Diskursethik im Realitätscheck
Jürgen Habermas zählt zu den wichtigsten deutschen Philosophen. Doch angesichts enthemmter Social-Media-Debatten und vergifteter politischer Diskurse stellt sich die Frage: Funktioniert seine Kommunikationstheorie in der Realität?
Als im Blick auf den 95. Geburtstag von Jürgen Habermas (am 18.6.) in der Redaktion die Frage aufkam, welche Bedeutung so etwas wie eine Diskursethik oder seine Theorie kommunikativen Handelns heute noch haben können, gab es zumindest eines nicht: einen Konsens.
Schließlich leben wir ja in einer Zeit, in der jede Auseinandersetzung über Krisen und Konflikte unweigerlich zu eskalieren scheint. Siehe Debatten zum Krieg in Gaza.
Ideale Sprechsituation – nicht in Sicht!
Und die Äußerungsformen in Social-Media-Kommentaren sind vom Konsens in einer idealen Sprechsituation, von den darin eingearbeiteten Rationalitätskriterien und vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments weiter entfernt als das Frankfurter Institut für Sozialforschung von der Galaxie Gn-z11. Und das sind immerhin 13,4 Milliarden Lichtjahre.
Ich erinnere mich daran, dass der amerikanische Star-Philosoph Richard Rorty einmal einen Vortrag im Kolloquium von Jürgen Habermas gehalten hat, es muss wohl zu Beginn der 2000er-Jahre gewesen sein, und am Ende eine hitzige Debatte zwischen den beiden Philosophen mit den schlohweißen Haaren entbrannte. Es ging darum, wie es um die Rationalität von Diskursen nun wirklich bestellt ist.
Richard Rorty, der jeden Anflug von Idealität mit seinem auf Kontingenz, Ironie und Solidarität setzenden Pragmatismus wegdiskutieren wollte, wurde von Jürgen Habermas entnervt gefragt, was denn Leute machen, wenn sie an einem Punkt nicht weiter kommen bei einer Klärungsbemühung, wenn sie sich zerstritten haben, wenn ein Konsens nicht möglich scheint?
Habermas wollte natürlich darauf hinaus, dass dann an den Grundbegriffen gearbeitet wird, oder wenigstens unterstellt wird, dass man so lange an den Grundbegriffen arbeiten kann, bis alle Diskursteilnehmenden prinzipiell zustimmen könnten und ein Konsens möglich wäre.
Er beharrte darauf, dass so etwas denkbar sei, sonst würde ja unser Argumentieren, auch das politische Ringen, auch die Begründungen des Rechtsstaats usw. ihr Fundament verlieren.
„Beating with sticks“
Also es ging ums große Ganze an diesem Abend. Oder wenigstens um das, was Philosophinnen und Philosophen als das Große und Ganze betrachten. Richard Rorty blieb in seiner unvergleichlich amerikanischen Lässigkeit ganz ruhig, zuckte mit den Schultern und sagte: „Beating with sticks!“ – Wenn zwei nicht weiter kommen mit Argumenten, fangen sie am Ende an, sich mit Stöcken zu verprügeln.
Das klingt fast so, wie die Einsicht des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der einmal notierte: „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den andern für einen Narren und Ketzer.“
Und da sind wir ja irgendwie jetzt angekommen: in den Kommentaren der Sozialen Medien, an den Stammtischen oder sogar in Parlamenten. Und fast scheint es, als könnte Richard Rorty recht behalten haben.
Oder Michel Foucault, für den das Ringen um Wahrheit eigentlich eher ein Spiel um Macht war. Oder Theoretiker und Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe, die an die Stelle einer Orientierung an Konsensen eher die Aushandlungen von Dissensen in einer Gesellschaft treten lässt.
Habermas kennt die Realität
Aber natürlich wusste jemand wie Jürgen Habermas stets, wie wenig seine ideale Sprechsituation, die symmetrische Beteiligung aller Sprechenden etwa, der Realität entsprach, nicht einmal die des philosophischen Kolloquiums, das er leitete. Da gab es eine unausgesprochene Rangordnung der Fragenden und Diskutierenden, ein feines Gespinst der diskursiven Unterschiede.
Wer einfach so – ohne Einladung – dort auftauchte, wurde von Habermas beiseitegenommen und eindringlich gefragt: „Kennen wir uns?“ – Wer das durchgemacht hat, hat sich gut überlegt, ein zweites Mal zu erscheinen, obgleich man sich ja spätestens dann schon kannte.
Natürlich war und ist Habermas bis heute die gesellschaftliche und politische Realität vertraut, schließlich ging der Philosoph nie einem Streit aus dem Weg. Schon 1967 hatte er der außerparlamentarischen Opposition der Studentenbewegung einen „linken Faschismus“ vorgeworfen. Heftiger als Ende der 1960er-Jahre fliegen ja auch heute nicht die Fetzen. Nur empfindet man das vielleicht in Zeiten der Achtsamkeit etwas anders.
Die Suche nach dem schlagenden Argument
Eigentlich glaube ich ja auch, dass die Klärungsbemühungen selbst bei gutwilligen Gesprächspartnerinnen und -partnern an ein Ende kommen, an dem nicht ein Konsens steht, sondern die Einsicht, in bestimmten Punkten grundsätzlich anderer Meinung zu sein oder sogar begründetermaßen wütend oder sauer.
Doch wenn ich einen Schritt zurücktrete und mich nicht in eskalierende Debatten involvieren lasse, vielleicht sogar beschließe, mal keine Meinung zu einem Konflikt zu haben, dann merke ich, wie wichtig, richtig und für unsere Zeit nötig jene Einsichten von Jürgen Habermas sind.
Denn dass wir nicht nur recht haben wollen, sondern glauben, es auch zu können (oder gar zu haben), dass wir nicht nur glauben, für unsere Überzeugungen gute persönliche Gründe, sondern womöglich schlagende Argumente auf unserer Seite zu haben, zeigt doch, dass an den grundsätzlichen Rationalitätsunterstellungen der Philosophie von Jürgen Habermas etwas dran sein muss, so sehr sie auch der Realität zu widersprechen scheinen.
Und tatsächlich bin ich dann fast überrascht, heute mehr denn je, die Grundpfeiler der Diskursethik von Habermas zu verteidigen. „Beating with sticks“ ist und bleibt wohl eher Teil des Problems als Teil der Lösung.