Hamburgs ungekrönte Kaufmannskönige

Vorgestellt von Elke Nicolini |
John F. Jungclaussen fasst die ungewöhnliche Geschichte der Hansestadt in seinem äußerst lesenswerten Buch "Risse in weißen Fassaden" zusammen und analysiert das Selbstverständnis ihrer führenden Schicht. Es geht um mehr als eine Stadtchronik. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die zum Teil unermesslichen Reichtum erwarben und die Geschicke der Stadt lange Jahre bestimmten.
Sie waren schon eine besondere Spezies, die Hamburger Familien, die den Kaufmannsadel der Stadt bildeten: Voller Stolz, man könnte auch sagen, Dünkel, zu dem sich Gemeinsinn gesellte, weltoffen aus pekuniären Interessen, ausgestattet mit dem Gefühl, was ihnen gut tue, nütze auch der Stadt. Fast alle Bürgermeister kamen aus ihren Reihen. Ihre Wirtschaftspolitik nutzte vor allem der eigenen Schicht.

Als einer von ihnen, Bürgermeister Burchard, Kaiser Wilhelm II, vor seinem Hause nach einem Mittagessen verabschiedete, beobachteten das seine Töchter vom Fenster aus. Die Älteste bemerkte:

"Wisst ihr, verglichen mit Papa sieht der Kaiser doch furchtbar ordinär aus."

Diese Anekdote veranschaulicht das ungeheure Selbstbewusstsein der führenden Familien. Als das junge Mädchen sich über den Kaiser mokierte, war der Stern Hamburgs und seiner Kaufmannsschicht bereits am Sinken. Preußen ließ die einst freie Stadt nicht mehr nur nach eigenem Belieben schalten und walten. Der Zentralismus setzte sich in der Weimarer Republik fort und fand die straffste Hand während des Nationalsozialismus. Da half auch das beeindruckende Konsensmodell nicht weiter, das Rat und Bürgerschaft der Stadt zur Reformationszeit etabliert hatten. Auch wenn es rund 400 Jahre wirksam geblieben war.

Klug und umsichtig hatte man verstanden, diese Kontinuität zu sichern:

"Wer wen zur Hochzeit bat, wurde bald entscheidend für die politische und wirtschaftliche Rolle, die ein Mann und seine Familie in Hamburg spielten. Diese soziale Komponente blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein die stärkste Verbindung unter Hamburgs ungekrönten Kaufmannskönigen. Damit stabilisierten sie das System der politischen Vorherrschaft nicht nur, sie machten es auch immun gegen Veränderungen."

John F. Jungclaussen fasst die ungewöhnliche Geschichte der Hansestadt in seinem Buch zusammen und analysiert das Selbstverständnis ihrer führenden Schicht. Es geht um mehr als eine Stadtchronik. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die zum Teil unermesslichen Reichtum erwarben und die Geschicke der Stadt lange Jahre bestimmten. Neben der Familie Amsinck sind es die Burchards, Münchmeyers und Vorwerks, über die der Autor so aufschlussreich wie unterhaltend berichtet. Dabei stützte er sich auf Dokumente aus dem Hamburger Staatsarchiv und aus Privatarchiven der Kaufmannsfamilien, deren Nachfahren ihm bereitwillig Einblick gewährten.

Natürlich kommen einem bei der Lektüre die Lübecker "Buddenbrooks" in den Sinn, denen Thomas Mann in seinem gleichnamigen Epochenroman ein Denkmal setzte. Auch sie konnten, wie die Hamburger Familien, ihre herausragende Position nicht halten, büßten Macht und Status ein.

Doch Jungclaussen widmet sich auch ausführlich den Zuständen außerhalb der Villen in den Elbvororten. So nahm etwa niemand im Rathaus Anstoß daran, dass die Armen in erbärmlichen Wohnverhältnissen lebten und ungefiltertes Elbwasser tranken. Erst nach einer Cholera-Epidemie 1892 und im Zuge der Zeitstimmung, die nach sozialer Veränderung und Fortschritt verlangte, ging man, wenngleich recht halbherzig, die Probleme an.

Die maßgeblichen Familien aber lebten in paradiesischen Zuständen. Die von den Kaufleuten etablierte patriarchalische Selbstverwaltung funktionierte und ließ die Handelshäuser im 19. Jahrhundert so viel Geld wie nie verdienen. Noch im Ersten Weltkrieg und der revolutionären Zeit danach schützte ein Kokon die Kaufmannsoberschicht vor der rauen Wirklichkeit. Die gepflegten Villen, umgeben von dichten Hecken hielten Leid und Elend der übrigen Bevölkerung von ihr fern. Und doch hatte man auch in diesem Kreis zu leiden.

"Keine Stadt in Deutschland wurde so schwer getroffen. Die bedingungslose Hingabe zum Handel und die engen Verflechtungen mit dem internationalen Handels- und Zahlungssystem legten Hamburg buchstäblich über Nacht still. ...
Nicht alle konnten sich so erfolgreich durch den Krieg winden wie Münchmeyers und Vorwerks. Es gab eine Reihe von Familien, in denen die Armut ausbrach, denn sie hatten alles verloren. Niemand sprach darüber, wie schlecht es ihnen wirklich ging. Die Fassade blieb so glatt wie möglich, aber bald waren die Risse nicht mehr zu verbergen."

Nach den Höhen und Tiefen der Jahrhunderte erlebte Hamburg – wie alle deutschen Städte – eine tiefschwarze Zeit, als der Nationalsozialismus die Stadt im Griff hatte. Einen willigen Diener fand das NS-System in dem Reeder Carl Vincent Krogmann, der von 1933 bis 1945 Bürgermeister war. Zwar waltete über ihm der Gauleiter Karl Kaufmann, ein intimer Freund vom Propagandaminister Joseph Goebbels. Doch Krogmann selbst hat durch seine leidenschaftliche Zuwendung zum Nationalsozialismus voll und ganz den Interessen des Systems gedient.

In den anderen bedeutenden Familien gab es freilich nur vereinzelte Nazis. Eher war man um vornehmen Rückzug bemüht. Das alles war doch zu vulgär, ein Massenphänomen, zu dem der Kaufmannsadel keinen Zugang hatte. Und so behauptete auch der erste Nachkriegsbürgermeister der Stadt, Rudolf Petersen, dass in Hamburg die Verfolgung der Juden "menschlicher" verlaufen sei. Fakt ist, dass man in den ersten Jahren der Naziherrschaft eine weniger rabiate Politik gegen Juden betrieb als im übrigen Lande.

Aber auch das hatte einzig wirtschaftliche Gründe. So konnte der international arbeitende Bankier Warburg länger als die allermeisten Juden im Reich seine Ämter behalten und sein Geschäft betreiben, bis auch er emigrieren musste. Denn einige Jahre später ging man in Hamburg gegen Juden genauso vor, wie das Regime es plante. Man setzte sogar noch eins drauf, als man sich daran machte, den Österreichern bei der Arisierung ihrer jüdischen Geschäfte zu helfen. Die wichtigen Kaufleute waren vom Gauleiter angesprochen, so viel wie möglich für Hamburg herauszuholen.

Hamburg hat also keinen Grund, und das haben neuere Forschungen bewiesen, zu der Annahme, es habe sich in der Nazizeit den Minderheiten und Ausgegrenzten gegenüber humaner verhalten als die Menschen anderswo.

Die alten Hamburger Kaufmannsfamilien aber hatten ihre Macht und ihren Einfluss zu dieser Zeit schon lange eingebüßt. Der Autor, der sie kritisch beäugt und ihren Verfall anschaulich schildert, schließt sein äußerst lesenswertes Buch mit einer Reverenz an den hanseatischen Bürgeradel:

"Die alten Namen sind zwar in der Bedeutungslosigkeit versunken, aber sie alle haben der Stadt eine Identität gegeben, bis heute."


John F. Jungclaussen: Risse in weißen Fassaden – Der Verfall des hanseatischen Bürgeradels
Siedler Verlag, München 2006