Kampf gegen Landminen

Der verscharrte Tod

06:34 Minuten
Eine Person sucht mit einem Metalldetektor nach Landminen in Kambodscha.
Auch Jahrzehnte nach Ende der Kampfhandlungen werden Landstriche in Kambodscha immer noch von Landminen befreit. © picture alliance / dpa / Omar Havana / Wostok Press
Von Philip Artelt · 24.10.2022
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Weltweit werden heute immer noch in Kriegsgebieten Landminen vergraben. Menschen verlieren dadurch Gliedmaßen und ihr Leben. Die Organisation Handicap International engagiert sich seit 40 Jahren gegen diese perfide Explosionswaffe.
Der Place Bellecourt im Zentrum von Lyon. Informationsstände, eine Musikgruppe zieht durch die Gegend, in der Mitte eine doppelt mannshohe Pyramide aus Tausenden Schuhen. Eine ältere Frau nimmt ein paar Schuhe aus einer Tasche und wirft sie auf die Pyramide.
„Ich komme jedes Jahr hier her. Weil ich die Arbeit von Handicap International für sehr wichtig halte, und es ist wichtig, sie heute hier zu unterstützen.“
Gestapelte Schuhe auf einem Haufen in Lyon.
Mit einer "Schuhpyramide" in Lyon erinnert die Hilfsorganisation Handicap International jährlich an die Opfer von Landminen.© Deutschlandfunk / Philip Artelt
Handicap International. Die Hilfsorganisation veranstaltet die Schuhpyramide jährlich in Lyon, um an all die Menschen mit Behinderungen zu erinnern, die weltweit auf Hilfe hoffen.
Aber gehen wir zurück ins Jahr 1979, als ein junger Arzt aus Lyon voller Tatendrang an die kambodschanische Grenze reiste. In Radiobeiträgen Ende der 90er-Jahre heißt es dazu:
„… haben die internationalen Hilfsorganisationen ihre Anstrengungen zur Versorgung der einem Massensterben ausgesetzten Zivilbevölkerung in Kambodscha verdoppelt. … Sie haben dem kommunistischen Regime der Roten Khmer in ihrer Heimat den Rücken gekehrt und wollen um keinen Preis nach Kambodscha zurück.“

"Das gesammelte menschliche Leid"

Dort also landete der damals junge Arzt Jean-Baptiste Richardier. Ein Mann mit markantem Schnauzbart, der bis heute sein Markenzeichen ist. Im Flüchtlingslager Khao-i-Dang, wo zeitweise 160.000 Menschen lebten.
„Am Ende jeder Nachtschicht als Geburtshelfer sah ich die Choreographie der Krankenwagen, die unter dem Heulen der Motoren das gesammelte menschliche Leid abluden: Jene, die einen Unfall mit einer Landmine überlebt hatten und die Verletzten der Kämpfe des Vorabends.“
In Richardiers Stimme lebt das Grauen wieder auf, das der sinnlose Bürgerkrieg und das Terrorregime der Roten Khmer nach Kambodscha gebracht hat.
„Damals hat man gesagt: Diesen Menschen orthopädische Hilfsmittel zukommen zu lassen, ist sinnlos, weil die Qualität der Behandlung nicht sichergestellt werden kann.“
Jean-Baptiste Richardier. Ein älterer Herr mit Brille und Bart bewegt einen Rollstuhl aus Holz.
Jean-Baptiste Richardier wurde von einem Geburtsarzt zu einem Prothesenmacher.© Philip Artelt
Aber einige wollten sich damit nicht zufriedengeben. Schließlich überzeugte ein Kriegsfotograf der Hilfsorganisation SOS Enfants sans Frontières Richardier und ein paar seiner Kollegen, ein Zentrum zur Herstellung von Prothesen zu eröffnen. Ausgebildet wurden sie von zwei Geistlichen, die in Afrika Prothesen für Leprakranke bauten.
„Wenn ich einen Verdienst habe, dann, dass ich die Herausforderung angenommen habe, von einem bekannten Geburtsarzt zu einem Prothesenmacher zu werden, mit nur neun Tagen Ausbildung, in denen ich eine Oberschenkelprothese hergestellt habe und eine halbe Unterschenkelprothese.“

Holz, Büffelleder, Eisenstangen

Die Materialien: einfachstes Zeug. Richardier nimmt ein Foto von damals in die Hand, darauf eine Beinprothese: Holz, Büffelleder, Eisenstangen.
„... und die Füße aus Autoreifen aus dritter Hand. Gar kein Profil mehr. Aber so ein Reifen, keiner der Amputierten hat es geschafft, den abzunutzen. Eine fabelhafte technische Lösung!“
Die Amputierten selbst waren es, die in den Werkstätten angelernt wurden, damit sie auch nach der Abreise der europäischen Helfer weitermachten. SOS Enfants sans Frontières wurde das Projekt bald zu teuer. Und so gründeten 1982, vor genau 40 Jahren, Richardier, seine zwei Kollegen und ihre Frauen eine neue Organisation: Handicap International. Den Bürodienst in Lyon übernahm Richardiers Vater.

Das "Teufelszeug" Landmine musste weg

Angola, Rumänien nach dem Ende der Ceaușescu-Diktatur … In mehr als 20 Ländern kümmerten sich die Helfer nun um notleidende Menschen – vor allem aber um die Opfer von Landminen in aller Welt.
„Nach zehn Jahren haben wir überlegt: Was bringt es, immer nur Menschen zu ´reparieren`, wenn die Maschinerie weiterhin Opfer erzeugt? Wo liegt der Fehler?“
Mit fünf anderen Hilfsorganisationen gründeten Richardier und seine Kollegen die internationale Kampagne gegen Landminen.
„… dass dieses Teufelszeug der Personenminen möglichst bald verschwindet …“, sagte dazu 1997 auch der damalige FDP-Außenmister Klaus Kinkel.
Im selben Jahr wird die Kampagne mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Ein beispielloser Erfolg: Der öffentliche Druck ist so groß, dass im Dezember 1997 121 Staaten ein Landminenverbot unterschrieben.
Ein abgesperrtes Gelände in Mosambik, wo Landminen vergruben wurden.
Ein abgesperrtes Gelände in Mosambik, wo Landminen vergruben wurden. © Deutschlandfunk Kultur / Philip Artelt
Heute ist Handicap auf allen Kontinenten tätig, bildet Minenräumer aus, kämpft gegen sexualisierte Gewalt in Ruanda und verteilt Essen nach den Überschwemmungen in Pakistan. In Frankreich veranstalten sie einen Wettbewerb, wie Eltern ihren Kindern mit Behinderung mit einfachsten Erfindungen das Leben erleichtern können.
Und selbst in Nordkorea waren sie – unter dem Pseudonym „EUPS Unit 7“, weil die nordkoreanische Regierung keinerlei sichtbare Verbindung zum Westen akzeptieren wollte. Spielt Handicap nach den Regeln der Diktatoren?
„Das ist eines der großen Dilemmata: Es gibt eine Konkurrenz zwischen den Menschenrechten, den Regierungen, auf die wir Rücksicht nehmen müssen und die diese Rechte nicht respektieren, und dem Recht auf Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Wir haben also entschieden, in den Camps der Flüchtlinge der Roten Khmer zu arbeiten und auch in Nordkorea. Wir arbeiten auch jetzt noch in Afghanistan, aber wir haben den Taliban gesagt: Sobald wir keinen Zugang mehr zu den Frauen bekommen, werden wir das Land verlassen.“

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Handicap, das ist heute große Politik. Handicap, das ist aber auch 40 Jahre Hilfe für jeden Einzelnen. Jean-Baptiste Richardier:
„Wir haben gesehen, wie durch eine ganz simple Prothese ein Mensch, der von seiner Familie verleugnet wurde, zu jemandem wurde, der arbeiten konnte, der wieder eine Zukunft sieht. Und diese Person, die diese Verwandlung durchgemacht hat vom Opfer zum selbstständigen Menschen, wird künftig immer einen Weg finden.“
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