Haiti

Parlamentswahl nach jahrelanger Verzögerung

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Eine Wand mit Wahlplakaten der politischen Kandidaten in Port-au-Prince. © HECTOR RETAMAL / AFP
Von Peter B. Schumann · 08.08.2015
Die Demokratie in Haiti war noch nie besonders ausgeprägt. Doch was sich in der letzten Zeit abspielte, war ein Trauerspiel, jahrelang fielen die Wahlen aus. Unter dem Druck der internationalen Geldgeber findet nun die erste Runde der Parlamentswahlen statt. Peter B. Schumann sprach mit dem haitianischen Soziologen und Filmdokumentaristen Arnold Antonin.
Die Trümmer des Erdbebens, das dieses ärmste Land Amerikas 2010 heimsuchte, sind zwar aus der Hauptstadt Port-au-Prince weitgehend verschwunden. Auch ist das Nobelviertel Petition Ville wieder bestens hergerichtet. Aber beim Wohnungsbau für die obdachlose Bevölkerung hat es bisher kaum Fortschritte gegeben. Der Schock der Naturkatastrophe scheint das Bewusstsein der politischen Elite nicht verändert zu haben. Die seit Jahren überfälligen Wahlen sind dafür ein Beispiel - wie Arnold Antonin ausführt.
"Im letzten Jahr gab es soziale Aufstände, einen Generalstreik und sogar gewalttätige Demonstrationen gegen die miserablen Verhältnisse und die Untätigkeit der Regierung. Der Präsident konnte sich nur dadurch an der Macht halten, dass er den Ministerpräsidenten in die Wüste schickte. Er selbst hat jahrelang die Wahlen hinausgezögert, weil er hoffte, das Parlament auf diese Weise lahm legen und per Dekret regieren zu können. Nun gibt es endlich Wahlen, denn sie sind die einzige Möglichkeit, halbwegs friedlich aus der aktuellen Krise herauszukommen."
Höchste Analphabetenrate der westlichen Welt
Ein halbes Dutzend Wahlgänge werden bis Ende des Jahres stattfinden, um Abgeordnete und Senatoren, Gemeindevertreter und schließlich auch den Präsidenten neu zu wählen. Das Wahlgesetz nach US-amerikanischem Vorbild ist unnötig kompliziert in diesem Land mit der höchsten Analphabetenrate der westlichen Welt. Auch ist keine Parteienlandschaft Lateinamerikas so zersplittert wie die Haitis. Und das hat einen ganz materiellen Grund.
Antonin: "Bei den kommenden Parlamentswahlen bewerben sich fast 2.000 Kandidaten für die Abgeordnetenkammer und mehr als 200 Kandidaten für den Senat. 105 Parteien wurden vom Wahlrat zugelassen. Das ist lächerlich, mit zwei Dutzend Leuten kann man hier jedoch bereits eine Partei gründen ... Viele lassen sich nur deshalb aufstellen, weil es dafür Geld gibt - vom Staat. Wie so vieles sind selbst die Wahlen vor allem ein Geschäft in Haiti."
Forderung nach neuem Wahlgesetz
2.000 Kandidaten für 99 Abgeordnetenmandate und 200 weitere für 30 Senatorensitze - absurder kann das Verhältnis kaum sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen verlangen deshalb seit Langem ein neues Wahlgesetz. Aber das politische Establishment blockiert es, weil ein ganzer Filz von Interessierten davon profitiert - meint Arnold Antonin.
"In Haiti haben immer wieder Teile der Oligarchie oder neue Gruppen mafia- ähnliche Clans gebildet. Sie sind nur an der Macht, am Prestige und am Geld interessiert, denn in der Politik kann man hier schneller reich werden als in der Wirtschaft ... Dabei spielt der Drogenhandel eine Rolle und nicht zu vergessen die Abhängigkeit von den Dominikanern, von unserem Nachbarland. Sie kaufen sich sogar Kandidaten der nächsten Wahlen. / Keiner von diesen Leuten interessiert sich für das Schicksal des Landes oder für einen ernsthaften Wiederaufbau oder gar für ein Programm der dringend nötigen, radikalen Umgestaltung unserer Wirklichkeit."
Die Demokratie war in Haiti noch nie besonders ausgeprägt. Früher wurde sie vom Militär bedroht. Nach dessen Abschaffung hat sie die politische Klasse als ihr Machtinstrument okkupiert.
"Die Klüngelwirtschaft, die Korruption und ganz allgemein die Straflosigkeit - das sind die Hauptursachen für unser politisches Chaos. Haiti ist ein Land, in dem man machen kann, was man will, und dabei straffrei bleibt. Als der Ex-Diktator Duvalier vor einigen Jahren zurückkam, hat nur eine kleine Gruppe unabhängiger Haitianer ein Gerichtsverfahren gegen ihn angestrengt. Darüber ist er gestorben, und seine Komplizen leben unbehelligt unter uns. Aber das Gericht hätte ihn auch bloß wegen Vergehen der Politik der Straflosigkeit verurteilen wollen."
Demokratische Verhältnisse sind Voraussetzung für Fortschritt
Arnold Antonin hat sich weder durch die zahlreichen Putsche in Haiti noch durch den desolaten Zustand des Parteiensystems entmutigen lassen. In Dokumentarfilmen wie "Das Reich der Straflosigkeit" hat er immer wieder die politische Klasse demaskiert. Denn für ihn sind demokratische Verhältnisse die wichtigste Voraussetzung für den Fortschritt in seinem Land.
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