Zum Tod von Hans-Thies Lehmann

Ein demütiger Theoretiker

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Ein Stuhl steht auf ein leeren Bühne
Weg vom Text, hin zur Performance: Die Forschungen des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann zum "postdramatischen Theater" waren bahnbrechend. © picture-alliance / ZB / Arno Burgi
Alexander Karschnia im Gespräch mit Gabi Wuttke  · 17.07.2022
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"Theater ist Ausnahme" lautete einer der Leitsätze des verstorbenen Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann. Sein früherer Student Alexander Karschnia erinnert an den bahnbrechenden Theoretiker des postdramatischen Theaters.
Als Wegbereiter des postdramatischen Theaters hat der Theatermacher Alexander Karschnia den verstorbenen Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann gewürdigt. Sein einstiger Professor ist am Samstag, den 16. Juli 2022, im Alter von 77 Jahren gestorben.

Emanzipation auf der Bühne

Über das Theater habe er als Student so ziemlich alles von Lehmann gelernt, erinnert sich Karschnia an die gemeinsame Frankfurter Zeit. Es sei damals bahnbrechend gewesen, zu sagen, dass sich das Theater vom Text und vom Drama emanzipieren könne und eine Art "soziale Praxis" sei. Lehmann habe den schönen Satz geprägt: "Theater ist Ausnahme", an den er immer wieder denken muss, so Karschnia.

Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann zählt zu den Theoretikern des „postdramatischen Theaters“. Seine gleichnamige Publikation aus dem Jahr 1999 wurde zum bahnbrechenden Standardwerk. Darin werden die Entwicklungen und Umbrüche des westlichen Theaters seit den 1960er-Jahren analysiert, das sich vom Text zusehends löste und den performativen Charakter betonte.

Zusammen mit Andrzej Wirth arbeitete Lehmann am Aufbau des Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen mit, den Wirth 1982 gründete. Aus ihm gingen bekannte Regisseurinnen und Regisseure wie René Pollesch, Hans-Werner Kroesinger hervor, aber auch Theatergruppen wie "She She Pop" oder "Rimini Protokoll". Später unterrichtete Lehmann in Frankfurt am Main und begründete dort einen Studiengang.

Als seine Studie "Postdramatisches Theater" 1999 erschien, sei Lehmann von dem gewaltigen Echo völlig überrascht worden, erinnert sich Karschnia. In der Theaterszene habe dieses Werk damals etwas aufgerüttelt: "Was er uns allen in die Hand geliefert hat, war eigentlich so eine Art theoretische Waffe."

Gefeiert wie ein "Popstar"

Bis dahin hätten sich viele Theatermachter rechtfertigen müssen gegen den Vorwurf, es sei doch kein Theater, was sie da machen. "Auf einmal hatte man plötzlich einen Begriff und das war damals wirklich neu und war auch einsetzbar", sagt Karschnia. "Das hat den Weg geebnet für neuere Formen."

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Das Buch habe auch international in vielen anderen Ländern Einfluss auf das Theater gehabt. In Brasilien erlebte Karschnia selbst mit wie Lehmann bei einem Vortrag im Goethe-Institut wie ein "Popstar" gefeiert wurde.

Seltene Bescheidenheit

Der Theaterwissenschaftler sei ein verbindlicher und gütiger Mensch gewesen, sagt Karschnia. "Er hatte diese fast schon Demut des Theoretikers gegenüber der Praxis - das gibt es viel zu selten." Dabei habe Lehmann den Theatermachern so viel ermöglicht.
Nun hofft Karschia, dass es gelingt, nach Lehmanns Tod dessen letztes Buch über "Die Philosophie des Theater" zu veröffentlichen, an dem der Theaterwissenschaftler bis zuletzt noch mit großer Willenskraft gearbeitet habe. "Dies darf uns eigentlich nicht vorenthalten bleiben."
(gem)

Literaturhinweis
Hans-Thies Lehmann: "Postdramatisches Theater"
Verlag der Autoren, Hamburg 2015
512 Seiten, 25 Euro.

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