Häutung schützt vor Verhärtung des Denkens
Die französische Psychoanalytikerin, Philosophin und Schriftstellerin Julia Kristeva erhält in Bremen den Hannah-Arendt-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung. Die gebürtige Bulgarin bekommt die Auszeichnung für Publikationen und politischen Interventionen, die laut Jury-Begründung "Grenzen der akademischen Disziplinen" überschreiten.
Mit Hannah Arendt teilt Julia Kristeva, die psychoanalystisch inspirierte Literaturwissenschaftlerin, ein im positiven Sinne "kritisches" Verhältnis zu großen Geistern, zu Philosophen wie Kant, Nietzsche oder Heidegger. Immer wieder hat die 1965 aus Bulgarien nach Paris ausgewanderte Weltbürgerin versucht, zentrale Ideen der Meisterdenker für die Politik fruchtbar zu machen.
Und "Politik", so erklärt Julia Kristeva in ihrer Bremer Dankesrede, Politik bedeutet, ein sogenanntes "breites" Publikum zu berühren. Menschen anzusprechen jenseits des sich stetig vergrößernden Kreises von "Spezialisten", die sich in immer genaueren und getreueren, aber eben auch hermetischen Interpretationen der Texte verlieren. Wie Hannah Arendt in eigener Person zum – so ein Zitat der deutsch-jüdischen Philosophin - "Treffpunkt und zur konkreten Objektivierung des Lebens" wurde, so geht es auch Julia Kristeva um den Ausbruch ihrer Disziplin aus dem Elfenbeinturm:
"Die Psychoanalyse ist keine Sekte, sondern hat etwas zu sagen in einer Gesellschaft, die – sozial gesehen – ein Ort der Verletzlichkeit ist. Dem läßt sich nicht mit Soziologie oder Juristerei beikommen. Aber Psychoanalyse, wenn sie denn auf ihre übermäßig komplizierte Terminologie verzichtet, kann da einiges erhellen, etwa bei den Gewaltausbrüchen in der Banlieue."
Als "Mädchen aus der Fremde", das am Weihnachtsabend 1965 mit nur fünf Dollar in der Tasche in Paris landete und rasch als Muse einer neuen Philosophenmode namens "Strukturalismus" auftrat, als weltgewandte Dame, die sich auf jedem Parkett zu bewegen versteht, hat Julia Kristeva nie den Blick für die Randbezirke menschlicher Existenz verloren. Zu diesem Außenblick gesellt sich bei der praktizierenden Psychoanalytikerin die Introspektion. Als Romanautorin lässt sie ihre Heldin im jüngsten Buch "Mord in Byzanz" eine "Reise durch mich selbst" und durch die europäische Kultur antreten, etwas melancholisch gestimmt, aber ganz ohne Furcht vor der Globalisierung:
"Frankreich ist nicht zu trennen von seinen Gedichten, seiner Literatur. Ich sehe mich als französische Bürgerin bulgarischer Herkunft und europäischer Nationalität, adoptiert durch die USA. Gerade deshalb bin ich wohl Professorin für französische Literatur geworden. Und wenn sich das französische Volk zu großen Teilen mit dieser Literatur identifiziert, frage ich: Aus welchen Komponenten setzt sich dieses Volk zusammen?"
Da meldet sich eine Marxistin zu Wort, der es allerdings weniger um die Produktionsverhältnisse oder gar einen kruden Materialismus geht, als um die Analyse sozialer Beziehungen, aus – oder gegen die sich eine immer noch überraschende Vielfalt individueller Subjektivität entwickelt. Manches erinnert an den Romanisten Ernst Robert Curtius, der vor dem Zweiten Weltkrieg konstatierte, daß kein anderes Land seine Geschichte und Gefühle derart durch Literatur ausdrücken könne wie Frankreich. Nicht umsonst reüssierte Julia Kristeva kürzlich auch mit Belletristik, ebenso wie Ehemann Philippe Sollers, Intellektueller und Romancier, mit dem sie in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die linke Zeitschrift "Tel Quel" herausgab. Mittlerweile besinnt man sich auch auf die eher traditionellen Stärken der "grande nation":
"Mein ‚Patriotismus’ entsteht aus der Distanz, ohne Übertreibung. Und da scheint mir, daß trotz Bildungskrise die Vorliebe für Literatur und gepflegte Sprache bleiben. Das nimmt mich ein für die Franzosen. Frankreich, das ist meine Schwiegermutter, die Mutter von Philippe Sollers, die redet wie einst Madame Sévigné. Daneben gibt es auch eine Krise, aber Frankreich hat sich stets erneuert – durch Krisen."
Wer derart nonchalant – aber fundiert und mit guten Gründen – die Sévigné als Schriftstellerin des 17. Jahrhunderts mit den aktuellen Krisenphänomenen verknüpft, darf sich der Geistesverwandtschaft mit Hannah Arendt sicher sein. Die nämlich hat ein "Denken in Bewegung" propagiert, das seine Wurzeln in der alltäglichen Erfahrung hat. Neben der literarischen Einbildungskraft zählt dabei politisches Urteilsvermögen – und die Fähigkeit, zu überraschen, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst:
"Augustinus – und nach ihm Kant und Heidegger – sagen: Es gibt nur eine Freiheit, das ist der Wiederbeginn. Nicht die Übertretung, sondern ein erneutes Beginnen. Diese Neu-Bildung, auch im biologischen Sinn, findet sich als Stoffwechsel im Leben wie auch in der intellektuellen Entwicklung. An bestimmten Punkten meiner Biographie erneuere ich mich – und die Psychoanalyse hält diese Erfahrung bereit."
Dieser offene Umgang mit sich selbst, diese Häutung schützt vor einer Verhärtung des Denkens, bietet den besten Schutz gegen die Masken des religiösen Extremismus, der nicht nur in den französischen Vorstädten zum Problem wird.
"Gerät ein Kind der Banlieue in Krisensituationen, helfen keine literarischen Vorbildern wie etwa Racine. Diese Angst vor einer Welt ohne Orientierungszeichen ist ja auch kein französisches, sondern ein globales Phänomen. Man muß da fein abstufen. Das schließt eine spezifisch französische Bildung ja nicht aus. Aber jeder muß in seiner eigenen Zeit leben – und nicht der Vergangenheit nachtrauern, die einige vermissen."
Und "Politik", so erklärt Julia Kristeva in ihrer Bremer Dankesrede, Politik bedeutet, ein sogenanntes "breites" Publikum zu berühren. Menschen anzusprechen jenseits des sich stetig vergrößernden Kreises von "Spezialisten", die sich in immer genaueren und getreueren, aber eben auch hermetischen Interpretationen der Texte verlieren. Wie Hannah Arendt in eigener Person zum – so ein Zitat der deutsch-jüdischen Philosophin - "Treffpunkt und zur konkreten Objektivierung des Lebens" wurde, so geht es auch Julia Kristeva um den Ausbruch ihrer Disziplin aus dem Elfenbeinturm:
"Die Psychoanalyse ist keine Sekte, sondern hat etwas zu sagen in einer Gesellschaft, die – sozial gesehen – ein Ort der Verletzlichkeit ist. Dem läßt sich nicht mit Soziologie oder Juristerei beikommen. Aber Psychoanalyse, wenn sie denn auf ihre übermäßig komplizierte Terminologie verzichtet, kann da einiges erhellen, etwa bei den Gewaltausbrüchen in der Banlieue."
Als "Mädchen aus der Fremde", das am Weihnachtsabend 1965 mit nur fünf Dollar in der Tasche in Paris landete und rasch als Muse einer neuen Philosophenmode namens "Strukturalismus" auftrat, als weltgewandte Dame, die sich auf jedem Parkett zu bewegen versteht, hat Julia Kristeva nie den Blick für die Randbezirke menschlicher Existenz verloren. Zu diesem Außenblick gesellt sich bei der praktizierenden Psychoanalytikerin die Introspektion. Als Romanautorin lässt sie ihre Heldin im jüngsten Buch "Mord in Byzanz" eine "Reise durch mich selbst" und durch die europäische Kultur antreten, etwas melancholisch gestimmt, aber ganz ohne Furcht vor der Globalisierung:
"Frankreich ist nicht zu trennen von seinen Gedichten, seiner Literatur. Ich sehe mich als französische Bürgerin bulgarischer Herkunft und europäischer Nationalität, adoptiert durch die USA. Gerade deshalb bin ich wohl Professorin für französische Literatur geworden. Und wenn sich das französische Volk zu großen Teilen mit dieser Literatur identifiziert, frage ich: Aus welchen Komponenten setzt sich dieses Volk zusammen?"
Da meldet sich eine Marxistin zu Wort, der es allerdings weniger um die Produktionsverhältnisse oder gar einen kruden Materialismus geht, als um die Analyse sozialer Beziehungen, aus – oder gegen die sich eine immer noch überraschende Vielfalt individueller Subjektivität entwickelt. Manches erinnert an den Romanisten Ernst Robert Curtius, der vor dem Zweiten Weltkrieg konstatierte, daß kein anderes Land seine Geschichte und Gefühle derart durch Literatur ausdrücken könne wie Frankreich. Nicht umsonst reüssierte Julia Kristeva kürzlich auch mit Belletristik, ebenso wie Ehemann Philippe Sollers, Intellektueller und Romancier, mit dem sie in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die linke Zeitschrift "Tel Quel" herausgab. Mittlerweile besinnt man sich auch auf die eher traditionellen Stärken der "grande nation":
"Mein ‚Patriotismus’ entsteht aus der Distanz, ohne Übertreibung. Und da scheint mir, daß trotz Bildungskrise die Vorliebe für Literatur und gepflegte Sprache bleiben. Das nimmt mich ein für die Franzosen. Frankreich, das ist meine Schwiegermutter, die Mutter von Philippe Sollers, die redet wie einst Madame Sévigné. Daneben gibt es auch eine Krise, aber Frankreich hat sich stets erneuert – durch Krisen."
Wer derart nonchalant – aber fundiert und mit guten Gründen – die Sévigné als Schriftstellerin des 17. Jahrhunderts mit den aktuellen Krisenphänomenen verknüpft, darf sich der Geistesverwandtschaft mit Hannah Arendt sicher sein. Die nämlich hat ein "Denken in Bewegung" propagiert, das seine Wurzeln in der alltäglichen Erfahrung hat. Neben der literarischen Einbildungskraft zählt dabei politisches Urteilsvermögen – und die Fähigkeit, zu überraschen, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst:
"Augustinus – und nach ihm Kant und Heidegger – sagen: Es gibt nur eine Freiheit, das ist der Wiederbeginn. Nicht die Übertretung, sondern ein erneutes Beginnen. Diese Neu-Bildung, auch im biologischen Sinn, findet sich als Stoffwechsel im Leben wie auch in der intellektuellen Entwicklung. An bestimmten Punkten meiner Biographie erneuere ich mich – und die Psychoanalyse hält diese Erfahrung bereit."
Dieser offene Umgang mit sich selbst, diese Häutung schützt vor einer Verhärtung des Denkens, bietet den besten Schutz gegen die Masken des religiösen Extremismus, der nicht nur in den französischen Vorstädten zum Problem wird.
"Gerät ein Kind der Banlieue in Krisensituationen, helfen keine literarischen Vorbildern wie etwa Racine. Diese Angst vor einer Welt ohne Orientierungszeichen ist ja auch kein französisches, sondern ein globales Phänomen. Man muß da fein abstufen. Das schließt eine spezifisch französische Bildung ja nicht aus. Aber jeder muß in seiner eigenen Zeit leben – und nicht der Vergangenheit nachtrauern, die einige vermissen."