Handbuch der Lebenspraxis und große Literatur

28.08.2012
Ein Blogger aus dem 16 Jahrhundert? Die amerikanische Autorin Sarah Bakewell holt in "Wie soll ich leben?" das Leben und Denken Montaignes mit leichter Hand in die Gegenwart. Michel de Montaigne, geboren 1533, war Philosoph, Politiker und Begründer der Essayistik. Und Montaigne war Weingutbesitzer, Liebhaber, Bürgermeister und Reisender.
Das große Projekt: sich selbst befragen und betrachten, das Schwanken der Gedanken, den Zustrom der Erfahrungen und der Lektüren. Nicht das Sein darstellen, sondern das Unterwegs-Sein, von Stunde zu Stunde. Einen Menschen schildern, in allen seinen Widersprüchen. So wuchsen Montaignes "Essais" wie ein Korallenriff, so begründete der Schriftsteller und Philosoph (1533-1592) eine Tradition der literarischen Selbstbeobachtung. Denn die "Essais" sind beides: ein Handbuch des Lebenspraxis und große Literatur.

Wahrheit ist für Montaigne nichts Statisches. Er findet sie gerade in der Bewegung des Geistes. Seine Gedanken folgen keinem thematischen Fahrplan, sondern nutzen jede Gelegenheit zu Abschweifungen und erkenntnisträchtigen Umwegen. Und auch Sarah Bakewells Montaigne-Biographie "Wie soll ich leben?" hangelt sich nicht starr chronologisch von der Geburt bis zum Grab. Die Lebensgeschichte wird verdichtet anhand von biographischen Knotenpunkten und literarischen Zentralthemen (Freundschaft, Ehe, Lebensgenuss, Tod, das Amt etc.), jeweils mit philosophisch gestimmten "Antworten" assoziiert. Das können eher klassische Maximen sein ("Lebe den Augenblick!"), aber auch listige Leitlinien der Lebenskunst ( "Mache deinen Job gut, aber nicht zu gut!").

Zwar war Montaigne ein Autor, der unermüdlich seine eigenen konkreten Erfahrungen verarbeitete (bis hin zu den Nierenkoliken); zugleich bewegt sich das Schiff seiner "Essais" aber auf einem breiten ideengeschichtlichen Strom, allem voran die antiken Schulen der Skepsis, des Epikuräertums und des Stoizismus. Mit erstaunlich leichter Hand schildert Bakewell diese philosophischen Hintergründe, und zugleich erzählt sie von der mächtigen Nachwirkung der "Essais" im Lauf der Jahrhunderte: ein geliebtes, gehasstes, sehr lange von der römischen Kirche verbotenes und deshalb umso faszinierendes Buch.

Bei Montaigne, der äußerlich an der katholischen Ordnung der Dinge festhielt, wird die menschliche Existenz erstmals im modernen Sinn zum Problem - aber sein gelassenes Temperament und seine Ironie verhindern die Zuspitzung ins Tragische. Bakewell verdeutlicht, inmitten welcher geschichtlichen Stürme er arbeitete und schrieb. Während seiner Zeit als Bürgermeister von Bordeaux raffte die Pest ein Drittel der Einwohner dahin; der schier endlose Krieg der christlichen Konfessionen führte zu zahlreichen Exzessen und Pogromen, darunter die Bartholomäusnacht, bei der allein in Paris 10.000 Protestanten massakriert wurden. Dem Ton von Montaignes Prosa sind diese Verstörungen nicht abzulesen; die Erschütterung aller geistigen Fundamente dagegen schon. In den verbissenen religiösen Zwistigkeiten nimmt er eine grundsympathische Position ein: Toleranz nach allen Seiten; dabei mehr Neugier auf das Diesseits als Sehnsucht nach dem Jenseits.

Im Drang, Montaigne zu aktualisieren (was der gar nicht nötig hat), schießt Bakewell ein paar Mal übers Ziel hinaus. Dass Montaigne heute ein Blogger wäre und sich ein Tattoo stechen lassen würde - geschenkt. Dieses Buch stellt Leben, Werk, Wirkung Montaignes auf fesselnde, angenehm unakademische Weise dar.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Sarah Bakewell: Wie soll ich leben? Oder: Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten
Aus dem Englischen von Rita Seuß
C.H. Beck, 2012
416 Seiten, 24,95 Euro