Hans Magnus Enzensberger: „Eine Handvoll Anekdoten“

"Die Memoiren lügen immer"

Cover von Hans Magnus Enzensbergers Buch "Eine Handvoll Anekdoten". Im Hintergrund ist Enzensberger zu sehen, als er diesem Buch vorliest.
Enzensberger liest aus seinem Buch "Eine Handvoll Anekdoten". © Suhrkamp / imago stock&people
Von Knut Cordsen  · 04.12.2018
"Man blickt zurück und erinnert sich manchmal an Dinge, die gar nicht stattgefunden haben", sagt Hans Magnus Enzensberger. Am Anfang seiner scharfsinnigen Anekdoten aus seiner Jugend und Kindheit steht deshalb der Zweifel.
Lebenserinnerungen gilt es stets zu misstrauen, sagt Hans Magnus Enzensberger:
"Die Memoiren lügen ja immer. Man blickt zurück und erinnert sich manchmal an Dinge, die gar nicht stattgefunden haben. Man weiß eigentlich nur sehr wenig über sich selbst."
Erinnerungen seien stets verdächtig, so der 89-Jährige, zu oft gründeten sie sich auf Familienlegenden, die sich dadurch, dass sie wieder und wieder erzählt würden, verfestigten und fatalerweise für wahr gehalten würden.
Am Anfang dieser in Form von kurzen Flashbacks versammelten Kindheits- und Jugenderinnerungen steht der Zweifel. Und an Stelle eines Klappentextes zitiert Enzensberger die Dichterin Anna Achmatova. Die habe ihren Freunden eingeschärft:
"Jeder Versuch, zusammenhängende Erinnerungen zu verfassen, liefe auf eine Fälschung heraus".

Scharfsinnige Anekdoten und Beobachtungen

Ursprünglich war dieses Buch nur ein Privatdruck, Auflage 99 Exemplare, angefertigt für Familie und Freunde. Ein Glück, dass es der Suhrkamp Verlag nun einem breiten Leserkreis zugänglich macht, denn Enzensberger zeigt sich in diesem Rückblick so scharf- und eigensinnig wie eh und je.
Mögen andere Autoren sich mit Hilfe dicker Schwarten ihrer eigenen Bedeutung versichern müssen – Enzensberger bescheidet sich mit einer Handvoll Anekdoten. Er erzählt in ein-bis zweiseitigen Miniaturen von "M.", der als ältestes von vier Geschwistern aufwächst, wohlbehütet und früh schon neugierig auf diese Welt. Was etwa treibt in Nürnberg jener "feiste Nachbar" gegenüber im Garten seiner "Sandsteinresidenz"?
"Kinder wittern immer, was man ihnen zu verbergen versucht", schreibt Enzensberger. Der "fette, stiernackige Mann", der sich da offenbar mit Frauen vergnügt, war der Nazi Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts "Der Stürmer":
"Nach dem Krieg ist der Gauleiter gehenkt worden."
So beschließt Enzensberger diese kurze Erinnerung. Lakonischer geht es nicht.

"Geschichte einer kleinen Fahnenflucht"

Dieser Stil zeichnet immer schon den Lyriker Enzensberger aus, der vor einigen Jahren bereits in seinem Gedicht "Nürnberg 1935" beschrieb, wie er als Sechsjähriger auf die Welt sah. Während "der arme Günter Grass" noch umstandskrämerisch "Beim Häuten der Zwiebel" von seiner kurzen Zeit in der Waffen-SS berichtete, erzählt Enzensberger, wie er sich als 13-Jähriger der "Zumutung" eines Rekrutierungsversuchs der Waffen-SS zu entziehen verstand.
Als Schuljunge wurde er in den letzten Kriegstagen in eine "HJ-Division" abkommandiert, um mit ein paar Panzerfäusten "die Streitmacht der Vereinigten Staaten von Amerika aufzuhalten". "Diese Mission leuchtete M. nicht ein." Was folgt, ist "Die Geschichte einer kleinen Fahnenflucht", die ihm allerdings selbst suspekt ist, weswegen er sie so beendet:
"Diese schlichte, mehr als einmal erzählte Geschichte ist vermutlich im Lauf der Jahrzehnte ausgeschmückt und verbessert worden, so daß M. selber nicht mehr zu sagen weiß, ob sie sich genauso angespielt hat."

Nach 1945 entdeckte Enzensberger die Welt

In diesem unaufgeregten Ton geht es weiter: nach 1945, "nach der Befreiung, das heißt, nach der Niederlage", der unbedingte Wille, "raus" zu wollen aus den engstirnigen deutschen Verhältnissen, dem Adenauerschen "Restauratorium" (Peter Rühmkorf). Erste Reisen nach London und Paris lassen den jungen Enzensberger, der sich früh mit Lilliput-Wörterbüchern Fremdsprachen selbst beigebracht hatte, ahnen, was ihm und seinen Generationsgenossen in der Zeit der Diktatur alles verborgen geblieben worden war. So erklärt sich der unstillbare Welthunger und die Weltgewandtheit Enzensbergers, seine früh schon erworbene Sprezzatura.
Dass er seine Doktorarbeit zweimal schreiben musste, weil das einzige Exemplar der eingereichten Dissertation dem Doktorvater verloren gegangen war, quittierte er mit einem Schulterzucken: "Das war kein großer Verlust." Dann eben noch einmal.
Soviel ist allemal gewiss: Man kann gar nicht anders, als einer solch lässigen, aller Großtuerei abholden Lebenshaltung, die sich zeigt in diesem "Opus Incertum", diesem unregelmäßigen Mauerwerk aus lauter Erinnerungsfundstücken und –steinen seine allergrößte Bewunderung zu zollen.

Hans Magnus Enzensberger: "Eine Handvoll Anekdoten"
Suhrkamp, 2018
239 Seiten, 25 Euro

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