Hamlet - von Perceval

Gesehen von Elske Brault · 18.09.2010
Nein, "Hamlet" werden Sie heute Abend nicht sehen. Sie werden Luk Percevals Hamlet sehen, eine Fassung, die der Regisseur extra bei Feridun Zaimoglu (Text) und Günter Senkel (Übersetzung und Recherche) in Auftrag gegeben hat, um jenen Hamlet auf die Bühne zu bringen, der ihm laut Programmheft seit Jahrzehnten im Kopf herumspukt.
Alle anderen Hamlets, die er bisher gesehen hat, fand Luk Perceval irgendwie falsch, was daran liegen könnte, dass sie von Shakespeare gewesen sind, egal wie eingekürzt oder durch eine Neuübersetzung modernisiert.

Die extrem verknappte Textfassung von Zaimoglu hat Perceval noch mal zusammengestrichen, und so beginnt das Drama hier nicht mit der nächtlichen Geistererscheinung von Hamlets totem Vater vor den Wachtoren von Helsingör, sondern mit dem Status quo bei Hofe: König Claudius und Königin Gertrude tänzeln herein mit genau abgezirkelten, übertrieben ausgeführten Ballettschritten, er im dunklen Mantel, sie in einem paillettenglitzernden Zirkuskostüm, das viel Bein und Busen freigibt. Schon klar, was er an ihr findet. Hinter ihnen hängen die Kostüme dicht an dicht bis unter die Decke und zeigen, dass die beiden sich jederzeit ein neues modisches Outfit greifen können, um ihren Fuß auf ellenhohe Socken zu setzen. Doch sie bleiben, was sie sind: eine Patchworkfamilie. Denn die dralle Gertrude hat ihrem Sohn mit Onkel Claudius einen Stiefpapa vorgesetzt, und den soll Hamlet jetzt ganz lieb haben. Hier ist Hof, hier ist heile Welt, Hamlet soll mitmachen bei dem manierierten Getue. Der aber sitzt mit seiner Pappkrone auf dem Kopf schmollend in der Ecke.

Zanken herein Laertes und seine Schwester Ophelia: Er ist durch halbmeterhohe Absätze über sie gestelzt, der große Bruder eben. Sie hat kaum Brust unter dem Kattunkleidchen, aber dennoch streiten die beiden über Hamlet. Und auch Vater Polonius – großartig: Barbara Nüsse im Rollstuhl – warnt vor dem Werben des Prinzen, Ophelia ist doch noch Jungfrau. Auch diese Familie ist beschädigt, es fehlt die Mutter. Der lahme Polonius ist der Höfling Nr. 1, die übrigen sind hier Kinder: König Claudius herrscht über Schwache und Behinderte.

Mit solchen Bildern à la Robert Wilson sorgt Luk Perceval für einen spannenden Beginn. Doch der Text kommt nicht mit. Verknappen hat Zaimoglu gesollt, eine Märchensprache hat er gewollt: So bedient er sich altdeutscher Ausdrücke, von "Mistlachen" oder vom "Teufel im Zuber" ist die Rede. Dieser dicke Sprachsaft muss durch einen engen Kanal, mit verwirrenden Folgen: Wenn Hamlet von Ophelias Keuschheit spricht, kommt das als Warnung vor vorehelichem Sex über die Rampe. Ganz klar, der böse Drache will der Jungfrau an die Muschi. Wer zuvor nicht seinen Shakespeare gelesen hat, wird nie begreifen, dass Hamlet nicht etwa Ophelias Körper, sondern ihre Seele bewahren will: Vor den Mordmachenschaften in seiner Familie. Deswegen wendet er sich von ihr ab. Und warum Ophelia das etwas ausmacht, obwohl sie doch nie mit Hamlet rumgemacht hat, bleibt das Rätsel von Zaimoglus Texthandbuch für wortkarge Machertypen. Wie so viele Bedeutungsebenen des Originaldramas geht auch diese mit der von Perceval angeordneten Reduktion flöten.

Dabei dringen keine Flötentöne aus dem Orchestergraben: Musiker Jens Thomas bearbeitet Klaviertasten und Gitarrensaiten gleichzeitig wie irre, flüstert, brüllt und seufzt dazu und beschwört so all den Wahnsinn, in den Hamlet sich immer mehr hineinsteigert.

Denn mittlerweile ist der Geist von Hamlets Vater in den Sohn eingefahren, und der, durch die drückende Familiensituation bereits schizophren geworden, spricht nun auch noch die Stimme aus dem Jenseits. Der beleibte Jens Ostendorf oben und der spiddelige Jörg Pohl unten in seinem Schoß spielen gemeinsam den Doppel-Hamlet: Kopf und Bauch oder Dick und Doof liegen naturgemäß miteinander in ewigem Streit. Dabei müssen sie auch noch den Textpart von Hamlets einzigem Freund Horatio übernehmen, damit das arme, zwiegespaltene, unverstandene Hamletchen wirklich ganz alleine ist.

Soweit ein großartiges Tableau. Bloß bewegt sich dann die restlichen anderthalb Stunden fast nichts mehr. Wenn die Figuren in einer neuen Wilson-Pose einfrieren, merkt man auf, im Übrigen spult der Text gehorsam kurz durch einen eindimensionalen Dämmerzustand. Claudius will Hamlet durch Rosenkrantz und Güldenstern aushorchen lassen. Die beiden fallen hier in eins, ein zitternder, schleimiger Kriecher, ein schizophrenes Bibberbübchen. Auch die zwei Totengräber sind nur einer, der über sich selbst triumphiert, dass er mit dem Grab das solideste Haus auf Erden baue. Shakespeares Gedanken über die Vergänglichkeit der Welt – geschenkt. Hamlets Grausamkeit, als er mit einem Federstrich seine früheren Freunde Rosenkrantz und Güldenstern opfert – ebenfalls geschenkt, der Schizo-Typ war ja eh nur eine buckelnde Witzfigur. Luk Perceval macht aus den vielen Geschichten ein handliches Comic in 3-D, und da ist eh alles egal, sofern die zwei Hamlets nur bis zum Schluss durchhadern.

Das Publikum klatschte am Ende wie besoffen, und die mäkelnde Kritikerin fühlte sich wie die einzig Nüchterne auf einer Party. Da muss man bekanntlich den Fahrdienst übernehmen: Bereits vor der Premiere ist Percevals Hamlet eingeladen nach Amsterdam und Peking, und ein Zettel bittet die Pressemenschen darauf hinzuweisen, dass die Produktion deswegen ab Anfang November lange nicht mehr in Hamburg zu sehen sein wird. Also marsch, marsch, nichts wie rein ins Hamlet-Comic. Ein Tor, wer etwas dabei denkt.


"Hamlet": in einer Fassung von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Regie: Luk Perceval
Premiere 18.09.10, Thalia-Theater Hamburg