Hannah Arendt – Kritische Gesamtausgabe

„Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch wird?“

Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt
Hannah Arendt © picture alliance / dpa
Moderation: Stephanie Rohde · 02.12.2018
Wie stützen totalitäre Regime ihre Macht durch Terror und Propaganda? Das zeigte Hannah Arendt 1951 in einer wegweisenden Studie über Nationalsozialismus und Stalinismus. Jetzt beginnt die erste kritische Gesamtausgabe ihres Werks mit einer Arbeit über Marx.
Als deutsche Jüdin emigrierte Hannah Ahrendt 1933 nach Frankreich und später nach Amerika, wo sie auch nach dem Ende der NS-Diktatur bleiben sollte. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete die Philosophin intensiv an ihrer Studie über die Ursprünge des Totalitarismus, die 1951 unter dem Titel "The Origins of Totalitarianism" zunächst in den USA erschien. Es folgten weitere einflussreiche, zum Teil auch höchst umstrittene Werke, wie etwa "Eichmann in Jerusalem", über den Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann.
Zahllose Einzelausgaben von Arendts oft in mehreren Varianten vorliegenden Werken sind im Buchhandel erhältlich und stoßen gerade heute wieder auf großes Interesse, viele kleinere Schriften allerdings sind nur schwer auffindbar.

Eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts

Ein deutsch-amerikanisches Editoren-Team unter der Leitung der Germanistin Barbara Hahn hat nun den ersten Teil einer kritischen Arendt-Gesamtausgabe vorgelegt. Aber weshalb werden die gesammelten Schriften einer der bedeutendsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts erst jetzt veröffentlicht? Hat Hannah Arendt womöglich als Frau und als Exilantin bisher nicht die gebührende Anerkennung erfahren?
Barbara Hahn, die an der Vanderbilt University in Nashville/Tennessee lehrt, gibt zu bedenken, dass die Werke, die Arendt auf Deutsch und Englisch zum Teil in vielen verschiedenen Fassungen geschrieben hat, eine Publikation erschweren. Als erstes Buch der auf 17 Bände angelegten Reihe kommt nun eine unvollendete Studie Hannah Arendts über Karl Marx heraus. Der Band erscheint im Göttinger Wallstein Verlag, im Herbst 2019 folgt eine digitale Edition auf einem Internet-Portal der Freien Universität Berlin.
Barbara Hahn: "Wir leben in einem Zeitalter, wo wir das Glück haben, mit beiden Medien umgehen zu können. Die Ausgabe ist so geplant, dass man beide Medien stark macht."

Typoskripte mit Klebezetteln, Pfeilen und Randnotizen

Im Netz sollen Leserinnen und Leser die Entstehung der Texte nachvollziehen können. Zusätzlich zum gedruckten Buch werden dort Faksimiles der Typoskripte zu sehen sein. Sie bieten einen abenteuerlichen Anblick, denn Hannah Arendt hat ihre Texte immer wieder überarbeitet und dabei auf dem Papier Schicht um Schicht übereinander geklebt, handschriftlich hinein notiert, Passagen mit Pfeilen kreuz und quer verbunden und die ganze Klebearbeit manchmal ein weiteres Mal in die Maschine gespannt, um auf dem Rand weiter zu schreiben.
Eine Arbeitsweise, die durchaus kennzeichnend für ihr Denken ist: "Die Geste, immer noch mal zu beginnen", mache Hannah Arends Schreiben aus, sagt Barbara Hahn, ebenso wie ihre Gewohnheit, sich zwischen verschiedenen Sprachen zu bewegen. Arendt habe es so gesehen: "Wenn man sich nur in einer Sprache bewegt, wird man die Wahrheit nicht finden können."
In ihrem Fragment gebliebenen Buch über Karl Marx kreise Arendt um die Frage nach der philosophischen Tradition, auf die politisches Denken im Abendland noch Bezug nehmen könne, so Hahn: "Haben wir diese Tradition noch, kann man sich darauf noch beziehen? Oder ist sie durch den Totalitarismus so zerstört, dass davon gar nichts übrig geblieben ist?"

Rettet Marx vor den Marxisten

Marx selbst stand aus Hannah Arendts Sicht "viel näher an der Tradition des abendländischen Denkens als alles, was im 20. Jahrhundert in seinem Namen gedacht wurde", sagt Hahn. Mit Aristoteles und Platon hatte Marx für Arendt mehr gemeinsam als mit Stalin. In ihrem persönlichen "Denktagebuch" notierte Arendt: "Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch wird?" In Bezug auf Marx sei diese Frage für sie noch offen gewesen, sagt Barbara Hahn. In Bezug auf den Marxismus nicht mehr.
Aber war die profilierte politische Denkerin eine Linke? So wie Hannah Arendt Texte immer wieder neu geschrieben und eigene Urteile hinterfragt hat, so wurde sie von verschiedenen Seiten auch sehr unterschiedlich gelesen und verstanden. Vertreter rechter, antikommunistischer Positionen haben sich auf ihre Kritik am Totalitarismus berufen. Andere sehen in ihr eine linke Theoretikerin. Ist ihr Werk so offen, ja, am Ende beliebig angelegt, dass es geradezu konträre Auslegungen zulässt?
Stefania Maffeis
Die Philosophin Stefania Maffeis deutet Hannah Arendt als Denkerin für Krisenzeiten.© Deutschlandradio/ Sandra Ketterer
Hannah Arendt habe großen Wert darauf gelegt, sich nicht zuordnen zu lassen oder zu müssen, sagt die Philosophin Stefania Maffeis von der FU Berlin. Ihren Außenseiter-Status als deutsch-amerikanisch-jüdische Denkerin habe Arendt bewusst gepflegt, meint Maffeis:
"Außerhalb bestimmter Räume zu sein, erlaubt eine Sicht, die diejenigen, die drin sind, nicht haben. Die bewussten Außenseiter oder ‚Parias‘, wie Arendt sie genannt hat, sind in der Lage, die Wahrheit viel klarer auszusprechen, als diejenigen, die in bestimmte Machtverhältnisse eingebunden sind."
Stefania Maffeis untersucht in ihrer Habilitationsschrift, was die "transnationale Philosophie" Hannah Arendts wesentlich ausmacht. Ihre persönliche Situation als Exilantin, die zeitgeschichtliche Erfahrung mit Nationalismus und Totalitarismus und ihre Faszination für Vielsprachigkeit und kulturellen Dialog seien in ihrem Denken eine besondere Verbindung eingegangen. Maffeis plädiert dafür, diese Vielschichtigkeit der Autorin stärker wahrzunehmen. Bisher werde Hannah Arendt allzu oft "aus einer Boulevard-Perspektive" wahrgenommen: als Jüdin, als Frau, als mondäne Intellektuelle, als zeitweilige Gefährtin des Philosophen Martin Heidegger. Ihr Denken als Philosophin gerate dabei meist aus dem Blick.

Eine Philosophie der Brüche und Zäsuren

Und weshalb hat Hannah Arendt uns gerade heute wieder viel zu sagen? Woher rührt das große Interesse an ihr und ihren Schriften in den letzten Jahren? "Weil Arendts Werk so vielfältig ist und selbst aus einem Bruch, aus einer tiefen Zäsur entstanden ist, eignet es sich besonders gut in Momenten wieder gelesen zu werden, wo solche Krisen empfunden werden", sagt Stefania Maffeis. So seien Arendts Schriften in Deutschland nach 1989 schon einmal wiederentdeckt worden. Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends, als die Auswirkungen der Globalisierung deutlicher spürbar wurden und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seien ihre Schriften wieder ins Gespräch gekommen. "Immer wenn es Momente der Unsicherheit, der Krisen und Brüche gibt, dann ist Arendt ganz gut dafür geeignet, solche Momente zu reflektieren", sagt Maffeis. Auch Barbara Hahn hat diese Beobachtung in jüngster Zeit gemacht:
"Es ist kein Zufall, dass in den USA nach der Wahl von Donald Trump die 'Origins of Totalitarianism' plötzlich ein Bestseller waren. Viele Leute haben den Verdacht gehabt: Wir müssen nochmal anfangen zu denken, wie das überhaupt kommt, dass Demokratien in totalitäre Systeme kippen. Und dafür braucht man Hannah Arendt. Das hat niemand so präzise durchdacht wie sie."

Hannah Arendt: The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buchs
Kritische Gesamtausgabe, Band 6, hg. von Barbara Hahn, u.a.
Wallstein Verlag, 924 Seiten, 49 Euro.

Stefania Maffeis: Transnationale Philosophie. Hannah Arendt und die Zirkulation des Politischen
Campus Verlag, 542 Seiten, 39,95 Euro
erscheint am 6. Dezember 2018

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