über Beziehungen. Aber irgendwie hat das was. Ich meine, man täuscht sich da. Die Mala, als wir das gedreht haben, war sie 19, und die hat das hundertprozentig verstanden, und zwar in Bruchteilen von Sekunden, alles. Es ist nicht so. Wir unterschätzen immer Kinder, wir unterschätzen Jugendliche, wir unterschätzen junge Erwachsene. Diese jungen Gehirne, die sind schon sehr frisch, die verstehen einiges. Das ist nicht so …

"Diese Jugend wird heutzutage einfach früher erwachsen"

Burg: Das ist auch das, was ich immer wieder über die Generation der Mitte-20-Jährigen höre. Meine Frage wäre jetzt eher gewesen, wie Sie recherchiert haben. Aber offensichtlich war das gar nicht. Es wirkt total stimmig in sich.
Weingartner: Ich hab schon recherchiert. Wir haben ungefähr 200 Videointerviews gemacht, und da war das genauso. Da haben wirklich so Anfang-20-Jährige in Interviews zum Beispiel immer gesagt zum Thema Polygamie, Monogamie, zum Beispiel ganze Lebensweise, haben sie schon gesagt, also ich glaube nicht, dass ich eine lebenslange Beziehung haben werde. Die wird maximal fünf bis zehn Jahre sein, und dann werde ich wahrscheinlich den Partner wechseln müssen. Also da war ja, wow, also so weit war ich noch nicht in dem Alter. Ich glaube, dass die Leute wirklich, dass diese Jugend heutzutage einfach früher erwachsen wird. Ich meine, die haben ja auch einen Pool an Informationen, die haben ja alle Information, die sie brauchen, auf Knopfdruck, und das merkt man. Die sind schon smarter.
Burg: Mich würde noch interessieren eigentlich die Werdung des Films, also wie viel vorher schon im Drehbuch festgelegt war oder inwieweit dann die Dynamik der Reise, inwieweit Sie die dann auch mit eingebaut haben, weil ich mir vorstellen kann, dass so eine Reise natürlich auch schon was anfängt mit den Schauspielern.
Weingartner: Dieses Drehbuch war hundertprozentig festgelegt, da muss ich dich enttäuschen. Ich hab die Reise aber selber gemacht schon 2013 und da das Drehbuch geschrieben. Aus der Dynamik von der Probereise ist viel drin jetzt im Drehbuch, aber dann selber der Dreh bei Roadmovies, da musst du echt alles genau planen, und es muss zack-zack gehen. Da kann man nicht viel an Locations zum Beispiel variieren. Aber was natürlich eine Rolle gespielt hat und was auf jeden Fall stattfindet, ist, dass die Schauspieler, wenn du chronologisch drehst und diese Reise wirklich machst mit so einem kleinen Team und an denselben Campingplätzen auch wohnst, wo gedreht wird, dass das was mit dir macht, dass sich das zwischen Mala Emde und Anton Spieker auch sich natürlich, dass da eine Vertrautheit entstanden ist im Umgang. Ich sage immer, es werden nicht nur die Haare blonder und die Gesichtsfarbe wird brauner, sondern auch in ihnen tut sich was.

Welche Prinzipien müssen wir ändern?

Burg: Sie gelten ja auch als Regisseur, der viel sich so mit gesellschaftlichen Zuständen, also der die auch immer wieder verarbeitet, wenn man jetzt an ältere Filme denkt, "Die fetten Jahre sind vorbei" oder auch "Free Rainer", wo es eigentlich so Aktivisten sind. Bei dem Film hat man jetzt so ein bisschen das Gefühl, Sie behandeln schon die Fragen gesellschaftlicher und menschlicher Existenz, aber sie machen sich eher auf die Reise als Fragende, es sind nicht die Aktivisten, die im Zentrum stehen.
Weingartner: Ich würde sagen, "Die fetten Jahre sind vorbei", die Protagonisten, die werden aktiv, klar, sie machen was, sie sagen, wir müssen die Welt verändern, es muss was passieren. Aber was sie dann letztendlich machen, ist ja fast schon ein bisschen hilflos. Sie greifen halt die Bonzen an, das ist die einfachste Lösung, die dir als Erstes natürlich einfällt. Wir müssen die Reichen wegmachen. Aber wenn du einen Bonzen köpst, kommt halt der nächste. Das heißt, sie scheitern ja letztendlich auch im Film, wenn man ehrlich ist. Das heißt, was du ändern musst, ist das Grundprinzip, also die Philosophie, das Fundament musst du ändern, das Prinzip, nach dem unsere Gesellschaft funktioniert. Und deswegen ist "303" quasi noch mal ein Versuch, zu sagen, okay, lasst uns noch mal nachdenken, was läuft eigentlich wirklich falsch, welche Prinzipien müssen wir ändern?
Burg: "303", so heißt der neue Film von Hans Weingartner. Am Donnerstag kommt er ins Kino. Hans Weingartner, vielen Dank für Ihren Besuch!
Weingartner: Ja, gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Trailer zu "303"

Mehr zum Thema